Der Sultan herrscht, der Westen ist sprachlos

In diesen Tagen geschieht merkwürdiges. Wir erleben die Endphase der von Mustafa Kemal Pascha, der später mit dem Ehrentitel Atatürk (Vater der Türken) ausgezeichnet wurde, am 29.10.1923 ausgerufenen Republik Türkei. Sie trat an die Stelle des brüchig und morsch gewordenen osmanischen Reiches, das als orientalische Despotie unter der Herrschaft eines Sultans über viele Jahrhunderte den Nahen Osten und Teile Nordafrikas dominiert hatte. Dieses Reich bezog seine Legitimation aus der Religion des Islam. Der Sultan sah sich in der Nachfolge des Propheten Mohammed. Geistliche und weltliche Macht vereinte er in seiner Hand, wie es ja auch im Koran und der Scharia vorgeschrieben ist. Indessen war Anfang des 20. Jahrhunderts auch im mittleren Osten ein solches Herrschaftssystem nicht mehr aufrecht zu erhalten. Überdies konnte das osmanische Reich nicht zuletzt auf Grund seiner Rückständigkeit den territorialen Machtansprüchen der europäischen Großmächte Frankreich, Russland und Großbritannien nichts mehr entgegensetzen. Kemal Pascha hatte die Zeichen der Zeit erkannt und sah folgerichtig nur in der Umwandlung des Siedlungsgebiets der ethnischen Türken in einen nach westlichen Maßstäben organisierten republikanischen Staat eine realistische Chance für sein Volk, sich auch in der Zukunft behaupten zu können. In der Tat hat sich die Türkei dann bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus trotz mancher Anfechtungen zu einem Staatswesen entwickelt, das im Großen und Ganzen demokratisch genannt werden darf, auch wenn die von Atatürk selbst angelegte starke verfassungsmäßige Stellung des Militärs für europäische Demokraten etwas irritierend erschien.

Seit dem Jahre 2002 ist jedoch eine zunächst schleichende dann immer offenere Entwicklung zurück zum Sultanat zu betrachten. Schritt für Schritt hat der nunmehrige Präsident Recep Tayyip Erdogan diesen Staat umgebaut. In diesen Tagen erleben wir, daß sämtliche Bürgerrechte, die einen demokratischen Rechtsstaat ausmachen, ganz offensichtlich suspendiert worden sind. Das Regime verhaftet massenhaft angebliche Terroristen, die zu zehntausenden die Gefängnisse bevölkern. Darunter sind Richter und Generäle ebenso wie Journalisten und Lehrer, Anwälte und Abgeordnete. Zeitungsredaktionen werden ausgetauscht und Fernsehsender verstummen. Alles unter dem Vorwand, einen angeblich von langer Hand geplanten Putsch des früheren Verbündeten Fethullah Gülen und selbstverständlich auch der Kurden gewissermaßen unter dem übergesetzlichen Rechtstitel der Staatsnotwehr niederschlagen zu müssen. Tatsächlich würde es wohl niemanden überraschen, wenn sich herausstellte, daß der stümperhafte Militärputsch im Juli dieses Jahres letztendlich ein vom Präsidenten selbst angeordnetes Täuschungsmanöver gewesen ist. Damit wäre dann klar, was nicht wenige Beobachter vermuten. Erdogan brauchte so etwas, um unter diesem Vorwand den Rest an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei hinwegfegen zu können. Daß er unter anderem nun demnächst die Todesstrafe wieder einführen und ihren Vollzug ganz sicher forcieren wird, rundet das Bild nur ab.

Das ganze wäre nur unter die Rubrik: „Rückkehr des Orients zu seinen Wurzeln“ einzuordnen, wenn nicht die erstaunliche Nicht-Reaktion der westlichen Demokratien zu registrieren wäre. Es herrscht ganz offensichtlich sprachloses Schweigen, unterbrochen nur durch kleinlautes Räsonieren. Hätten die westlichen Demokratien wenigstens ein Mindestmaß an Selbstachtung und würden sie ihre eigenen Maßstäbe auch wirklich ernst nehmen, so könnte die Reaktion auf all das nur der Abbruch aller Verhandlungen über die Eingliederung der Türkei in die Europäische Union und deren Organisationen ebenso wie die Beendigung der Stationierung von NATO-Truppen sein. Ein Land, das unsere Werte mit offenbar wachsender Begeisterung mit Füßen tritt, das sich heute als klerikal-faschistisches System darbietet, ein solches Land kann weder den Status eines Beitrittskandidaten zur Europäischen Union, noch eines Verbündeten im Krieg gegen den islamistischen Terror haben. Doch die Europäische Union, angeführt von Deutschland, klammert sich an den Flüchtlingspakt mit der Türkei, dessen Aufkündigung sie offenbar fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Dabei ist dieser Flüchtlingspakt insoweit ein Nullsummenspiel, als für jeden von der Türkei in der Ägäis aufgegriffenen illegalen Migranten ein Insasse eines türkischen Flüchtlingslagers nach Europa geschickt werden kann. Die Sinnhaftigkeit einer solchen Regelung kann wohl nur Angela Merkel und ihren politischen Freunden einleuchten, Menschen mit klarem Verstand indessen nicht. Europa schützt sich vor weiterer illegaler Zuwanderung mittels der Grenzeinrichtungen Ungarns, Serbiens und anderer Balkanländer, auch wenn das deutsche Gutmenschen nicht wahrhaben wollen. Daß man also gleichwohl krampfhaft an diesem Abkommen ebenso wie an den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei festhält, kann nur damit erklärt werden, daß Frau Merkel und ihr Alptraumballett auf der Berliner und Brüsseler Bühne in ihrem Wahn fest daran glauben, nichts falsch gemacht zu haben. Es ist auch nicht ersichtlich, daß NATO-Verbündete wie Deutschland im Rahmen der kriegerischen Aktionen in Syrien unbedingt Truppenteile in der Türkei stationieren müssen. Ein Blick auf die Landkarte des Nahen Ostens zeigt, daß es reichlich Alternativen gäbe, selbst in den Teilen Syriens, die nicht in Feindeshand sind. Über andere angrenzende Staaten wollen wir erst gar nicht reden.

Was an diesem Befund so besorgniserregend ist, ist die Wirkung, die von diesem Beweis der Schwäche der westlichen Demokratien nicht nur auf Erdogan, sondern auch auf die Völker der Region ausgeht. Anders als in den westlichen Demokratien gilt dort wie zur Zeit Mohammeds und zuvor ausschließlich das Gesetz der Stärke. Nur wer sich durchsetzen kann, egal wie, genießt Respekt. Umgekehrt gilt jeder, der sich so verhält wie Deutschland und Europa es derzeit tun, als Schwächling. Dies hat Auswirkungen nicht nur auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Viel fataler ist das für die Wahrnehmung der Millionen von hier lebenden Orientalen, insbesondere islamischen Glaubens. Aus ihrer Sicht sind die Staaten und Gesellschaften, in denen sie nun leben, marode und morsch. Wie sturmreif geschossene Festungen scheinen sie wehrlos der Eroberung und Besetzung durch die Truppen entgegen zu sehen, über die Erdogan einst gesagt hat: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Erdogan und andere Despoten seiner Machart betrachten die Politiker der westlichen Demokratien wie weiland Adolf Hitler, der am 22.8.1939 vor seinen führenden Generälen wörtlich erklärte: „Unsere Gegner sind kleine Würmchen! Ich sah sie in München.“ Das Verhalten der britischen und französischen Spitzenpolitiker bei den Verhandlungen, die zum Münchener Abkommen 1938 geführt hatten, konnte bei ihm durchaus eine solche Einschätzung hervorrufen. Die Ähnlichkeit mit der Situation unserer Tage ist frappierend.

Es ist buchstäblich „fünf vor zwölf“. Wenn unsere Politiker nur noch einen Funken Selbstachtung, ein Quentchen Verstand und einen Rest an Verantwortungsbewußtsein haben, dann treffen sie endlich eine klare Entscheidung mit unmißverständlicher Signalwirkung. „Herr Erdogan, Sie sind zu weit gegangen! Zu einer klerikal-faschistischen Diktatur haben wir keinerlei Beziehungen mit Ausnahme diplomatischer Vertretungen.“ Principiis obsta!

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