Archiv für den Monat: Februar 2015

Der listenreiche Odysseus

Es war zu erwarten. Die europäischen Steuerzahler, allen voran die deutschen, werden Griechenland weiter mit Milliarden stützen. Nichts wird sich ändern. Die kleinen Leute in Griechenland werden wie bisher darauf bauen können, daß irgendein korrupter Politiker – eine hier angebrachte Tautologie – ihnen irgendeine Stelle bei einer der zahllosen Behörden verschafft, die keine Funktion hat, außer der, daß Wählerklientel alimentiert wird. Und die großen Schmarotzer werden wie bisher keine Steuern zahlen, außer dem Bruchteil der eigentlich geschuldeten Steuerlast, die als Bestechungsgeld an Politiker und Beamte fließt. Natürlich werden die Herren Tsipras und Varoufakis das vehement in Abrede stellen und ihre lauteren Absichten bekunden. Die europäischen Politiker, allen voran die deutschen, werden das auch nur zu gerne glauben. Denn sie sind von dem Glauben durchdrungen, daß nur die Gemeinschaftswährung Euro das „europäische Friedenswerk“ (Wolfgang Schäuble) vollenden kann. Ob ein Land die vertraglich festgelegten Voraussetzungen und Bedingungen der Mitgliedschaft in der Eurozone erfüllt oder nicht, ob seine Wirtschaftskraft auf dem Niveau Deutschlands, der Niederlande oder Österreichs liegt oder eher dem eines Landes der Dritten Welt entspricht, ist unwichtig. Denn wir brauchen angeblich nicht ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland, mit anderen Worten: Ein vereintes Europa muß her, auch wenn das nur um den Preis zu haben ist, daß Deutschland finanziell und wirtschaftlich auf das Niveau der „Olivenländer“ hinabsinkt. Denn nur die Schaffung eines vereinten Europa, im Klartext: eines europäischen Staates, garantiert den ewigen Frieden.

Dagegen wirken keine rationalen Argumente, wie sie anerkannte Wirtschaftsfachleute immer wieder vorbringen. Nein, es handelt sich um eine quasireligiöse Überzeugung, weswegen Kritik an dieser „alternativlosen“ Politik auch folgerichtig als Ketzerei betrachtet wird. Nur daß eben der Ketzer nicht mehr real auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird, sondern das Autodafe´auf dem Marktplatz der Medien zelebriert wird. Ebensowenig wie man die Inquisitoren und Hexenverfolger des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit davon hätte überzeugen können, daß sie einem finsteren Aberglauben anhängen, ist es heute möglich, die politisch-mediale Klasse davon zu überzeugen, daß der Friede in Europa nicht etwa durch eine Einheitswährung und die Heilserwartung eines Einheitsstaates dauerhaft gesichert werden kann, sondern dadurch eher gefährdet wird. Die Einheitswährung wirkt als Prokrustesbett für die finanziell eher soliden und wirtschaftlich starken Länder und als Streckbank für die finanziell maroden und wirtschaftlich schwachen Länder. Die immer unverschämter zur Kasse gebetenen Steuerzahler der wohlhabenden Länder in Mittel- und Nordeuropa murren, das immer weiter wachsende und verarmende Prekariat der Länder im Süden entwickelt Haßgefühle gegen ihre Geldgeber; man möchte die Hand beißen, die einen füttert. Neben denjenigen Griechen (beileibe sind das nicht alle!), die auf diese Weise zu einem anstrengungslosen Wohlstand (Guido Westerwelle) kommen, profitieren davon vor allem die Banken, im Klartext: deren Großaktionäre. So haben sich die Visionäre eines vereinten Europas nach 1945 das nicht vorgestellt. Das liegt nicht etwa daran, daß zum Arzt muß, wer Visionen hat, wie das unser Altkanzler Schröder einmal formuliert hat, sondern daran, daß Visionen eben mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Tatsächlich wird der Friede in Europa durch etwas ganz anderes dauerhaft gesichert. Vertraglich natürlich durch die NATO, insbesondere den Grad ihrer Integration, der es unmöglich macht, daß ihre Mitglieder Krieg gegeneinander führen, was sich eindrucksvoll daran zeigt, daß nicht einmal ihre verfeindeten Mitglieder Griechenland und Türkei militärische Gewalt gegeneinander anwenden können, sondern sich auf Stellvertreterkriege ihrer zypriotischen Marionettenstaaten beschränken müssen. Vor allem aber ist es der Stand der Waffentechnik, der einen Krieg entwickelter Staaten gegeneinander völlig ausschließt. Es ist einfach nicht mehr möglich, ein militärisch und wirtschaftlich entwickeltes Land anzugreifen. Man hat nicht einmal den Hauch einer Chance auf irgendeinen Erfolg, vielmehr würde man mit Sicherheit nur ungeheure Verluste an Menschen und Sachwerten erleiden. Der Warschauer Pakt hat das während des kalten Krieges immer wieder in Planspielen und Übungen durchgespielt, jedes Mal mit dem ernüchternden Ergebnis, daß es einfach nicht geht. Dabei mußte der Atomkrieg erst gar nicht hinzugedacht werden. Allenfalls Stellvertreterkriege in wenig entwickelten Regionen dieser Erde sind noch möglich. Das garantiert den Frieden in Europa wirklich und nachhaltig, nichts anderes.

Die europäischen Politiker und ihre journalistischen Dienstboten sind jedoch von ihrer Heilserwartung derart durchdrungen, daß sie blind für alle Zeichen von Fehlentwicklungen und taub für alle Warnungen vor dem Beschreiten von Irrwegen sind. Sie gleichen vielmehr dem hoffnungslos in eine schöne, junge, aber skrupellose Frau verliebten alten Toren, der ihr jeden Wunsch von den Augen abliest und jeden Betrag für sie bezahlt, nur um ihre Gunst zu gewinnen, egal, wie oft sie ihn betrügt. Wer als Gläubiger Verhandlungen über die Verlängerung der Kredite mit der öffentlichen Erklärung einleitet, das Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone müsse unter allen Umständen verhindert werden, der gibt damit seinem Schuldner unmißverständlich zu verstehen, daß er bereit ist, jeden Betrug zu verzeihen und jedes Geschenk zu machen, wenn ihm damit nur seine Freundschaft erhalten bleibt. Wer indessen seinen Schuldner zur Vertragstreue zwingen will, der macht ihm zunächst einmal klar, daß es nicht um seine wirtschaftliche Existenz, sondern um die seines Schuldners geht. Das gilt ganz besonders dann, wenn der Schuldner insolvenzreif ist und deswegen der Gläubiger kaum noch etwas zu verlieren hat, der Schuldner indessen alles gewinnen kann.

Das sollte eigentlich auch dem Dümmsten klar sein, den schlauen Griechen ist es seit langem klar. Die Nationalepen der Griechen sind bekanntlich Homers Ilias und Odyssee. Der listenreiche Odysseus ist wohl nicht von ungefähr die alles überragende Gestalt dieser großen nationalen Erzählung. Man mag den Rückgriff auf nationale Epen zur Charakterisierung eines Volkes für abwegig, zumindest weit hergeholt halten. Ich denke jedoch, daß die großen nationalen Erzählungen durchaus kollektive Befindlichkeiten und Eigenschaften abbilden, und sei es nur deswegen, weil sie Teil der prägenden kulturellen Überlieferung sind. Betrachten wir unter diesem Blickwinkel die großen Erzählungen Europas, so finden wir zum Beispiel Vergils Aeneis, die Gründungssage Roms, voller tragischer Helden des geschlagenen und zerstörten Troja, das Artuslied des alten England voller edler Ritter lauterster Gesinnung, das Rolandslied der Franzosen, diese Hymne an den selbstlosen Retter des Abendlandes und die Sage von El Cid, dem tapfersten der Tapferen Spaniens. In allen diesen Sagen werden uns edle, lautere und verehrungswürdige Charaktere vorgestellt, die alle guten Eigenschaften haben. Besonders raffiniert und verschlagen ist jedoch keiner von ihnen, allenfalls schon mal weise. Bei keinem von ihnen können wir uns das kennzeichnende Adjektiv „der listenreiche“ vorstellen. Das alles gilt erst recht für das Nibelungenlied, das uns Deutschen als nationale Identifikationsfigur nicht etwa den verschlagenen Hagen von Tronje, sondern den edlen Recken Siegfried überliefert, einen Helden, dem alle guten Eigenschaften beigemessen werden, Schlauheit oder gar Verschlagenheit ganz sicher nicht.

In der Ilias endet bekanntlich der trojanische Krieg mit der Eroberung und Zerstörung Trojas durch eine List der Griechen. Die gutgläubigen Trojaner fallen auf die Erzählungen des falschen Boten Sinon herein, den Odysseus mit dem Auftrag zu ihnen geschickt hat, sie davon zu überzeugen, daß sie das am Strande zurückgelassene riesige Standbild eines Pferdes in ihre Stadt verbringen müßten, denn dann würden die Götter Verderben und Tod in die Mauern der Städte ihrer griechischen Feinde tragen. Natürlich sind in der Sage die Götter mit den Griechen im Bunde und lassen den Priester Laokoon, der die Trojaner mit den klassischen Worten timeo Danaos et dona ferentes (ich mißtraue den Griechen, selbst wenn sie Geschenke bringen) samt seinen Söhnen von zwei riesigen Schlangen erwürgen (Vergil, Aeneis, II. Buch, Vers 49). Der Rest der Geschichte ist bekannt: In der Nacht steigen die schwer bewaffneten Griechen aus dem Bauch des hölzernen Pferdes, töten die trojanischen Wachen und öffnen die Stadttore für das heimlich zurückgekehrte griechische Heer. Trojas Schicksal ist besiegelt. Erleben wir gerade nicht die Wiederkehr des Odysseus in Gestalt von Herrn Tsipras und seines Boten Sinon in Gestalt von Herrn Varoufakis? Die Trojaner geben in dieser Tragödie die europäischen Politiker von Juncker bis Merkel, einen Laokoon haben sie jedoch nicht in ihren Reihen. Stünde er auf und erhöbe seine warnende Stimme, so schickten ihm zwar nicht die Götter, so doch die Gralshüter der europäischen Religion die Würgeschlangen der political correctness.

 

 

 

Henker und Mörder

Die Berichterstattung über die Untaten der islamistischen Terroristen, vor allem über ihre grauenhaften Mordtaten, ist natürlich traurige Chronistenpflicht. Was mich daran stört, nein, empört, ist die durchgängige Verwendung des Begriffs „Hinrichtung“ für diese Morde. Diese Vokabel wird seit Menschengedenken für die von Staats wegen erfolgte Tötung eines Menschen auf Grund Gerichtsurteils oder sonstiger staatlicher Machtausübung verwandt. Sie impliziert daher mindestens die Legalität, mindestens jedoch die beanspruchte Legalität, eines solchen Tötungsakts. Auch wenn man wie ich die Todesstrafe aus gutem Grund ablehnt (auch wenn es manchmal schwerfällt), so ist es doch völlig klar, daß nur ihr Vollzug juristisch und sprachlich zutreffend mit dem Begriff der Hinrichtung belegt werden kann. Das ist auch diesem islamistischen Terroristengeschmeiß bewußt, das seine Mordtaten in der äußeren Form einer Hinrichtung inszeniert und in seinen Verlautbarungen diesen Begriff für sich usurpiert. Denn dies ist Teil seiner irrsinnigen Strategie, die darauf hinausläuft, sich als legitime, wenn nicht sogar legale Institution darzustellen, die sich dazu noch, und das ist der Gipfel der Blasphemie, als gottgesetzte Ordnung aufspielt.

Es ist mehr als erstaunlich, eigentlich unbegreiflich, daß unsere Medien seit Jahren diese Sprachregelung der Terroristen übernehmen, besser gesagt, nachplappern. Denkvorgänge können dem nicht zugrunde liegen. Die Anforderungen an Bildung und Intelligenz der Bewerber für den Beruf des Journalisten müssen wohl in den letzten Jahrzehnten ständig gesunken sein. Es wird jedenfalls Zeit, daß wenigstens zu diesem Thema eine Sprachregelung Platz greift, die den Sachverhalt beschreibt, statt ihn zu verbrämen: Mord bleibt Mord.

Die deutsche Krankheit

In seiner Rede zum 70ten Jahrestag der Zerstörung der Innenstadt von Dresden durch Bomberflotten der Briten und Amerikaner am 13.Februar 1945 erklärte Bundespräsident Joachim Gauck diese apokalyptische Schreckensnacht zur gerechten Strafe für das deutsche Volk, denn ein Land, das für eine Ungeheuerlichkeit wie den Völkermord gestanden habe, habe nicht damit rechnen können, ungestraft und unbeschädigt aus einem Krieg hervorzugehen, den es selbst vom Zaun gebrochen habe. Damit hat Gauck mit dem für ihn typischen pastoralen Ton der Grundbefindlichkeit der deutschen Intellektuellen seit den 60er Jahren Ausdruck verliehen, was ihr Selbstverständnis als Deutsche betrifft. Daß ein in der DDR sozialisierter und damit doch von der westdeutschen akademischen Welt und dem philosophisch-politischen Diskurs abgekoppelter Pfarrer aus Rostock sich 25 Jahre nach der Wiedervereinigung so perfekt in den intellektuellen Mainstream unseres Landes einreihen konnte, kann nur diejenigen überraschen, die die Wirkmächtigkeit akademischer Vordenker unterschätzen. Dies betrifft vor allem die Deutung der Geschichte, die man inhaltlich an der Behauptung eines deutschen „Sonderweges“ abweichend von der geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas im übrigen, aber auch der USA, und personell, stellvertretend für die große Mehrheit der maßgeblichen Denker in Deutschland seit 1968, an Jürgen Habermas darstellen kann. Seine Schriften zum Geschichtsverständnis haben großen Widerhall gefunden und das Denken von Generationen deutscher Intellektueller geprägt.

Was also ist der Kern bundesdeutscher Geschichtsdeutung? Habermas knüpft zunächst an die Überlegungen von Karl Jaspers über die Schuld und Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus aus dem Jahre 1946 an. Darin hat sich der Philosoph sehr differenziert zu diesen Fragen geäußert und dabei insbesondere erklärt, ein Volk könne nie als ganzes moralische Schuld tragen, weil es keine allgemein verbindende Moral oder Unmoral eines ganzen Volkes gebe. Das reicht Habermas nicht aus. Er sucht eine Erklärung dafür, daß so Ungeheuerliches geschehen konnte und findet sie darin, daß die Deutschen eine Art Erbsünde in sich tragen, die so etwas wie einen Völkermord möglich gemacht hat. Der habe am Ende eines Sonderweges gestanden, den dieses Volk in der Mitte Europas gegangen sei. Es habe einen Traum von einer Hegemonie der Mittelmächte geträumt und sei einer Ideologie der Mitte gefolgt, die von der Romantik bis zu Heidegger im „antizivilisatorischen, antiwestlichen Unterstrom der deutschen Überlieferung“ (Theodor W. Adorno) tief verwurzelt gewesen sei. Das an die geographische Mittellage fixierte Selbstbewußtsein sei während der Nazi-Zeit noch einmal sozialdarwinistisch zugespitzt worden. Und diese Mentalität gehöre zu den Faktoren, die erklärten, wie es dazu kommen konnte, daß eine ganze zivilisierte Bevölkerung vor Massenverbrechen die Augen verschlossen habe. Wir Deutschen hätten uns damals von der westlichen, ja von jeder Zivilisation losgesagt. Dafür, und deswegen nenne ich das die Zuschreibung einer Erbsünde, müsse das „Unterlassungshandeln“ (sic!) der Eltern und Großeltern den Nachgeborenen zur Last gelegt werden. Denn, so wörtlich: „Nach wie vor gibt es die einfache Tatsache, daß auch die Nachgeborenen in einer Lebensform aufgewachsen sind, in der das möglich war. Mit jenem Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war, ist unser eigenes Leben nicht durch kontingente (zufällige, der Verf.) Umstände, sondern innerlich verknüpft. Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familialen, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen – durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unauflöslich verwoben ist.“ Was uns allein von dieser Erbsünde zu erlösen vermag, ist die Einnahme einer geschichtlichen Distanz und Gewinnung eines reflexiv gebrochenen Verhältnisses zu den identitätsbildenden Überlieferungen und geistigen Formationen. Dieser Prozeß hat seines Erachtens nach 1945 eingesetzt. Das soll seiner Zielsetzung nach zu einer vollständigen geistigen Abkoppelung von unserer Geschichte führen, wörtlich: „Wenn unter den Jüngeren die nationalen Symbole ihre Prägkraft verloren haben, wenn die naiven Identifikationen mit der eigenen Herkunft einem eher tentativen ( tastenden, versuchenden, der Verf.) Umgang mit der Geschichte gewichen sind, wenn Diskontinuitäten stärker empfunden, Kontinuitäten nicht um jeden Preis gefeiert werden, wenn nationaler Stolz und kollektives Selbstwertgefühl durch den Filter universalistischer Wertorientierungen hindurchgetrieben werden – in dem Maße, wie das wirklich zutrifft, mehren sich die Anzeichen für die Ausbildung einer postkonventionellen Identität.“

Die Unterstellung eines mentalitätsbedingten Sonderweges der Deutschen durch die Geschichte setzt allerdings voraus, daß all die negativen Eigenschaften und Entwicklungen, die diesen Sonderweg kennzeichnen, tatsächlich einzigartig sind und nur bei uns Deutschen gefunden werden können. Ein Blick in die Vergangenheit lehrt uns jedoch, daß davon keine Rede sein kann. Demokratiefeindliche Episoden kennt die Geschichte der meisten europäischen Länder, auch der westeuropäischen. So finden wir in England die diktatorische Herrschaft Oliver Cromwells im 17. Jahrhundert, in Spanien und Portugal die diktatorischen Regime von Franco und Salazar, denen jeweils eine beträchtliche Dauer beschieden war, in Italien den Faschismus Mussolinis, und auch die als Geburt der modernen Demokratie betrachtete französische Revolution mündete zunächst in die despotische Herrschaft der Jakobiner und dann in die zeitgemäß in eine monarchische Form überführte Alleinherrschaft Napoleons. Die vorherrschende Regierungsform der osteuropäischen Staaten im 19. und 20. Jahrhundert auch vor der alles erstickenden Gewaltherrschaft Lenins und seiner Nachfolger war ebenfalls die Alleinherrschaft, mal in monarchischer, mal in autokratisch bis diktatorischer Form. Wenn Habermas den Deutschen einen antizivilisatorischen, antiwestlichen Charakterzug zuschreibt, der sich in der deutschen Romantik wie auch der Philosophie Heideggers exemplarisch zeige, dann muß darauf hingewiesen werden, daß selbstverständlich auch anderswo der besondere Rang der eigenen Nation und die Kraft ihrer Überlieferung sinnstiftend herausgestrichen wurden. Die Bestrebungen der Deutschen, sich nach Jahrhunderten der Zersplitterung in verschiedene Staaten, teilweise auch als nationale Minderheiten in anderen Staaten, endlich in einem Nationalstaat wiederzufinden, liefen parallel mit den gleichartigen Bewegungen in Italien, Polen und anderen Regionen. Allerdings waren Großmachtphantasien wie etwa im Falle Polens, dessen Ultranationalisten von einem Reich zwischen dem Schwarzen Meer und Berlin träumten, oder im Falle Italiens, dessen Faschisten mit breiter Unterstützung die Wiederherstellung des Römischen Imperiums auf ihre Fahnen geschrieben hatten, in Deutschland nicht festzustellen.

Weil Auschwitz gewissermaßen der Fixpunkt der Theorien Habermas‘ und seiner Adepten ist, soll auf den sozialdarwinistischen Antisemitismus der Polen im 19. und 20. Jahrhundert hingewiesen werden, der noch in der 30er Jahren die Juden in Scharen zur Flucht aus Polen nach Deutschland veranlaßt hatte, wie überhaupt der Rassismus gerade keine deutsche Erfindung war, sondern sich beispielhaft im Umgang der Briten, aber auch der Belgier und Niederländer mit den Völkern in ihren Kolonien gezeigt hat. Über den Rassismus der Amerikaner muß nicht eigens gesprochen werden, seine Virulenz bis zum heutigen Tage ist offenkundig.

Von einem deutschen „Sonderweg“ durch die Geschichte kann keine Rede sein. Somit sind auch alle Überlegungen hinfällig, die nach der Ursache dafür in der Mentalität der Deutschen suchen. Es muß deswegen auch keine Erbsünde getilgt werden, vor allem nicht dadurch, daß die Nachfahren jener angeblich so furchtbaren Deutschen der Zeit zwischen 1815 und 1945 „nationalen Stolz und kollektives Selbstwertgefühl durch den Filter universalistischer Wertorientierungen hindurchtreiben“, wie Habermas das von ihnen fordert.

Man sollte angesichts der offensichtlichen Unhaltbarkeit der Geschichtsrezeption, wie sie Habermas und sein Umfeld propagieren annehmen, daß diesen Theorien kein langes Leben beschieden gewesen sei und wir es hier nur noch mit einem Kapitel der deutschen Geistesgeschichte zu tun haben. Bekanntlich ist dem nicht so. Der Erfolg dieser Denkschule zeigte sich erstmals in der 68er Bewegung augenfällig. Die Theorien von Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Herbert Marcuse, aber auch Historikern wie Fritz Fischer und Hans-Ulrich Wehler wurden von großen Teilen der Studenten jener Jahre begeistert aufgenommen und lieferten die Grundlagen der sogenannten Studentenbewegung, die sich zunächst im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und dann in seinen diversen Abspaltungen durchweg linksradikaler Natur bis hin zu den heute aus der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr hinwegzudenkenden GRÜNEN zeigte. Welch abstruse Gedanken dort populär wurden, zeigt beispielhaft der Ausspruch des SDS-Funktionärs Frank Wolff, der die Aufgabe seines Musikstudiums damit begründete, nach Auschwitz könne man eigentlich nicht mehr Cello spielen. Den entscheidenden Sieg, jedenfalls für die nächsten Jahrzehnte, erfochten Habermas und seine publizistischen Unterstützer im sogenannten Historikerstreit 1986. Ausgangspunkt war die Veröffentlichung des Manuskripts einer Rede, die der Historiker Ernst Nolte eigentlich während einer Veranstaltung in Frankfurt hätte halten sollen, in der FAZ vom 06.06.1986 unter der Überschrift „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ . Darin stellte er eine Verbindung zwischen dem als „Archipel GULag“ bekannt gewordenen sowjetischen Lagersystem zur Disziplinierung oder Vernichtung politischer Gegner und dem Nationalsozialismus her, wobei er aus der zeitlichen Priorität des ersteren eine Kausalität für letzteren folgerte. Schärfer konnte der Widerspruch zur Habermas’schen Erbsündentheorie wohl kaum ausfallen, weswegen es zu heftigen Kontroversen zwischen den Vertretern einer an der sogenannten kritischen Theorie ausgerichteten Geschichtsdeutung, allen voran Habermas selbst auf der einen Seite, und den eher konservativen Historikern wie Stürmer, Hillgruber, Nolte und anderen kam. Bemerkenswert daran ist, daß damals noch die konservativen Historiker, die sich um eine Interpretation der deutschen Geschichte im Sinne einer respektablen Entwicklung, die eben lediglich in den Verbrechen der Nazis eine Unterbrechung ins Negative gefunden habe, in den renommierten Zeitungen wie FAZ und ZEIT publizieren konnten. Am Ende behielten Habermas und seine Mannen bekanntlich die Oberhand, seine Kontrahenten verloren deutlich an Einfluß auf die öffentliche Debatte, Nolte wurde gar zur Unperson.

Die Entwicklung nahm nun den Verlauf, den sie unter den Gesetzmäßigkeiten des akademischen und journalistischen Betriebes einfach nehmen mußte. In den Studiengängen Politologie, Soziologie, Philosophie und Geschichte dominierten seit der Studentenrevolte von 1968 die Linken vor allem zahlenmäßig. Der wissenschaftliche Nachwuchs übernimmt regelmäßig die Lehren seiner Professoren. Etwa 20 Jahre nach dem Abschluß des Studiums hat man entweder selbst einen Lehrstuhl erklommen, oder man ist Redakteur, Oberstudienrat, Verlagslektor, vielleicht auch Berufspolitiker auf der Ebene Abgeordneter, Staatssekretär, Minister gar. Der „Marsch durch die Institutionen“ ist erfolgreich absolviert. Habermas und seine Kampfgefährten konnten mit Wohlgefallen auf die erfolgreiche Durchdringung des deutschen Geisteslebens durch ihre Jünger blicken. Die Probe aufs Exempel konnte man dann bei der nächsten öffentlich ausgetragenen Kontroverse um die Deutung der deutschen Geschichte machen. Martin Walser hielt anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn am 11.Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche eine Rede, in der er die Überfrachtung der Rezeption unserer Geschichte mit dem Holocaust ansprach. Das war natürlich eine Todsünde wider den bundesrepublikanischen Tugendkatalog, dessen Bedeutung für uns noch vor dem Dekalog zu liegen hat. Die daraufhin entbrannte moralisch aufgeladene öffentliche Diskussion ist als Walser-Bubis-Debatte in die Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eingegangen und dürfte den Dichter Walser auch vor weiteren höheren Ehrungen bewahrt haben. Die Editorials und Feuilletons prangerten erwartungsgemäß nahezu einhellig den Walser’schen Mißgriff an, wobei natürlich ein wenig brauner Schmutz am weißen Hemd des Gescholtenen gesehen wurde. Wer damit noch nicht genügend gewarnt war, der konnte wenige Jahre später nicht mehr im Zweifel darüber sein, daß jede auch nur behauptete Abweichung vom Pfade der geschichtspolitischen Tugend zum bürgerlichen Tod führen mußte. Der Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann (CDU) hielt am 03.Oktober2003 zum Tag der deutschen Einheit in der hessischen Provinz eine Rede, in der er neben anderen Mißständen auch die seines Erachtens bestehende Schieflage bei der Wahrnehmung der deutschen Geschichte in den Medien beklagte, was das Verhältnis der 12 Jahre Nationalsozialismus zur übrigen deutschen Geschichte angehe. Aus heutiger Sicht mutet es dabei als Treppenwitz der Geschichte an, daß Hohmann Joachim Gauck mit der Aussage zwei Tage zuvor zum gleichen Thema zitieren konnte, daß die in Deutschland dominierende politische Klasse und Wissenschaft „fast neurotisch auf der deutschen Schuld beharre“. Diese politische Klasse konnte soviel eigenständiges Denken nicht vertragen und belegte Hohmann deswegen mit der Höchststrafe. Er habe eine antisemitische Rede gehalten. Das geht in Deutschland absolut nicht. Antisemitische Passagen sucht man in dieser Rede vergebens, dennoch wurde Hohmann auf Geheiß seiner Parteivorsitzenden aus der CDU ausgeschlossen und vom Scherbengericht der politisch korrekt denkenden Medienfürsten, Lehrstuhlbesitzer und politischen Lehensmänner (und -frauen selbstverständlich) zum Paria erklärt. Wer noch Charakter hatte und ihm deswegen Mut machte, erlitt das gleiche Schicksal. Durch einen krassen Verstoß eines dieser medialen Sprechautomaten gegen die Regeln des journalistischen Anstandes wurde bekannt, daß der damalige Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr Martin Hohmann brieflich zu seiner Rede beglückwünscht hatte. Das führte dazu, daß ihn der Verteidigungsminister cum infamia schasste, und zwar subito. Auch wenn man über Verstorbene nichts böses sagen soll, so kann ich nicht umhin, in diesem Falle dem damaligen Minister Struck zu attestieren, daß er mit Begründung und Durchführung dieser Generalsentlassung mit Schimpf und Schande den bisherigen Tiefpunkt des Wirkens eines Oberbefehlshabers unserer Bundeswehr markiert hat.

Seine Bewunderer nennen Habermas gerne den „praeceptor germaniae“ (Lehrer Deutschlands). Er selbst sieht sich offenbar als eine Art Hoher Priester des „herrschaftsfreien Diskurses“. Tatsächlich ist der Diskurs in Deutschland alles andere als herrschaftsfrei, jedenfalls was die sogenannte Geschichtspolitik angeht, und hier insbesondere die Rezeption und Deutung der deutschen Geschichte seit den Befreiungskriegen, insbesondere der Geschichte des Nationalsozialismus. Hier herrscht eine erzwungene Gleichförmigkeit, die vor allem damit durchgesetzt wird, daß jede noch so geringfügige Abweichung von der herrschenden Meinung nicht nur als falsch, eventuell auch als wissenschaftlich nicht haltbar, sondern als moralische Verfehlung der schlimmsten Sorte gebrandmarkt wird und der Betreffende als Wiedergänger des Nationalsozialismus auf dem medialen Scheiterhaufen verbrannt wird. Das erklärt natürlich auch, warum die Medien so einseitig sind und läßt sogar ein gewisses menschliches Verständnis dafür entstehen, daß Journalisten, Nachwuchspolitiker und junge Geisteswissenschaftler selbst dann, wenn sie es besser wissen, ihre Meinung mit der „Schere im Kopf“ karriereverträglich zurechtschneiden. Man hat ja schließlich Kinder zu ernähren und muß die Raten für sein Haus abbezahlen.

Kann sich etwas ändern? Es kann und wird sich etwas ändern, nicht nur weil es sich ändern muß. Zum einen sei an die Erkenntnis Schopenhauers erinnert, daß die Wahrheit warten kann, weil sie ein langes Leben hat. Zum anderen kann man auf den natürlichen Oppositionsgeist der Jugend setzen. Irgendwann empfindet eine Generation die Lehren ihrer Väter als Unfug. Sie weiß es eben besser. Und weil auch im Bereich der Geschichte eine Dichotomie von Lüge und Wahrheit vorzufinden ist, und es ein Drittes nicht gibt, wird die Lüge dann durch die Wahrheit ersetzt. Die ist dann neu und generiert für Generationen Auskommen und Lehrstühle. Die Zeit dafür ist reif, woran das Internet mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung einen nicht unerheblichen Anteil hat. Das Monopol der Medien ist gebrochen. Wir sind nicht mehr zum Schweigen verdammt.

Deutschland zahnlos

Einst war Deutschland ein wehrhaftes Land. Seine Bürger hielten es für wichtig, eine starke Armee zu haben, denn nur so waren Freiheit und Wohlstand zu gewährleisten. Der Soldat stand in hoher Achtung. Selbst Soldat gewesen zu sein („gedient zu haben“) war selbstverständlich, ja es war eine Ehre, seinem Land zu dienen. In allen sozialen Schichten stand der aktive Soldat wie der Angehörige der Reserve in hohem Ansehen. Der sprichwörtliche preußische Assessor, dessen Dienstgrad Leutnant der Reserve gesellschaftlich höher geschätzt wird, als seine zivile Amtsbezeichnung, ist nur das bekannteste Beispiel dafür. Allerdings war er auch – unberechtigt – Zielscheibe des Spotts der linken Presse. Die Identifizierung der Bürger mit „seinen“ Streitkräften ging so weit, daß man glaubte den Staat finanziell über die Steuerpflicht hinaus unterstützen zu müssen, damit er eine angemessen ausgerüstete Streitmacht vorhalten konnte. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Deutsche Flottenverein, der bis zu seiner Auflösung durch das NS-Regime 1934 Geld für den Bau von Kriegsschiffen sammelte. Nicht schwer zu erraten ist, daß diese Beschreibung auf Deutschland vor dem I. Weltkrieg zutrifft. Die bittere Niederlage in diesem Krieg hat – aus heutiger Sicht vielleicht erstaunlich – an dieser Wertschätzung des Soldaten nichts geändert. Gerade die demütigenden Bedingungen des Versailler Vertrages, die Deutschland zu einer Abrüstung und Verkleinerung seiner Streitkräfte zwangen, die es auf den Status eines machtlosen und unbedeutenden Kleinstaates reduzieren sollte, führten bei der übergroßen Mehrheit des Volkes zu einer trotzigen jetzt-erst-recht Haltung. Sie war die Grundlage für die heimliche Aufrüstung und das Unterlaufen der hunderttausend Mann Regelung für die Reichswehr dergestalt, daß in diesem engen Rahmen ein Offiziers- und Unteroffizierskorps herangebildet werden konnte, das auf Grund seiner Ausbildung für eine Verwendung auf Führungsebenen weit über dem aktuellen Dienstgrad binnen kürzester Frist eine mehrfach größere Armee zu führen in der Lage war. Die Selbstverständlichkeit, mit der Bürger aller Schichten und beruflichen Qualifikationen der Einberufung zum Dienst auch im Krieg folgten, mag heute ungläubiges Staunen hervorrufen. Damals war die Verweigerung des Wehrdienstes ungesetzlich und wurde auch nur von Sektierern praktiziert. Dieses ausgeprägte Bewußtsein der Wehrhaftigkeit, gespeist aus Einsicht in die Notwendigkeit und Stolz auf das Vaterland, gepaart mit einer aus dem Vollen schöpfenden Bestenauswahl schufen Armeen, die nach dem Urteil führender Militärhistoriker an Kampfkraft, Führungskunst und Disziplin ihresgleichen nicht hatten. Das galt auch für den II. Weltkrieg, und zwar bis zum letzten Tag, wobei gerade die Leistungen der deutschen Soldaten in den letzten Kriegsmonaten unter den Bedingungen des Mangels und der monströsen materiellen und personellen Überlegenheit des Feindes nur noch ungläubiges Staunen auslösen.

Was ist davon geblieben? 70 Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges ist Deutschland als militärische Macht nicht mehr ernst zu nehmen. Betrachten wir stellvertretend für das gesamte militärische Potential eines Landes einmal die Zahl der durchsetzungsfähigen Landsysteme ausgewählter Staaten welt- und europaweit:

Land      KPz             SPz           GTK/Tpz         Art (Rohr)        Art (Rak)           Kampfhubschr.

USA          8.325         8.580          k.A.                 k.A.              1.000                 908

RUS       12.000        25.000     25.000            2.000               1.500                 700

SYR          2.600          2.300       1.500                450                    ?                      36

ÄGY         2.450          1.042        1.400               800                  380                     7

CHI          7.500          5.000           ?                 1.000               3.500                 148

ISR          2.800             350         5.500               672                    48                    80

POL           478           1.737          –                      315                  180                    30

ITA            500              442         1.127                 70                     20                    59

GBR          200              786         1.150                 89                     36                    66

FRA          448              630          2.080               114                     13                    60

DEU         225             350              918                 89                      28                    40

Die Zahlen lehnen sich (außer USA) an Janes Defence, zit. in Europäische Sicherheit & Technik 2/2015 an.

Dieses Zahlenbild zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, welchen Stellenwert das wirtschaftlich starke Deutschland seiner militärischen Stärke beimißt. Die Bundeswehr verfügt über gerade mal halb so viele Kampfpanzer wie die NATO-Partner Polen, Frankreich oder auch Italien, bei SPz bzw. GTK sieht es noch schlechter aus. Nur bei der Artillerie kann man mit Armeen wie der italienischen, britischen oder französischen mithalten, bei den Kampfhubschraubern fällt man schon deutlich ab. Im weltweiten Vergleich steht man hinter Staaten wie Syrien und Ägypten weit zurück. Selbst das kleine Israel ist militärisch im Vergleich zu Deutschland eine Großmacht. Dazu paßt natürlich, daß Deutschland seit Jahren nur 1,3 % des Bruttosozialprodukts für seine Verteidigung ausgibt, obwohl die Vorgaben der NATO md. 2% verlangen.

Eine solche Entwicklung ist natürlich nicht zufällig. Sie hat Gründe und Ursachen. Die Politik tut im Großen und Ganzen durchaus, was die Wähler wollen. Wenn die übergroße Mehrheit der Deutschen an einer starken Armee interessiert wäre, könnte man als Politiker mit dem Versprechen, einen hohen Verteidigungshaushalt zu beschließen, Wahlen gewinnen. Von nichts verstehen Politiker mehr, als von der Erwartungshaltung ihrer Wähler. Weil die Deutschen schon während des kalten Krieges, aber erst recht seit dessen Ende, für Militär und Rüstung nichts übrig haben, kümmert die Bundeswehr dahin. Die Aussetzung (de facto Abschaffung) der Wehrpflicht ist von den meisten Deutschen gleichgültig bis zustimmend zur Kenntnis genommen worden, von den nicht wenigen Pazifisten in Politik, Medien und Kirchen enthusiastisch begrüßt worden.

Wie konnte das geschehen? Die totale Niederlage von 1945 wurde von vielen, viel zu vielen maßgeblichen meinungsbildenden Institutionen nicht nur als Scheitern des Nationalsozialismus, verlorener Krieg oder Meilenstein der Weltgeschichte, sondern viel tiefer gehend als Ende des deutschen Weges – manche sagten Sonderweges – gesehen. Dabei spielte natürlich die massiv betriebene Umerziehung vor allem durch die USA eine Rolle, von der zu sprechen heute als unschicklich, wenn nicht gar rechtsradikal gilt. Die destruktiven Lehren der sog. Frankfurter Schule um Marcuse und Habermas, die auf weite Teile der deutschen akademischen Jugend eine große Anziehungskraft ausübten und letztendlich die theoretischen Grundlagen der 68er schufen, taten ein übriges. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die ihre eigene Armee allenfalls mit freundlichem Desinteresse betrachtet, wie es ein früherer Bundespräsident treffend formuliert hat. Hinzu kommt ein Wohlstandspazifismus, der angestrengt darüber hinwegsieht, daß unsere Art zu leben nur möglich ist, weil es einen militärischen Zaun um diese Idylle gibt, den aber bittschön doch die anderen bezahlen und bewachen sollen. Peter Scholl-Latour hat diese dümmliche Spießigkeit einmal als den „blökenden Pazifismus“ der Deutschen bezeichnet. Ich habe in meiner Ansprache als scheidender Kommandeur des PiBtl 761 im November 1995 zustimmend ergänzt, daß ihnen auch ein „grunzender Hedonismus“ eignet. Ein solches Volk findet auch kaum irgendwo auf dieser Erde seinesgleichen. Wer etwa die Wertschätzung des Soldaten in den USA, Frankreich oder Italien, die sich nicht nur an den nationalen Gedenk- und Feiertagen, sondern im Alltag zeigt, mit der Bedeutung der Streitkräfte in unserem Land vergleicht, der wird erhebliche Unterschiede feststellen. Das beginnt mit solchen Äußerlichkeiten wie Paradeuniformen und der selbstverständlichen Führung des Dienstgrades auch ausgeschiedener Soldaten im gesellschaftlichen Verkehr und vollendet sich eben in der materiellen Ausstattung der Streitkräfte, aber auch der Bereitschaft, sie ganz selbstverständlich als Machtmittel im Inneren wie auch nach außen einzusetzen. Daß Welten zwischen dem Selbstverständnis der Bundeswehr und den Streitkräften anderer Nationen liegen, kann der aufmerksame Beobachter etwa bei Paraden mit internationaler Beteiligung sehen. Nicht nur das Fehlen einer Paradeuniform historischen Gepräges, selbstverständlich mit Seitenwaffe für die Offiziere, läßt die schlicht gewandeten Deutschen irgendwie merkwürdig erscheinen, auch der Paradedrill, als dessen Erfinder sie lange galten, ist offensichtlich nicht im international üblichen Maß vorhanden, wenn nicht gerade das Wachbataillon eingesetzt wird. So konnte es sich Adalbert Weinstein, der legendäre Fachmann für das Militär bei der FAZ, der immerhin als als wehrübender Reserveoffizier einmal eine Brigade des deutschen Heeres führen durfte, in seinem Bericht über eine Parade von NATO-Truppen 1979 nicht verkneifen, den Auftritt der deutschen Formation unter die Überschrift zu stellen: „Unbeholfen stolperte der Leutnant vor seinen Reisigen her…“. Man mag das für unwesentlich halten. Doch schon Friedrich Schiller hat in „Wallensteins Lager“ festgestellt: „Der Soldat muß sich können fühlen!“ Wenn das Auto nicht geputzt wird, dann wird bald auch das Motoröl nicht mehr nachgefüllt und die Inspektion vergessen. In diesen Zusammenhang gehört auch die offensichtliche Mißachtung der soldatischen Traditionen unseres Landes. Wenn ein Generalinspekteur zum Thema Traditionspflege nichts anderes beizutragen weiß, als daß die Tradition der deutschen Streitkräfte „in die Waschmaschine gehört“, und wenn nur die preußischen Reformer und die Befreiungskriege, der militärische Widerstand gegen Hitler und die Geschichte der Bundeswehr selbst als identitätsstiftend für diese Armee gelten dürfen, dann ist klar, daß die Politik eine Verteidigungsorganisation wünscht, die nichts mehr mit den Armeen früherer Zeiten zu tun hat. Auch hier ist die Saat aufgegangen, die Historiker Wie Hans-Ulrich Wehler und andere gesät haben, denen die Uminterpretation der deutschen Geschichte als verhängnisvoller Sonderweg heraus aus der aufgeklärten demokratischen Gesellschaft, hinein in autoritäre Strukturen und eine aggressive Außenpolitik, Aufgabe und Verpflichtung war. Die Armee des auf diese Weise geschaffenen neuen, demokratischen und zivilen Deutschland soll kostengünstig politische Ziele unterstützen, nur ja keinen Bezug zur als unrühmlich angesehenen Vergangenheit aufweisen und ein unauffälliger Bestandteil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit sein. Dazu paßt es und ist nachgerade bezeichnend, daß die Auslieferung des neuen SPz „Puma“ sich deswegen verzögert, weil noch keine Lösung dafür gefunden worden ist, wie hochschwangere Soldatinnen im hinteren Kampfraum transportiert werden können. Daß Gefechtsfahrzeuge und Luftfahrtgerät inzwischen „kannibalisiert“ werden, damit wenigstens ein kleiner Teil davon einsatzfähig bleibt, rundet das Bild ab. Daß der Ruf nach einer Vermehrung des Verteidigungshaushalts um 1 Mrd. € jährlich, damit die Bundeswehr überhaupt noch einsatzfähig bleibt, nicht etwa von den verantwortlichen hohen Offizieren kommt, sondern wie bei der ähnlich gelagerten Problematik im Bereich der inneren Sicherheit von der berufsständischen gewerkschaftlichen Vertretung der Soldaten bzw. Polizei, spricht Bände über das Verhältnis der Politik zu ihren hochqualifizierten Soldaten. Sie wünscht sich nicht Blücher, nicht von der Marwitz, sie wünscht sich „Lakeitel“ in Bundeswehruniform.

Vielleicht würde es in Deutschland kaum jemand merken, wenn die Bundeswehr völlig verschwände und bei Staatsbesuchen nur noch eine Komparsentruppe der Babelsberger Filmstudios die Ehrenformation stellte. Kostengünstiger wäre es allemal.

 

Nachsatz: Das Bild zeigt mich als wehrübenden Major in der Verwendung als Urlaubsvertreter des Kommandeurs PiBtl 10 in Ingolstadt 1989

10.02.2015