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Die Exorzistin

Der Exorzismus, was auf deutsch Teufelsaustreibung heißt, gerät in der katholischen Kirche mehr und mehr in Vergessenheit. Ursprünglich als eigener Ritus geschaffen in Anlehnung an Berichte im Neuen Testament, wonach Jesus durch sein Wort Besessene geheilt hat, indem er den Teufel verjagte, der von ihnen Besitz ergriffen hatte, entwickelte sich daraus in den eher finsteren Jahrhunderten der Kirchengeschichte ein mehr an Aberglauben und Voodoozauber gemahnender Brauch, der zu bizarren Auswüchsen und Praktiken führte. In unserer Zeit wurde das dann reißerisch aufgearbeitet, etwa in Filmen wie „Der Exorzist“, mußte aber gelegentlich auch vor Gericht verhandelt werden, weil Menschen dabei zu Tode gekommen waren.

Der Exorzismus feiert nun fröhliche Urständ, in einem Kontext allerdings, indem man seine Wiederkehr schlechterdings niemals vermutet hätte. Darf nach Can. 1673 des Codex Juris Canonicus nur ein Priester mit Erlaubnis des Bischofs den Großen Exorzismus ausführen, so hat sich in seiner modernen säkularen Variante die Hohe Priesterin, in Personalunion oberste Befehlshaberin der Bundeswehr, dies sich selbst vorbehalten. Der Teufel den es auszutreiben gilt, und der sich offenbar in den Leibern vieler ihrer Soldaten festgekrallt hat, dieser Teufel ist der Rechtsextremismus. Den erkennt natürlich nur ein Mensch mit überirdischen Qualitäten, wie wir ihn in der Hohen Priesterin der politisch korrekten Inneren Führung dieser Armee glücklicherweise haben. Was ihre Vorgänger in ihrer menschlichen Beschränktheit jahrzehntelang nicht erkannt haben, springt ihr, deren intellektuelle Fähigkeiten turmhoch aus den Niederungen des geistigen Flachlandes der Generäle, Ministerialbeamten und Professoren ihres Kommandobereichs herausragen, schon bei einer kurzen Visite in den Stuben ihrer Reisigen ins Auge. Ein Wehrmachtsstahlhelm hier, ein Panzerlied dort, ein von wem auch immer eingeritztes Hakenkreuz an jenem Ort, nach Schwefel riecht’s: Weiche Satan!

Damit der Teufel aus den Leibern und Hirnen der Reisigen entweicht und sie in reiner Unschuld künftig ihrer Herrin dienen, muß der große Exorzismus zelebriert werden. Erst wenn der letzte Stahlhelm und der letzte Uniformknopf aus Wehrmachtszeiten ihren Weg aus den Traditionsräumen und Lehrsammlungen in die Container des Schrotthandels gefunden haben, erst wenn der letzte Panzer und das letzte Kettenkrad mit dem Balkenkreuz in den Stahlwerken eingeschmolzen worden sind, erst wenn das letzte Soldatenlied jener finsteren Jahre aus den Liederbüchern herausgerissen worden sein wird, erst wenn das letzte militärgeschichtliche Beispiel aus dem Taktikunterricht verschwunden sein wird, und erst wenn junge Soldaten gar nicht mehr wissen, daß es vor der Bundeswehr die Wehrmacht und andere Armeen in Deutschland gegeben hat, geschweige denn, welche militärischen Leistungen sie erbracht haben, erst dann wird der Fürst der Finsternis, der sich perfider Weise in den Mantel der Tradition zu kleiden pflegt, keine Macht mehr über die Soldaten des aufgeklärtesten, demokratischsten und weltoffensten Staates mehr haben, in dem glücklicherweise heute diejenigen leben, die schon länger hier sind, wie auch die, die noch nicht so lange hier sind. Daß dann eben diese Armee alsbald die selben Krankheitserscheinungen aufweisen wird, wie sie an einem Baum zu beobachten sind, dessen Wurzeln abgeschnitten werden, wird die Hohe Priesterin nicht beirren können. Denn die Reinheit ist das Ziel. Nur in destilliertem Wasser können weder Bakterien noch Fische leben. Doch wo nichts leben kann, kann auch nichts schlechtes leben. Es lebe das Prinzip.

Mußte man als Mensch, der sich mit der Geschichte, vor allem auch mit der Militärgeschichte zugegebenermaßen etwas intensiver beschäftigt hat, als es Menschen vom Schlage der Frau Oberbefehlshaber lieb sein kann, schon bisher die Traditionspflege in der Bundeswehr, wie sie von der Politik und deren Befehlsempfängern im Ministerium vorgegeben wurde, mit Unbehagen zur Kenntnis nehmen, so ist nunmehr die Grenze des erträglichen weit überschritten. Es war schon bisher falsch, den Umgang mit der militärischen Vergangenheit unseres Landes nach dem Grundsatz zu befehlen, daß nicht die Wehrmacht für die Bundeswehr traditionsbegründend sein kann, sondern allenfalls einzelne herausragende Leistungen von Soldaten der Wehrmacht, insbesondere der militärische Widerstand gegen Hitler. Es wird Zeit, die Traditionspflege der Bundeswehr vom Kopf auf die Füße zu stellen. D.h., daß grundsätzlich nach den Armeen der deutschen Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts sowohl die Armee des Kaiserreichs, die Reichswehr der Weimarer Republik und die im Dritten Reich nur noch als Wehrmacht bezeichnete Reichswehr in der Traditionslinie zur Bundeswehr stehen. Ausgenommen davon sind Soldaten, deren Einstellung und Verhalten mit dem Ethos des Soldaten sowohl vor der Hitler-Diktatur als auch danach schlechterdings nicht vereinbar sind. Nur ein solches Verständnis von militärischer Tradition entspricht auch der Tatsache, daß von den rund 18 Millionen Soldaten, die in der Wehrmacht gedient haben, nur ein ganz geringer Prozentsatz Kriegsverbrechen begangen hat, und von einem systemischen Hang zu Kriegsverbrechen ebenso wenig die Rede sein kann, wie von einer gruppenspezifischen Affinität der deutschen Soldaten zum Nationalsozialismus. Nur ein solches Verständnis von militärischer Tradition gewährleistet auch, daß die herausragenden Leistungen dieser Armee in den Gefechten und Schlachten des Zweiten Weltkrieges für die Bildung des Charakters unserer jungen Soldaten und ihre Ausbildung für den Einsatz nutzbar gemacht werden können, der Daseinszweck jeder Armee auf dieser Erde ist. Und dieser Einsatz heißt Krieg.

Der großen Exorzistin und ihren kleinen Knechten, deren Amtes es ist, die Ketzer auf den Scheiterhaufen der unheiligen Inquisition unserer Tage zu bringen, muß ich noch pflichtschuldigst melden, daß ich nicht nur dem ketzerischen Gedankengut anhänge, welches ich vorstehend ausgebreitet habe. Ich bin dazu noch einer ihrer Reisigen, wenn auch schon lange von den rostigen. Doch ebenso schlechte wie willige Juristen aus ihrer ministerialen Garde könnten angesichts von so viel Unbotmäßigkeit auf die Idee kommen, darob den alten Reservisten zu maßregeln und zu schurigeln. Doch da sage ich mit dem alten Marschall Vorwärts: „Dat nehme ick allet uff mir!“ Denn auch dem alten Soldaten muß das Gewissen höher stehen, als die Huld seiner Oberkommandierenden.

Da fing sie an zu weinen….

Unfassbares ist geschehen. Unsere braven, sympathischen Tennismädchen stehen in Trump-Country auf einem Centre-Court. Es ist eine internationale Veranstaltung. Mit Flaggen, Hymnen und allem drum und dran. Stolz und Freude in den jungen Gesichtern. Und da hebt der Sänger mit der deutschen Nationalhymne an. Oh Schreck! „Deutschland, Deutschland über alles!“ schallt es über den Platz. Die jungen Damen sind geschockt, eine Spielerin beginnt zu weinen.

Ja, es muß wohl für junge Deutsche, denen in der Schule recht wenig über ihr Land beigebracht worden ist, außer, daß es eine recht üble jüngere Vergangenheit hat, schockierend sein, nun eine Darbietung zu hören, die sie, ihrer schulischen und medialen Sozialisation entsprechend, nur den finstersten Zeiten der Geschichte ihres Landes zuordnen können. Die jungen Damen will ich daher gar nicht schelten. Zum wiederholten Male allerdings ist der Hinweis angebracht, daß der Geschichtsunterricht in unseren Schulen ebenso wie die Darstellung der Geschichte unseres Landes in den Medien, leider auch durch maßgebliche Politiker, in der Regel falsch, unvollständig und vor allem unangemessen ist. Das Lied der Deutschen, wie es sein Textdichter Hoffmann von Fallersleben genannt hat, atmet in seinem ursprünglichen Text die Sehnsucht der Deutschen, endlich in einem vereinten Vaterland leben zu dürfen, wie das anderen Nationen auch vergönnt war. Auch andere Nationen hatten zu jener Zeit damit begonnen, Teilung und Zerstrittenheit zu überwinden. Hier sind zum Beispiel Polen und Italien zu nennen, deren Bemühen um nationale Einigung im 19. Jahrhundert heute in Deutschland allgemein bewundert wird. Mit den Bemühungen unserer Vorfahren selbst um die Einigung ihrer Nation in einem Staat ist es da schon schlechter bestellt. Wenn es halbwegs gut geht, wird darüber mit der bekannten Überheblichkeit unserer Volkspädagogen berichtet, wenn es noch schlechter geht, wird geschichtsklitternd behauptet, hier sei der Grundstein für Nationalismus und Militarismus gelegt worden, der schnurstracks zur Machtergreifung der Nazis und dem militärischen „Überfall“ auf die Nachbarländer geführt habe.

Da nehmen solche Bilder nicht Wunder, wie die eingangs geschilderte Szene. Und da nimmt es nicht Wunder, daß deutsche Polizeibeamte Leute verhaften wollen, weil sie die erste Strophe der Nationalhymne gesungen haben. Sie wissen ja nicht, daß nach wie vor die deutsche Nationalhymne aus den drei Strophen besteht, die Hoffmann von Fallersleben seinerzeit geschrieben hat. Sie wissen auch nicht, daß Theodor Heuss als erster Bundespräsident das Lied der Deutschen zur Nationalhymne erklärt hat, und dabei verfügt hat, bei offiziellen Anlässen solle nur die dritte Strophe gesungen werden. Für jeden, der der deutschen Sprache hinreichend mächtig ist bedeutet das auch, daß privat die gesamte Hymne gesungen werden darf. Es ist schon erstaunlich, daß man auf solche Banalitäten überhaupt hinweisen muß.

Daß dem amerikanischen Sänger, dem man das Notenblatt mit Text der ersten Strophe des Deutschland-Liedes hingelegt hat, da nichts auffallen konnte, liegt ja wohl auf der Hand. Außerhalb unseres Landes mit seiner neurotischen Beziehung zur eigenen Geschichte kann man sich wohl nirgends vorstellen, daß zwei Drittel einer Nationalhymne verpönt sein sollen. Den jungen Damen unseres Tennisteams indessen ist zu wünschen, daß ein wohlmeinender Mensch sie endlich einmal über die deutsche Geschichte im allgemeinen und ihre Nationalhymne im speziellen ordentlich aufklärt. Vielleicht kann Ihnen jemand diesen Blog auf ihr iPad senden.

Die Selbstgerechten

Die unsägliche Debatte in Deutschland um die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte in den letzten beiden Kriegsjahren (1943-1945) ist in diesem Jahr etwas leiser. Schließlich haben wir keinen „runden“ Jahrestag. Die Tonlage indessen bleibt gleich. So hat anläßlich des bevorstehenden 71. Jahrestages der verheerenden Bombardierung von Dresden am 14.02.1945 der dortige Oberbürgermeister erklärt, Dresden „dürfe nicht in einem Opfermythos dastehen“. Denn, so wörtlich: „Dresden war keine unschuldige Stadt, das wurde wissenschaftlich ausgewertet.“

Der Mensch, der diese Sätze in die Welt gesetzt hat, ein 45 Jahre alter Politiker namens Dirk Hilbert von der FDP, steht für eine Generation von deutschen Politikern, Publizisten und Historikern, die ihren Vorfahren gegenüber mit Arroganz und Unduldsamkeit auftreten, selbstverständlich mit der Attitüde dessen, der alles besser weiß, selbstverständlich das richtige tut und natürlich, hätte er damals bereits gelebt, den Nazis mutig die Stirn geboten hätte, ach was, diese Bande von Ignoranten Psychopathen locker in die Tonne getreten hätte. Mit einer solchen Persönlichkeitsstruktur, anmaßend, arrogant und ausgrenzend, hat man in jener Zeit glänzende Karrieren hingelegt, etwa in SS und SD. Solchen Leuten gegenüber ist grundsätzlich ein tiefes Misstrauen angebracht.

Den Satz: „Dresden war keine unschuldige Stadt, das wurde wissenschaftlich ausgewertet“, muß man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Alleine schon die darin vorausgesetzte Kollektivhaftung einer Stadt für die Untaten ihrer Unterdrücker ist von einer intellektuellen Armut, gleichzeitig aber auch dümmlichen Arroganz, die einem schon den Atem verschlagen kann. Selbst wenn in Dresden wie sonstwo die Nazis geherrscht haben und sich scheußlicher Verbrechen schuldig gemacht haben, was hat das mit der beherrschten und unterdrückten Mehrzahl der Bürger zu tun? Sind diese Nazis, dazu noch offen mit dem Programm ihrer späteren Unterarten, auch nur von einer Mehrheit der Dresdner 1932 gewählt worden? Ja, 1932, denn nach dem 30. Januar 1933 gab es keine freien Wahlen mehr. Waren die 25.000 Menschen, die nach amtlicher Zählung einer handverlesenen Historikerkommission in dieser Nacht von Bomben zerfetzt, von Trümmern erschlagen und im Feuersturm verbrannt sind, schuldig? Falls es einige tausend mehr gewesen sein sollten, was nach seriösen Quellen durchaus gut möglich ist, waren die auch schuldig?

Waren nicht auch in Dresden wie auch sonstwo viele, sehr viele Menschen auf der Seite der vom Regime verfolgten, zum Beispiel der Juden? Man lese die Aufzeichnungen des Dresdner Germanistikprofessors Victor Klemperer und anderer Zeitzeugen. Von einer „schuldigen“ Stadt kann keine Rede sein.

Und muß man nicht heute feststellen, daß diese alliierten Bombardierungen nach allgemeiner Auffassung im Kriegsvölkerrecht als Kriegsverbrechen betrachtet werden? Man lese etwa das gut recherchierte und juristisch überzeugende Buch von Björn Schumacher, Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg, oder den von Lothar Fritze und Thomas Widera herausgegebenen Sammelband über den alliierten Bombenkrieg, herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. Schon der zynische Codename für die erste große Städtebombardierung, nämlich Hamburg vom 24.07. bis 03.08.1943 – Operation Gomorrha – zeugt von der Geisteshaltung, die hinter dem Konzept des sogenannten Morale Bombing stand. Es ging einfach ganz offensichtlich darum, Kultur und Herz des deutschen Volkes nachhaltig zu zerstören, indem man ihm die sichtbaren Zeugnisse seiner Geschichte nehmen wollte. Die Zerstörung der Nürnberger Altstadt am 02.01.1945, selbstverständlich militärisch völlig unsinnig, wie auch als besonders plakatives Beispiel, des Städtchens Pforzheim am 23.02.1945, als unter den alliierten Bomben 98 % der Stadt verbrannten und mehr als ein Fünftel der Einwohner getötet wurden. oder man lese das erschütternden Buch von Jörg Friedrich: Der Brand.

Nein, es geht überhaupt nicht darum, ob eine Stadt schuldig war im Sinne dieser selbstgerechten, großsprecherischen und von politischer Korrektheit triefenden Nachgeborenen. Nein, es geht darum, diesen Leuten ihr moralisches Versagen deutlich vor Augen zu führen. Ihnen, denen ein gütiges Schicksal es erspart hat, in jener Zeit aufwachsen zu müssen, ohne Furcht vor der allgegenwärtigen geheimen Staatspolizei, ohne Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes wegen politischer Unzuverlässigkeit, ohne Furcht davor, mit leeren Händen vor seinen hungrigen Kindern zu stehen, weil man seine hochmögende Moral über seine banalen täglichen Pflichten Frau und Kindern gegenüber gestellt hat. Und wer nicht glauben will, unter welchem Druck die Deutschen ab 1933 gestanden haben, der lese vielleicht einmal die Akten des Prozesses gegen die SA-Männer, die in der Nacht des 30. Januar 1933 die „Machtergreifung“ auf ihre Weise gefeiert haben. Wie sie die Büros ihrer politischen Gegner und missliebiger Journalisten in Nürnberg gestürmt und verwüstet haben, die angetroffenen Politiker und Redakteure halb totgeschlagen und dann ins KZ nach Dachau verfrachtet haben. Und wer glaubt, das habe sich damals nicht in Windeseile herumgesprochen, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Was unsere hochmögenden arroganten Besserwisser mit makelloser Universitäts- und Berufskarriere heute den Deutschen jener Zeit vorwerfen, tun sie gerade selbst. Sie verweigern sich der Wirklichkeit, weil nicht sein kann was nicht sein darf. Urgroßvater war halt ein Nazi. Dem haben die Alliierten zurecht die Bomben aufs Haupt geworfen.

Natürlich ist die Erinnerung an dieses große Kriegsverbrechen der Briten und Amerikaner auch nicht in anderer Weise zu instrumentalisieren. Irgendwelche Menschenketten oder Gedenkmärsche, seien sie links- oder rechtsdrehend, sind unangebracht. Angebracht ist allein die Trauer um die Opfer und die Suche nach der historischen Wahrheit. Letztere scheint allerdings offiziell nicht sonderlich erwünscht.

Dummheit, frisiert

Die heutigen Nachrichten über die Rede des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke zur Erinnerungskultur in Deutschland sind ein Lehrstück in zweierlei Hinsicht.

Höcke hat in einer Rede von etwa einer Dreiviertelstunde Dauer dem Umgang der deutschen Eliten mit der neueren Geschichte beklagt und unter anderem beanstandet, daß sich die Deutschen mit dem Holocaustdenkmal in Berlin ein Denkmal der Schande geschaffen hätten und überhaupt die Politik in Deutschland maßgeblich immer noch von einem Empfinden deutscher Schuld bestimmt werde. Wenn man in diese Rede hineinhört oder einzelne Passagen liest, dann fragt man sich schon, ob Höcke sich gedanklich nicht unerhebliche Schnittmengen mit der NPD und anderen Neonazis erlaubt, oder schlicht und einfach intellektuell damit überfordert ist, Geschichte und Gegenwart voneinander zu trennen. Denn selbst wenn man mit guten Gründen die geschichtspolitische Instrumentalisierung der Vergangenheit kritisieren kann, so verbieten sich zum einen jegliche Pauschalisierungen, und zum anderen haben kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichtsschreibung ihren Platz in der Wissenschaft und im akademischen Diskurs auch in der Öffentlichkeit. In der Tagespolitik hat das im allgemeinen grundsätzlich nichts zu suchen, und die wissenschaftliche Debatte ist wegen ihrer Komplexität völlig ungeeignet für die Verwendung in parteipolitischen Zusammenhängen. Die Geschichte betrifft auch die Vergangenheit, die Politik kann auf sie grundsätzlich nicht einwirken. Was an den Hochschulen gelehrt wird, ist ebenfalls nicht Sache der Politik, sondern der hoffentlich auch weiterhin freien Wissenschaft. Auch wenn hier gerade hinsichtlich der neueren Geschichte eine gewisse Einförmigkeit, Eintönigkeit, ja Einfältigkeit zu beobachten ist, so ist es alleine Sache der Historiker, neuen Erkenntnissen zum Durchbruch zu verhelfen. Auch wenn es Herrn Höcke, dem Geschichtslehrer am Gymnasium, noch nicht aufgefallen sein sollte: was z.B. die Darstellung der Ursachen des Ersten Weltkrieges angeht, so hat sich hier in den letzten zehn Jahren ein fundamentaler Wandel vollzogen. Die sogenannte Alleinschuldthese Deutschlands wird jedenfalls an unseren Universitäten nicht mehr vertreten. Vor allem aber hat sich die Politik, wie gesagt, mit der Gegenwart, noch mehr aber mit der Zukunft zu befassen. Und da gibt es viel zu tun, und viel zu kritisieren, gerade für eine erst jüngst auf der politischen Bühne erschienene Partei. Euro-Krise, innere Sicherheit, Migrationsproblematik und eine verrückt gewordene europäische Zentralbank bieten gerade für einen politischen Newcomer Themen genug, um das Wahlvolk von den eigenen Vorstellungen zu überzeugen. Warum man da in der Tagespolitik und im Wahlkampf historische Vorlesungen und Proseminare anbietet, erschließt sich nicht.

Interessant ist allerdings, wie die Medien mit diesem Vorgang umgegangen sind. Jedenfalls ein Teil der Medien hat in seinen Internetmeldungen berichtet, daß die maßgeblichen Politiker seiner Partei Höcke für seine Äußerungen scharf kritisiert haben, allen voran die Parteivorsitzende Petry: Björn Hecke ist mit seinen Alleingängen und ständigen Querschüssen zu einer Belastung für die Partei geworden. Die Europa Abgeordnete von Storch: Höcke hat der Partei schweren Schaden zugefügt. Das Vorstandsmitglied Alice Weidel: Unsägliche rückwärts gewandte Debatte. Der Nordrhein-Westfälische Landesvorsitzende Pretzell: Fatal ist nicht, daß Höcke ständig mißverstanden wird, fatal ist, daß dies in einem Bereich deutscher Geschichte geschieht, bei dem es der Anstand verbietet. Nikolaus Fest: Die heutigen Probleme Deutschlands haben nichts mit der Schuldkultur zu tun.Der Sachsen-Anhaltinische Vorsitzende Poggenburg: unglücklich und nicht zielführend. Der bayerische Landesvorsitzende Bystron: völlig unnötig und Wasser auf die Mühlen unserer Gegner.  Lediglich der brandenburgische Vorsitzende Gauland meint, Höcke sei mißverstanden worden, was ja impliziert, daß er seine Äußerungen, so wie man sie verstehen kann, auch nicht für gut hält. Ganz anders die Tagesschau. Man zitiert zwar teilweise die Kritik der Vorsitzenden Petry an Höcke, erklärt im übrigen aber ohne dies zu quantifizieren, es habe in der Partei auch Zustimmung gegeben und weist ferner auf ein Strategiepapier hin, das generell ein provokantes Auftreten als zielführend, weil Wähler generierend, bezeichnet. Daß so eine Strategie natürlich völlig losgelöst vom jeweiligen Sachthema ist, wird nicht erwähnt. Vielmehr gewinnt der Tagesschau-Zuschauer den Eindruck, Höcke sei repräsentativ für die Partei, was in dem Interview mit einem natürlich ausgesuchten Politikwissenschaftler bestätigt wird.

Es gibt also ausgesprochen dumme Politiker. Und es gibt eine Tagesschauredaktion, die offensichtlich Halbwahrheiten verbreitet. Wem das nützen soll, und wahrscheinlich auch nützt, liegt auf der Hand. Wem die Intendanten, Fernsehdirektoren und Chefredakteure verpflichtet sind, nachdem ihre Aufsichtsgremien, denen sie Anstellung und Aufstieg verdanken, von den etablierten politischen Parteien und ihren Vorfeldorganisationen dominiert sind, liegt auch auf der Hand. Die Schlußfolgerung, daß die Berichterstattung dann auch interessegeleitet ist, liegt mindestens sehr nahe. „Wes Brot ich eß, des Lied ich sing.“

Weil das eigentlich auch Nachwuchspolitikern, und die Politiker einer gerade mal knapp vier Jahre existierenden Partei kann man nicht anders nennen, inzwischen geläufig sein müßte, kann man im Falle Höcke nur von Dummheit sprechen. Sollte er jedoch das meinen, was viele Leute aus seinen Äußerungen heraushören, dann gehört er jedenfalls nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts – und welche sollten denn sonst gelten? – nicht in die deutsche Politik. Seine Partei wäre jedenfalls gut beraten, wenn sie ihm den Rücktritt nahe legen würde und dies auch entsprechend kommunizierte. Wenn ihm seine Partei und ihre Ziele am Herzen liegen, dann kann er eigentlich nur zurücktreten.

Letztendlich zeigt sich hier wieder einmal, was bei Parteineugründungen immer wieder zu beobachten ist: Sie ziehen anfänglich allerhand seltsame Vögel an. Sobald man sich einigermaßen konsolidiert hat, muß man sich dieser Leute entledigen. Auch wenn man dann den ein oder anderen Wähler verliert. Doch es ist alle Mal besser, ein einigermaßen demokratisch homogenes Wählerpotential von sagen wir einmal 10 % zu haben, als ein Sammelsurium von Bürgern, die gerade aus ihrer demokratischen Gesinnung heraus Fehlentwicklungen korrigieren wollen einerseits, und allerhand Esoterikern, Spinnern und Radikalinskis andererseits mit einem Potenzial von 15 %. Ein kleines Haus, aus fehlerfreien Steinen gebaut, hält alle Mal länger als ein großes Gebäude aus minderwertigen Beton.

Das abgewogene und findige fundierte Urteil des Bürgers setzt voraus, daß er sich aus unterschiedlichen Quellen informiert. Nur so kann er trotz der offiziösen fake news ein mündiger Bürger sein. Bleiben wir aufmerksam!

Selig träumte die kleine Cathy vom gestohlenen Märchenprinzen

So müßte die Überschrift des dpa-Artikels lauten, der zur Zeit den Tageszeitungen in Deutschland angeboten wird. Nachzulesen z.B. in der Nürnberger Zeitung vom 17.12.2016.

Und die Geschichte geht so: Als Cathy Hinz ein Kind war, war der Wandteppich in ihrem Elternhaus im US-amerikanischen Minneapolis wie ein Bilderbuch voller Geheimnisse und Märchen. Im Traum war sie die Prinzessin im blauen Kleid. Neben ihr kniend ihr Märchenprinz. Ihr Vater hatte das Stück mit der Szene einer höfischen Gesellschaft 1945 mit nach Hause gebracht – als Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in dem er als Offizier mithalf, Deutschland von den Nazis zu befreien. Soweit die Geschichte, wie sie die kleine Cathy damals erlebte.

Die Rede ist von der Rückgabe eines Wandteppichs, den jener amerikanischer Offizier Anfang Mai 1945 aus dem Kehlsteinhaus bei Berchtesgaden „mitgehen“ ließ, nachdem sein Truppenteil den Obersalzberg eingenommen hatte. Seiner kleinen Tochter hat er erzählt, damals einen seiner Soldaten gebeten zu haben, für ihn ein kleines Erinnerungsstück zu finden. Er habe an einen Löffel oder eine Tasse gedacht, aber es sei dann ein Teppich gewesen. Diese Tapisserie wurde um 1500 in Flandern aus Wolle gewirkt, und zeigt einen Flötenspieler, einen knienden Mann und zwei Frauen in prächtigen Kleidern, vielleicht mit Noten in den Händen. Weiterhin Männer bei der Jagd. Erst ab der Zeit um das Jahr 1900 ist seine Geschichte bekannt. Der Münchner Malerfürst Franz von Lenbach erwarb ihn in der Kunst- und Antiquitätenhandlung Bernheimer und schmückte damit seine berühmte Künstlervilla. 1931 kaufte die Firma die Tapisserie zurück, außerdem wurde das Werk in das Verzeichnis national wertvoller Kulturgüter aufgenommen. Am 21. September 1938 kam ein Kunde und wollte den Wandteppich haben. 24.000 Reichsmark blätterte der Architekt Heinrich Michaelis dafür hin. Nach Auffassung des Beauftragten für Provenienzforschung in Bayern war das ein stolzer Preis.

Also handelte es sich hier nicht um einen jener häufigen Fälle, in denen jüdische Kunsthändler unter Druck weit unter Preis verkaufen mußten. Diese Kunstwerke werden heute unter dem Begriff der Raubkunst geführt. Im Falle des Wandteppichs aus dem Kehlsteinhaus war das eben nicht der Fall. Auch der Enkel des Kunsthändlers Bernheimer erhebt deswegen keine Ansprüche auf diesen Wandteppich. Michaelis kaufte damals im Auftrage der Reichskanzlei Kunstwerke ein, die Hitler am 20. April 1939 zu seinem 50. Geburtstag geschenkt wurden. Auch das Kehlsteinhaus selbst erhielt der Diktator von der Partei zum Geschenk. Auch wenn die Geschichte des Erwerbs der Liegenschaft Obersalzberg eine solche von Erpressung und Raub ist: der Wandteppich, um den es hier geht, gehört nicht in diese Geschichte, jedenfalls was die rechtliche Beurteilung angeht.

Am 4. April 1945 nahmen die amerikanischen Streitkräfte auch das Obersalzberggelände ein. Wie üblich, plünderten die Soldaten. Man muß von plündern sprechen, denn es wurde nicht etwa beschlagnahmt und registriert, wie das der Fall gewesen wäre, wenn man von Amts wegen Vermögen des besiegten Feindes sichergestellt hätte. Nein, es war damals auch bei den amerikanischen Streitkräften gang und gäbe, daß sich die Soldaten privat am Eigentum der gefangenen deutschen Soldaten wie auch der Zivilbevölkerung vergriffen. Heute ist in Deutschland zwar immer noch das Bild vom Soldaten der Roten Armee in den Köpfen, dessen Unterarme links und rechts mit gestohlenen Armbanduhren umschlossen sind. Doch genau dieses Bild boten nach tausenden von Zeitzeugenberichten auch die Soldaten der US-Armee. Nun war natürlich auch nach amerikanischem Recht der Diebstahl strafbar. Diebstahl am Eigentum der besiegten Nazis – nach der amerikanischen Propaganda waren ja alle deutschen Nazis – wurde offensichtlich mindestens geduldet.

In diesem Zusammenhang ist es durchaus von Interesse, wie das auf der anderen Seite gesehen und gehandhabt wurde. Im Soldbuch – das entspricht heute dem Truppenausweis – eines jeden deutschen Soldaten waren die sogenannten Zehn Gebote des deutschen Soldaten eingeklebt. Diese enthielten kurz und prägnant Verhaltensanweisungen, auch bezüglich des Umganges mit der Zivilbevölkerung in besetzten Ländern und mit den gefangen genommenen feindlichen Soldaten. Klipp und klar regelten die Ziffern 4 und 7 dieser zehn Gebote, daß auf keinen Fall geplündert werden, und auch das Privateigentum der gefangenen feindlichen Soldaten nicht angerührt werden dürfe. Dem entsprach § 129 des damals geltenden Militärstrafgesetzbuches. Daran hielten sich die deutschen Soldaten auch in aller Regel, sei es aus Anstand, sei es aus Furcht vor Strafe. Denn die Truppe ahndete das Delikt der Plünderung grundsätzlich. Die angedrohten Strafen waren auch von abschreckender Härte. Grundsätzlich stand auf Plünderung Gefängnis oder Festungshaft, wobei eine Obergrenze nicht vorgesehen war. In besonders schweren Fällen hatte das Kriegsgericht auf Todesstrafe oder auf lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus zu erkennen. Gerade gegen Ende des Krieges hat man, wohl nicht zuletzt zur Aufrechterhaltung der Disziplin, dieses Gesetz in aller Strenge angewandt. Generalfeldmarschall Kesselring ließ im Verlaufe des Krieges in Italien mehrfach Todesurteile wegen Plünderung vollstrecken.

Bemerkenswert an dem dpa Artikel ist, daß der rechtliche Aspekt völlig ausgeblendet wird. Der unbefangene Leser unserer Tage, der weder die Geschichte des Zweiten Weltkrieges auch nur annähernd vollständig kennt, noch über das Recht im Kriege informiert ist, muß annehmen, daß es völlig normal gewesen ist, wenn alliierte Soldaten „Souvenirs“ aller Art mit nach Hause brachten. Und wenn die dann auch noch den „Nazis“ weggenommen worden waren, dann war das wohl völlig in Ordnung. Angesichts der Berichte über die Kriege und Bürgerkriege unserer Tage müssen die Leute ja ohnehin davon ausgehen, daß es im Kriege kein Recht gibt, und sich Soldaten oder auch irreguläre Kämpfer dann alles erlauben können. Gerade die Vorstellung, daß ein amerikanischer Soldat sich mit gutem Recht von den Deutschen nehmen konnte, was ihm gefiel, paßt so recht in das Geschichtsverständnis unserer Tage. Danach war der Zweite Weltkrieg eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. Wer die Guten, und wer die Bösen waren, ist ja klar. Und die Bösen müssen natürlich einsehen, daß alles, was ihnen widerfahren ist, letztendlich von ihnen selbst verursacht und damit auch verschuldet worden ist. Die Deutschen in ihrer Mehrheit sollen glauben und tun es auch, daß ihren Vorfahren nur die gerechte Strafe zuteil geworden ist, als man ihre Häuser geplündert, ihre Städte in Schutt und Asche gelegt und die Frauen und Mädchen ihres Volkes massenhaft vergewaltigt hat. Deswegen kommt ja heute auch kein Bericht über die Bombardierung von Dresden oder Nürnberg ohne den Hinweis auf die alles erklärende, ja rechtfertigende deutsche Schuld am Kriege aus.

Historiker und vor allem Juristen sollten sich damit nicht zufrieden geben. Abgesehen davon, daß es in keinem Kriege nur ausschließlich Gute und nur ausschließlich Böse gibt, und daß selbstverständlich immer auf beiden Seiten Kriegsverbrechen einerseits und menschliche Größe andererseits zu finden sind, sollte die Herrschaft des Rechts als die größte Errungenschaft der Zivilisation unangefochten die Beurteilung auch kriegerischer Ereignisse prägen. Und wenn dies generell gilt, dann natürlich auch speziell für die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Jeder Student der Rechte lernt, daß der Dieb bestohlen und der Mörder ermordet werden kann. Und so legten die Librettisten von Beethovens Fidelio, uraufgeführt am 20.11.1805, dem Gefängnisdirektor Pizzarro, der sich anschickte, den Florestan aus Rache zu ermorden, die berühmten Worte in den Mund: „Nun ist es mir geworden, den Mörder selbst zu morden!“ Ob bewußt oder unbewußt, juristisch beraten oder mit dem natürlichen Sinn für das Rechte oder Unrechte: Nicht des Reimes wegen, sondern aus dem natürlichen, unhinterfragbaren Bewußtsein, daß über Leben und Tod kein Mensch einfach entscheiden kann, es sei denn, man habe ihn zum Richter über Leben und Tod bestellt, wurden diese Zeilen geschrieben.

Aus Cathy ist nun eine würdige ältere Dame geworden. Sie hat bekundet, froh darüber zu sein, daß der Wandteppich nun in guten Händen ist. Als liebende Tochter ihres Vaters meint sie auch, er habe sich verpflichtet gefühlt, auf die wertvolle Tapisserie aufzupassen. Sie wisse, er wäre sehr stolz auf sie gewesen, wenn er es noch hätte erleben können, daß der Wandteppich seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben wird. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass Cathy Hinz das nicht auch so meint. Wir haben allerdings allen Grund anzunehmen, daß beim Verfassen des besprochenen dpa Artikels die Geschichtsauffassung, die unter maßgeblicher Anleitung US-amerikanischer Offiziere und Beamter („reeducation“) das Geschichtsverständnis der deutschen Nachkriegsgenerationen geprägt hat, einer historisch und juristisch zutreffenden Darstellung unüberwindbar im Wege stand. Doch auch für die Geschichte gilt Schopenhauers Feststellung: „Die Wahrheit kann warten, denn sie hat ein langes Leben vor sich.“ Gut möglich, daß die Geschichte von Cathy und dem Märchenprinzen auf dem flandrischen Wandteppich aus der Zeit um 1500 n. Chr. in 100 Jahren ganz anders erzählt werden wird.

Geschichte mit einer Prise Pazifismus

Das Bayerische Armeemuseum in Ingolstadt zeigt derzeit in der imposanten Kulisse des Neuen Schlosses eine Ausstellung über den deutschen Bruderkrieg von 1866. Die Ausstellung ist natürlich sehenswert, zum einen weil sie die Erinnerung an eine wesentliche, wenn auch unglücklich verlaufene Phase der deutschen Einigung wachruft, und zum anderen die Fülle der Exponate und erläuternden Texte geeignet ist, dem Besucher für kurze Zeit jene Epoche vor Augen zu führen.

Indessen wird natürlich auch das geschichtspolitische und museumspädagogische Konzept sichtbar, das heutzutage einer solchen Ausstellung wohl zu Grunde liegen muß, damit sie überhaupt dem Volk präsentiert werden darf. Dem Anliegen moderner Pädagogen, die Geschichte von der Höhe der Staatskunst herunter zu holen, Schlachtfelder, Operationen und Waffentechnik in den Hintergrund zu schieben und stattdessen das Erleben des einfachen Volkes und des gemeinen Soldaten in den Vordergrund zu stellen, wird natürlich mit der Schilderung von Erlebnissen einzelner Mannschaftsdienstgrade Rechnung getragen. Der Ausstellungsrundgang beginnt auch mit der Erinnerung an die große Zahl von Gefallenen. Eines der großflächigen Schlachtengemälde aus jener Zeit, das den preußischen König und späteren Kaiser in der Schlacht von Königgrätz inmitten seiner Generäle, aber auch einfachen Soldaten zeigt, kann denn auch nicht einfach unkommentiert dargeboten werden. Weil es nun ganz unverholen den heroischen Geist jener Zeit widerspiegelt, wird gewissermaßen als Gegengift eine Karikatur von Daumier hineinkopiert, die als der Traum des Erfinders jener Waffe betitelt ist, die in diesem Kriege tatsächlich maßgeblich das Geschehen auf den Schlachtfeldern bestimmt hat, und natürlich große Verluste verursacht hat: des Zündnadelgewehrs.

Transportiert wird damit vor allem die pazifistische Sicht der Dinge. Suggeriert wird, daß es den Erfindern und Konstrukteuren neuer oder auch nur verbesserter Waffen allein darum gehe, daß im nächsten Krieg möglichst viele Menschen getötet werden. Pazifisten glauben ja ohnehin, daß Menschen, die politische Krisen nur mit einem Krieg lösen können, oder dies jedenfalls glauben, von einem menschenfeindlichen Denken beseelt sind. Und auch diejenigen, die dann Operationen planen und Truppen in Gefechte führen, wollen nur Tod und Vernichtung. Dieser Pazifismus übersieht natürlich geflissentlich, daß die Menschen zu aller Zeit den Krieg immer nur als Mittel zum Zweck gesehen haben, ob dieser Zweck dann jeweils ehrenhaft war oder nicht, kann in diesem Zusammenhang dahinstehen. Es liegt ja auch auf der Hand, daß Staatsmänner stets ihrem Volk die Früchte eines gewonnenen Krieges reichen wollten, unabhängig davon, ob es in der konkreten Situation klug oder gar sinnvoll war, zum Mittel des Krieges zu greifen. Für die Heerführer gilt nichts anderes. Gerade deswegen sehen gerade Soldaten unserer Tage militärische Entscheidungen wie die für den Abnutzungskrieg in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges als unvertretbar, ja gerade als Pervertierung der Kriegskunst an.

Hämische Kommentare zum historischen Geschehen, wie sie die erwähnte Karikatur Daumiers transportiert, mögen zwar unverbesserliche Pazifisten in ihrer Meinung bestärken. Das Wesen des Krieges wird damit nicht getroffen. Das Problem des Krieges ist vielmehr außerordentlich komplex. Die Motive der führenden und handelnden Personen changieren zwischen edelmütig und verwerflich, ihre Gemütslage zwischen Stolz und Trauer, ihr Handeln zwischen kühl kalkulierend und aufbrausend dumm. Schade, daß eine an sich nicht schlechte Ausstellung sich von politisch korrekter Volkspädagogik nicht frei machen kann.

Wir sind ein Volk

Heute am Tag der deutschen Einheit ist es durchaus angebracht, über uns, das deutsche Volk nachzudenken. Die Parole „Wir sind ein Volk“ löste 1989 den Ruf „Wir sind das Volk!“ der Montagsdemonstranten von Leipzig ab und fand seine logische Weiterentwicklung in dem berühmten Satz Willy Brandts: „Nun wächst zusammen, was zusammen gehört“. Doch ist kaum etwas in Deutschland so umstritten, wie die Begrifflichkeiten deutsches Volk, Deutschland, deutsche Kultur und deutsche Geschichte.

Der Satz von der verspäteten Nation, den Helmuth Plessner mit seinem gleichnamigen Werk aus dem Jahre 1935 geprägt hat, ist für viele Historiker, Politiker und Publizisten zu einer Art Grundwahrheit geworden. Im wesentlichen soll damit gesagt werden, daß die alten westlichen Nationalstaaten England und Frankreich im Zeichen der Aufklärung ihre moderne Gestalt angenommen hätten. Die deutsche Reichsgründung von 1871 aber sei in die materialistische Zeit nach der industriellen Revolution gefallen. So sei Deutschland zu einem „Machtstaat ohne humanistisches Rechtfertigungsbedürfnis“, zu einer „Großmacht ohne Staatsidee“ geworden. Deutschland habe infolge des 30-jährigen Krieges das 17. Jahrhundert gewissermaßen versäumt und darum kein Verhältnis zur Frühaufklärung hervorgebracht. Das deutsche Bürgertum habe schwer an der „politischen Indifferenz des Luthertums“ getragen. Es habe an einem „römischen Komplex“ gelitten, der sich zum Mißtrauen gegen jede, auch die aufgeklärte Form von politischer Universalität ausgeweitet habe. Bismarcks Werk habe wohl das Recht historischen Schicksals, aber nicht die Rechtfertigung im Zeichen einer Idee für sich gehabt. Das Reich von 1871 habe nicht wie Frankreich und England an die Phantasie der Völker, an ihre Zukunftserwartung, ihren Menschheitsglauben appelliert. Es habe für nichts gestanden, von dem es überragt worden sei. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg habe sich „Deutschlands Protest gegen den politischen Humanismus Westeuropas“ verstärkt. Der Nationalsozialismus sei der Nutznießer und Exekutor dieses Protests gewesen, seine Vergottung von Volk und Rasse die extreme Übersteigerung der deutschen Auflehnung gegen den politischen Humanismus des Westens gewesen. Diese Theorie Plessners führte geradewegs in den „Sonderwegsdiskurs“ der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Dagegen läßt sich allerhand einwenden. Die Theorie vom deutschen Sonderweg in der Geschichte seit dem 30-jährigen Krieg, der letztendlich geradewegs über ein autoritär-militaristisches Gesellschafts- und Staatsmodell in die Katastrophe des Nationalsozialismus geführt habe, ist ja nur dann stimmig, wenn man davon ausgeht, daß sich Geschichte zwangsläufig so entwickelt, wie sie sich in der Betrachtung ex post darbietet. Natürlich gibt es keine Zwangsläufigkeit der Geschichte. Gerade am Beispiel des Nationalsozialismus wird dies besonders deutlich. Er stand und fiel mit der Person seines Begründers und Führers. Ohne einen charismatischen Demagogen wie ihn hätte sich diese Ideologie nicht durchsetzen können. Vielmehr wäre sie heute wohl nur eine Fußnote in der Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Auch wenn kontrafaktische Überlegungen der Geschichtswissenschaft fremd sind und fremd sein müssen, so ist es doch im Rahmen von Überlegungen zum Wesen der deutschen Nation durchaus angemessen, den Stellenwert des Nationalsozialismus für ihre Geschichte wie auch für den Charakter des deutschen Volkes auch unter dem Aspekt zu betrachten, daß er nicht zwangsläufig, wie nach einem Naturgesetz entstanden sein muß. So führt zum Beispiel die Annahme, Hitler wäre bei dem berüchtigten Marsch auf die Feldherrnhalle in München wie viele seiner Anhänger erschossen worden, zwanglos zu der sehr gut begründbaren Vermutung, daß dies auch das Ende dieser politischen Bewegung gewesen wäre. Ebensogut kann angenommen werden, daß das erfolgreich verlaufende Attentat des Schreiners Georg Elser im Bürgerbräukeller über kurz oder lang das Ende der nationalsozialistischen Regierung bedeutet hätte, denn es ist nicht anzunehmen, daß einer der anderen führenden Nationalsozialisten das Zeug zum Diktator Hitlerschen Formats gehabt hätte.

Der Begriff der verspäteten Nation läßt auch außer Acht, daß Nation und Staat durchaus verschieden sein, sich unterschiedlich entwickeln können und im Falle Deutschlands dies auch besonders augenfällig ist. Nach dem Ende der karolingischen Epoche entwickelte sich in Mitteleuropa etwas zögerlich eine deutsche Staatlichkeit. Mit Konrad I., der 911 zum deutschen König gekrönt wurde über seinen Nachfolger Heinrich I., der 919 die Königswürde der Deutschen erlangte, und erst recht Otto I., der 936 tatsächlich ein deutsches Königtum mit Leben erfüllen konnte, was ihm ermöglichte, 955 in der Schlacht auf dem Lechfeld Ungarn zu besiegen und als Gefahr für sein Reich auszuschalten, trat das deutsche Volk auch als Staat in die Geschichte ein. Seither trägt Otto den Beinamen „der Große“, den die Historiker außer ihm nur dem Frankenkönig Karl und dem preußischen König Friedrich II. gegeben haben. Nach Karl dem Großen wurde er dann auch folgerichtig 961 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gekrönt. Er konnte sich seinerzeit auch noch den Primat über den Papst sichern und bestimmen, wer auf dem Stuhle Petri Platz nehmen darf.

Gerade die weitere Geschichte der Deutschen im staatlichen Rahmen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zeigt, wie unterschiedlich sich Volk und Staat entwickeln können. Der geistigen und kulturellen Entwicklung im deutschsprachigen Raum entsprach seine politische in keiner Weise. Den weit über die Grenzen des Reiches hinaus wirkenden Erfindungen wie etwa dem Buchdruck oder gesellschaftlichen Umwälzungen wie der Reformation entsprach die Entwicklung des Staates nicht, eher im Gegenteil. Der Zerfall des alten deutschen Reiches im 30-jährigen Krieg und das förmliche Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1806 markieren nur die Unfähigkeit der Deutschen, sich eine stabile staatliche Ordnung zu geben. Über ihre Identität als Nation ist damit jedoch nichts gesagt. Gerade in den Jahrhunderten des staatlichen Zerfalls entwickelten sich Philosophie, Musik und Literatur wie auch die bildenden Künste in nicht geringerem Maße, als etwa in England und Frankreich. Wer eine den Staat überwölbende Idee in Deutschland vermißt, der übersieht Luther, Leibniz, Kant und die ihm nachfolgenden Philosophen, deren Einfluß auf die Deutschen nicht geringer war, als zum Beispiel der von John Locke auf die Engländer oder Rousseau und Voltaire auf die Franzosen. Eine vergleichbare Entwicklung gab es in Italien, das ja ebenso wie Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (wieder) zu einer nationalen Staatlichkeit finden konnte. Beispiele einer staatlichen Diskontinuität ließen sich auch sonst in der Geschichte finden. Plessners These von der verspäteten Nation bedarf, wenn wir auf die Reichsgründung blicken, einer weiteren Einschränkung. 1871 wurde ein deutscher Nationalstaat begründet, nicht die deutsche Nation. Im kulturellen Sinn waren die Deutschen, wie ausgeführt, schon seit langem eine Nation gewesen. Die deutsche Kulturnation war „großdeutsch“, sie schloß immer auch die deutschsprachigen Gebiete des Habsburgerreiches und nach dem Verständnis der meisten Deutschen auch die Elsässer und deutschsprachigen Lothringer sowie die deutschsprachigen Schweizer mit ein. Mit Fug und Recht kann man das in kultureller Hinsicht auch weiterhin für den deutschsprachigen Raum sagen.

„Wir sind ein Volk“, dieser Satz greift weit über die staatliche Wiedervereinigung der beiden Teilstaaten hinaus, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des alliierten Diktats den Deutschen geblieben waren. In ihm schwingt auch mit, was seit Jahrhunderten den Nationalcharakter der Deutschen prägt und ihnen ermöglicht hat, in den Bereichen von Kultur, Wissenschaft und Technik fortlaufend Höchstleistungen hervorzubringen, und wohl auch deswegen in der Lage zu sein, politische Rückschläge bis hin zur Katastrophe des Dritten Reiches zu überstehen. Man kann auch klar benennen, daß die übrigen europäischen Mächte wie auch die später hinzugekommenen USA stets daran gearbeitet haben, Deutschland als Nationalstaat nicht zu groß werden zu lassen. Die Weigerung der Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg, den Österreichern zu erlauben in einer Volksabstimmung sich dem Deutschen Reich anzuschließen, wie auch die Abtrennung Südtirols zugunsten Italiens oder die Abtrennung der deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße nach dem Zweiten Weltkrieg sprechen ja eine beredte Sprache. Dennoch sollten wir glücklich darüber sein, daß wir unsere Staatlichkeit nun vereint in unseren heutigen Grenzen unbehelligt leben können. Anderen Völkern ist dies nicht vergönnt, denken wir etwa an die Kurden. Auch ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß eine Kultur wie etwa die spanische oder englische in mehreren Staaten gelebt werden, wie etwa Südamerika und Australien zeigen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

„Wir sind ein Volk“, das ist nicht nur eine Feststellung. Das ist auch eine Aufgabe. Die Anfechtungen, denen wir heute ausgesetzt sind, zielen nicht mehr auf unsere Staatlichkeit. Vielmehr haben wir alle Veranlassung, wachsam die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande zu beobachten und zu gegebener Zeit auch korrigierend einzugreifen. Einflüsse aus fremden Kulturen können in jedem Volk genießbare wie ungenießbare Früchte reifen lassen. Man muß sie eben voneinander unterscheiden können. Es kann nicht zusammenwachsen, was nicht zusammen gehört.

Völkisch – ein Unwort?

Frau Petry hat es getan. Sie hat völkisch gesagt. Das ist noch schlimmer als Autobahn. Und sie hat noch einen drauf gesetzt.

Sie hat dazu aufgerufen, den Begriff völkisch positiv aufzuladen. Man müsse daran arbeiten, daß dieser Begriff wieder positiv besetzt ist. Das Wort völkisch als rassistisch zu werten, sei eine unzulässige Verkürzung. Sie selbst benutze diesen Begriff zwar nicht, aber ihr missfalle, daß er ständig nur in einem negativen Kontext benutzt werde. Sie habe ein Problem damit, daß es bei der Ächtung des Begriffs völkisch nicht bleibe, sondern der negative Beigeschmack auf das Wort Volk ausgedehnt werde.

Es war zu erwarten, daß darob in den Medien ein Entrüstungssturm ausbrechen werde. Natürlich schlagen alle politisch korrekten Kommentatoren nun auf die Politikerin ein. Soweit man sachlich argumentiert, weist man auf die Definition im aktuellen Duden hin. Danach stehe der Begriff völkisch in der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus. BILD weiß daher: „AfD Chefin zündelt.“ Die ZEIT, stets bemüht, ihrer vorwiegend akademischen Leserschaft die Mühe des Denkens abzunehmen, gibt ihr die Sprachregelung vor und schreibt in ihrer Online Ausgabe flugs: „Der Begriff völkisch bedeutet deutsch und steht für die Ausgrenzung von jedem, der hier nicht geboren wurde. Wer ihn nutzt, will faschistische Gedanken hoffähig machen.“ So belehrt uns ein Herr Biermann.

Man kann sich dem Sachverhalt auch ohne Schaum vor dem Mund nähern. Ohne jeden Zweifel hat die Vokabel „völkisch“ eine wechselhafte Bedeutungsgeschichte. Ohne jeden Zweifel ist sie zu einem Schlüsselbegriff der nationalsozialistischen Ideologie geworden. Schon der Titel des Parteiorgans – Völkischer Beobachter- spricht für die Vereinnahmung des Begriffs durch Hitler und seine volkspädagogischen Büchsenspanner. Doch dieses Schicksal teilt die Vokabel mit anderen Begriffen, Symbolen und sogar Tugenden. Die Schmähung von Fleiß, Treue, Disziplin, Gehorsam, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Höflichkeit und Sauberkeit als sogenannte Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ führen könne, durch Oskar Lafontaine,in einem Stern-Interview am 15. juli 1982, dazu noch auf Helmut Schmidt gemünzt, sollte unvergessen bleiben.

Hilfreich ist es daher, sich die Wortbedeutung unbefangen aus der lexikalischen Literatur zu erschließen. Noch im Jahre 1933 – das Manuskript dürfte sicherlich vor Beginn dieses für Deutschland und Europa verhängnisvollen Jahres fertig gestellt worden sein – führt das im Georg Dollheimer Verlag zu Leipzig erschienene Wörterbuch „Das deutsche Wort“ hierzu aus: „völkisch Eigenschaftswort: das Volk betreffend; dem Volk eigentümlich; national“. Der Große Brockhaus, 16. Aufl. führt im 1957 erschienenen 12. Band dieses Lexikons aus: „völkisch, die seit etwa 1875 aufgekommene, um 1900 vor allem vom Alldeutschen Verband vertretene Verdeutschung des Wortes national im Sinne eines auf dem Rassegedanken begründeten und daher entschieden antisemitischen Nationalismus. An sich ist völkisch ein altgermanisches Wort; es konnte sich aber, ebenso wie volklich, im allgemeinener Bedeutung nicht durchsetzen.“ Ziehen wir dann noch den zumindest früheren Schülergenerationen bekannten „Wasserzieher, ableitendes Wörterbuch der deutschen Sprache“, 18. Aufl. 1974 zu Rate. Dort lesen wir: „völkisch 15. Jahrhundert, 1875 als Verdeutschung für national vorgeschlagen, angelsächsisch folcisc volkstümlich.“

Wir sehen also, daß ein schlicht beschreibendes Eigenschaftswort durch seinen Missbrauch zunächst seitens nationalistischer Kreise im deutschen Sprachraum und dann verstärkt durch die Nationalsozialisten gewissermaßen seine Unschuld verloren hatte. Nun machen viele Begriffe und Vokabeln im Laufe der Jahrhunderte einen bisweilen tiefgreifenden Bedeutungswandel durch. Jedem von uns ist das aus der Schulzeit noch an dem Beispiel des Marschalls geläufig, der sich vom Pferdeknecht zum höchsten Generalsrang entwickelt hat. Und wie hat sich Ansehen und Verständnis des Wortes Weib, das in der lutherischen Bibelübersetzung Jesus für seine Mutter benutzt hat, und zwar ganz sicher in Liebe und Ehrfurcht, ins Negative verändert! Eine Frau mit diesem Begriff anzureden kann heute strafrechtliche Konsequenzen haben. Vom negativen Begriff zur negativen Wortbedeutung ist es nicht weit. Das zitierte Beispiel der sogenannten Sekundärtugenden ist hier aufschlussreich. Und wenn eine Vokabel einmal gewissermaßen wie ein fauler Apfel im Korb liegt, ist die Gefahr groß, daß auch andere bislang positiv konnotierte Begriffe von dieser Abwertung befallen werden. Nicht ganz zu Unrecht hat die Politikerin Petry daher darauf hingewiesen, daß es bei der Ächtung des Begriffs völkisch nicht bleibt, sondern der negative Beigeschmack auf das Wort Volk ausgedehnt wird. Das ist leider bereits festzustellen. Wenn ein Politiker im Zusammenhang mit Europa oder der Flüchtlingsproblematik vom deutschen Volk spricht, dann klingt das in manchen Ohren ja wie Autobahn, nämlich Autobahn, die Hitler gebaut habe, weswegen ja nicht alles schlecht sein könne, was Hitler getan hat.

Ob man nun Frau Petry allgemein oder in diesem Punkt zustimmt oder nicht: ich halte es für geboten, auch den Begriff völkisch aus der babylonischen Gefangenschaft des Nationalsozialismus zu befreien. Wir können nicht Begriffe oder Dinge, die für sich genommen weder gut noch schlecht sind, nur deswegen auf ewig für Unworte halten, oder zumindest für unaussprechlich, nur weil sie von den Nazis missbraucht worden sind. Denn dann müssten wir in der Tat all die oben zitierten sogenannten Sekundärtugenden aus unserem Sprachschatz verbannen. Natürlich ist es so, daß das Pflichtbewusstsein eines KZ-Aufsehers in diesem Fall eine negative Eigenschaft ist. Ebenso natürlich ist das Pflichtbewusstsein eines Straßenbahnfahrers oder Verkehrspiloten eine in unser aller Interesse wünschenswerte Eigenschaft. Wenn wir also die Vokabel völkisch künftig schlicht und einfach ihrem Ursprung entsprechend als das deutsche Wort für national verstehen, dann emanzipieren wir uns gleichzeitig auch von der Fixierung auf die Zeit des Nationalsozialismus, die wenigstens zwei Generationen nach dessen Untergang die Unbefangenheit genommen hat. Der souveräne Umgang mit der eigenen Geschichte verlangt unter anderem, auch die sicherlich ausschließlich negativ zu bewertende Zeit des Nationalsozialismus nicht nur zeitlich, sondern auch von ihrer Bedeutung her in den Gesamtzusammenhang der Geschichte zu stellen. Auch wenn diese zwölf Jahre ein anderes Gewicht haben, als irgendwelche belanglosen zwölf Jahre unserer Geschichte, so sind sie gleichwohl doch nur eine Periode von vielen. Und auch wenn die Untaten der Nazis nur wenig vergleichbares in der Geschichte finden – an dieser Stelle muß ich für Halbgebildete darauf hinweisen, daß vergleichen und gleichsetzen zwei verschiedene Dinge sind – in unserer Geschichte überwiegen die der Überlieferung werten Ereignisse und Perioden bei weitem. Auch deswegen müssen wir die Autobahnen nicht etwa in Schnellstraßen oder gar Highway umbenennen. Werden wir unverkrampft! Auch wenn das solchen Kreisen mißfällt, die es am liebsten sähen, wenn sich „der Deutsche“ als ewiger Paria der Geschichte auf alle Zukukunft verschämt an der Wand entlang drückt. Denn dafür liefert unsere mehr als die „berühmten“ tausend Jahre alte Geschichte jedenfalls in summa  keinen Grund.

Senatus Populusque Romanus, Senat und Volk von Rom. Dieses stolze Motto der römischen Republik, einer antiken Demokratie, freilich einer Demokratie mit allen Schwächen der Antike, es beschreibt in lakonischer Kürze das Wesen der parlamentarischen Demokratie. Das Volk als Träger aller Staatsgewalt. „Wir sind das Volk!“ riefen die Leipziger bei den Montagsdemonstrationen 1989. Wenn es uns Deutsche kennzeichnet, den Kopf oben zu tragen, dann ist es eben eine nationale, in diesem Falle eine sehr positive nationale Eigenschaft. Ändert sich daran irgendetwas, wenn man sie als eine völkische Eigenschaft der Deutschen bezeichnet? Den Lesern eines Weblogs, der in seinem Untertitel zum Selberdenken auffordert, muß ich die Antwort nicht vorgeben.

Bürger in Uniform oder Söldner?

In diesen Tagen hat die Bundesministerin der Verteidigung das neue Weißbuch vorgestellt. Das hat weder in den Medien noch in der Öffentlichkeit eine Debatte ausgelöst. Man kann allenfalls von wohlwollendem Desinteresse sprechen. Die jahrzehntelange Konditionierung der Deutschen zu einer in der Grundbefindlichkeit eher pazifistischen Gesellschaft ließ auch nichts anderes erwarten.

Nun wird in den Weißbüchern des Bundesministeriums der Verteidigung traditionell nicht lediglich ein Ausblick auf angestrebte Strukturveränderungen der Streitkräfte und ihre Ausrüstung gegeben, sondern durchaus grundlegend auch eine Einordnung in die Weltpolitik vorgenommen. Die Rolle Deutschlands in der Welt, die Rolle Deutschlands in den Vereinten Nationen wie der NATO, und ein klein wenig auch die deutschen Interessen werden definiert. Das geschieht natürlich auch in diesem Weißbuch, soll aber nicht Gegenstand dieser Betrachtungen sein.

Vielmehr wollen wir den Blick auf das Selbstverständnis der Bundeswehr richten, wie es nach Auffassung der politischen Leitung des Ministeriums und natürlich der Bundesregierung überhaupt sein sollte. Festgehalten wird natürlich an Begriff und Grundsatz der Inneren Führung. Insoweit formuliert das Weißbuch in Ziffer 8.3 (Innere Führung als Kern des Selbstverständnisses der Bundeswehr) unter anderem: „Die innere Führung stellt sicher, daß sich die Ausbildung von Soldatinnen und Soldaten nicht allein auf die Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten beschränkt, sondern vielmehr die Bindung an die Werte unseres demokratischen Gemeinwesens festigt.“ Natürlich ist die Bindung des Soldaten an die Werte unseres demokratischen Gemeinwesens eines der Ziele der Inneren Führung, jedenfalls wenn man den in § 9 des Soldatengesetzes formulierten Diensteid zugrunde legt. Die Eidesformel lautet ja nun einmal: „Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, (so wahr mir Gott helfe).“ Gemessen daran fehlt in der Definition der Aufgabe und Zielvorstellung der Inneren Führung jeder Hinweis auf das Volk bzw. Land, dem der Soldat der Bundeswehr dient. Immerhin sind die zentralen Begriffe der Eidesformel die Pflicht zum treuen Dienen gegenüber dem Land, und die Pflicht, Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Beides kommt in der Formulierung dieser Zielvorstellung nicht vor. Die Werte unseres demokratischen Gemeinwesens, die dort allein auftauchen, lassen sich sicher auch unter Recht und Freiheit des deutschen Volkes einordnen, allerdings sind damit Recht und Freiheit des deutschen Volkes keineswegs erschöpfend beschrieben. Denn die demokratischen Grundwerte gehören zwar sicherlich zu den Rechten der Deutschen, die der Soldat der Bundeswehr verteidigt. Zu den Rechten der Deutschen gehört aber vor allem auch ihre Freiheit nach innen wie nach außen. Davon ist nicht die Rede. Zu den Rechten der Deutschen gehört es auch, ihre natürlichen Interessen auf ein Leben in Frieden und Wohlstand zu wahren. Die Werte der demokratischen Gesellschaft indessen als gewissermaßen Teilmenge der in der Eidesformel beschriebenen Aufgabenstellung können demgemäß doch nur ein Teil dessen sein, wofür der Soldat notfalls mit Gesundheit und Leben einzustehen hat. Doch offenbar ist die Benennung spezifisch nationaler Rechte und Werte inzwischen verpönt. Die Demokratie an sich als Wert ist ebenso unverfänglich wie wohlfeil. Denn sie ist selbstverständlich Staatsform und gelebte gesellschaftliche Wirklichkeit in (fast) allen Ländern der NATO mit Ausnahme der Türkei des modernen Sultans Erdogan.

Nicht überraschend ist es daher, daß in Ziffer 8.4 des Weißbuchs neue Wege im Traditionsverständnis aufgezeigt werden. Denn: „Wichtige Teile der Führungsphilosophie (Muß es denn gleich Philosophie sein? Tut es nicht auch das Selbstverständnis?) der Bundeswehr sind ein Werte vermittelndes Traditionsverständnis und dessen Pflege. Unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen für ihren fordernden Auftrag neben der rationalen Sinnstiftung auch eine emotionale Bindung. Die preußischen Reformen und der Widerstand gegen das NS-Regime werden immer ihren besonderen Platz behalten. Sie dienen als wesentliche Vorbilder und zur moralischen Festigung. Doch Traditionen müssen gelebt werden.“ Den in der deutschen Geschichte offenbar allein sinnstiftenden Ereignissen der preußischen Reformen und des Widerstandes gegen das NS-Regime wird dann noch die inzwischen über 60-jährige Tradition der Bundeswehr selbst hinzugefügt. Letzteres ist sicherlich angebracht und legitim. Denn die Bundeswehr besteht inzwischen länger als jede deutsche Armee vor ihr, und sie kann für sich in Anspruch nehmen, einen wesentlichen Beitrag zur friedlichen Überwindung des Ost-West Konfliktes geleistet zu haben, und gewissermaßen zu den Siegern des Kalten Krieges zu gehören. Die preußischen Reformen und der Widerstand gegen das NS-Regime indessen waren politische, nicht militärische Leistungen. Somit bleibt als traditionsstiftende militärische Leistung allein der Beitrag zur Überwindung des Ost-West Konfliktes und der damit einhergehenden friedlichen Wiedervereinigung unseres Volkes. In einem „heißen“ Krieg mußte sich die Bundeswehr gottlob nicht bewähren, vom Einsatz in Afghanistan einmal abgesehen. Indessen fehlt in dieser Aufzählung, was für alle anderen Armeen auf dieser Erde stets traditionsbegründend ist: die großartigen soldatischen Leistungen in den Kriegen der Vergangenheit. Immerhin haben die deutschen Armeen in den Kriegen von 1866,1870/71,1914-18 und 1939-45 militärische Leistungen gezeigt, die überall in der Welt geachtet und hoch geschätzt, jedoch nur in Deutschland offenbar verschämt unter Verschluß gehalten werden. Die Führungskunst der Feldherren und Generalstäbe, die weltweit bewunderte Auftragstaktik, die Erfolge deutscher Armeen auf den Schlachtfeldern gegen personell und materiell häufig weit überlegene Gegner, alles das soll nach den Vorstellungen der Auftraggeber und der Verfasser dieses Weißbuches offenbar nicht traditionsbegründend sein. Die Tatsache allein, daß deutsche Soldaten über einen vergleichsweise sehr kurzen Zeitraum der Geschichte – was sind schon 12 von gut 300 Jahren? – gezwungen waren, einem Unrechtsregime dienen zu müssen, ist für die dominierende politische Klasse dieses Landes (von Elite kann ich hier nicht sprechen) Grund genug, die glänzenden Leistungen früherer Soldatengenerationen unter den Tisch fallen zu lassen. Was in anderen Ländern zur Errichtung von Denkmälern und jährlichen Paraden der Streitkräfte vor den Staatsoberhäuptern unter großer Anteilnahme der Bürger führt, wird in Deutschland geächtet. Wie auf diese Weise eine innere Bindung des Soldaten an Volk und Land geschaffen werden soll, bleibt wohl das Geheimnis unserer Politiker und ihrer medialen Lautsprecher. Vielleicht soll das aber auch gar nicht erreicht werden.

Nur in diesem Geiste ist es wohl möglich, sich Gedanken darüber zu machen, die offenkundigen Personalprobleme der Bundeswehr dadurch zumindest abzumildern, daß man sie für Ausländer öffnet. So heißt es auf Seite 120 des Weißbuches unter dem Stichwort „Personalstrategie“ unter anderem: „Nicht zuletzt böte die Öffnung der Bundeswehr für Bürgerinnen und Bürger der EU nicht nur ein weitreichendes Integrations- und Regenerationspotenzial für die personelle Robustheit der Bundeswehr, sondern wäre auch ein starkes Signal für eine europäische Perspektive.“ Dieses – pardon! – Geschwurbel will wohl heißen, daß es eigentlich völlig gleichgültig ist, wer in dieser Armee dient, vor allem, woher er kommt und welchen Pass er in der Tasche trägt. Das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen wird wohl kaum das Motiv solcher Soldaten sein. Hier wird ganz offen über die Rekrutierung von Söldnern nachgedacht. Natürlich gibt es so etwas in Form der französischen wie auch der spanischen Fremdenlegion. Das sind aber immerhin besondere Truppenteile. Die USA haben sich für die Erledigung besonders gefährlicher und schmutziger militärischer Aufträge der Dienste kommerzieller Anbieter versichert. Wenn man nun auch in Deutschland derartige Erwägungen anstellt, dann sollte man eben auch zwischen dem Dienst für das Vaterland – ja, Vaterland – und dem Einsatz von Waffengewalt zur Durchsetzung politischer oder wirtschaftlicher Interessen trennen. Aber dazu bedürfte es einer Klasse von Politikern, die sich nicht lediglich als Manager eines Großunternehmens namens Bundesrepublik Deutschland verstehen, sondern als Vertreter derer, denen die Inschrift über dem Eingangsportal des Reichstages gewidmet ist. Sie lautet: Dem deutschen Volke.

Der Überfall

„Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion.“ Mit diesen Worten begann Bundespräsident Joachim Gauck seine Ansprache zu diesem Jahrestag. Auch das Auswärtige Amt sprach in seiner Stellungnahme vom 22.6.2016 vom 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. Der amtliche Sprachgebrauch verwendet die Vokabel „Überfall“ auch für den Angriff des Deutschen Reiches auf Polen am 1. September 1939, zum Beispiel anläßlich der offiziellen Gedenkfeier zusammen mit höchstrangigen Vertretern der Republik Polen. Dem schließen sich die gedruckten wie die gesendeten Medien durchgehend an. So findet sich in der Tageszeitung Die Welt vom 01.09.2014 ein längerer Artikel mit der Überschrift: „Der deutsche Überfall auf Polen 1939.“

Es fällt auf, daß dieser amtliche Sprachgebrauch sich offenbar erst in den letzten drei Jahrzehnten eingebürgert hat. Von einem Überfall als Bezeichnung für die Feldzüge gegen Polen und die Sowjetunion war insbesondere in der Nachkriegszeit nicht die Rede. Selbst das Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg verwendet diesen Begriff für diese Feldzüge nicht, sondern spricht von Angriffskriegen. Der Angriffskrieg war zwar bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein für alle Staaten, insbesondere auch diejenigen, die in Nürnberg über die Repräsentanten des besiegten Deutschen Reiches zu Gericht saßen, ein durchaus übliches Mittel der Außenpolitik – besser gesagt: Machtpolitik. Daran änderten auch die internationalen Bemühungen zur Ächtung des Angriffskrieges nichts, die in dem bekannten Briand-Kellogg-Pakt von 1928 mündeten, wonach sich die Unterzeichnerstaaten verpflichteten, auf den Angriffskrieg als Mittel der Politik zu verzichten. Obgleich dieser Pakt ebenso wenig wie andere völkerrechtliche Verträge in den Jahrzehnten zuvor den Verstoß gegen diese Verpflichtung mit Strafe bedrohte, erklärten die Alliierten im Londoner Protokoll vom 8. August 1945 die Planung und Führung eines Angriffskrieges nachträglich auch zur Straftat. Folgerichtig wurden die führenden Vertreter des Deutschen Reiches, deren man noch lebend habhaft geworden war, auf der Grundlage dieses tatsächlich neuen, aus der Sicht der Alliierten und des von ihnen begründeten Gerichtshofs jedoch schon immer existierenden Straftatbestandes verurteilt. Es ist hier nicht der Platz, dazu weitere Ausführungen zu machen, ebenso wenig dazu, daß dies bis heute einmalig geblieben ist. Ob jemals ein Staatsmann oder Offizier wegen Planung oder Führung eines Angriffskrieges verurteilt werden wird, darf nach Sachlage füglich bezweifelt werden. Die großen Nationen dieser Erde haben die einschlägigen Artikel des Römischen Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof vom 01.07.1998 nicht einmal ratifiziert.

Auch die unübersehbare Literatur zum Zweiten Weltkrieg kannte jahrzehntelang den Begriff des Überfalls für diese Operationen nicht. So schildert zum Beispiel Raymond Cartier in seinem bekannten Standardwerk über den Zweiten Weltkrieg, das in den sechziger/siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehr verbreitet war, die jeweiligen diplomatischen Verhandlungen und militärischen Operationen, ohne dabei Wertungen wie etwa „Überfall“ vorzunehmen. Auch der Große Brockhaus aus dem Jahr 1957 schildert recht minutiös die verschiedenen militärischen Operationen und diplomatischen Verhandlungen, vermeidet aber den Begriff des Überfalls.

Gegenstand dieser Untersuchung ist die Frage, ob es tatsächlich richtig ist, für die beiden Angriffskriege gegen Polen und die Sowjetunion den Begriff des Überfalls zu verwenden, und weiter, warum dies heute der amtliche Sprachgebrauch ist, in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen nicht.

Zunächst einmal ist zu definieren, was unter einem Überfall zu verstehen ist. Der Duden definiert ihn als plötzlichen, unvermuteten Angriff, bei dem jemand überfallen wird. Wenn es um sprachliche Präzision geht, ist eine juristische Definition stets hilfreich. Deswegen blicken wir in das Strafgesetzbuch und finden dort § 224 – gefährliche Körperverletzung –, wobei einer der dort geregelten Tatbestände die Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls ist. Nach der gängigen Definition des Reichsgerichts, der sich der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, ist Überfall ein Angriff auf den Verletzten, dessen er sich nicht versieht und auf den er sich nicht vorbereiten kann. Das liegt genauso wie das Tatbestandsmerkmal der Heimtücke im Mordparagraphen 211. Danach handelt heimtückisch, wer eine zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tat ausnutzt. Der Begriff des Überfalls trägt sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als nach den einschlägigen Definitionen im Strafgesetzbuch ein Unwerturteil in sich, das unmittelbar aus den Tatumständen folgt. Wir wollen nachstehend untersuchen, ob die Ereignisse vom 1. September 1939 und vom 22. Juni 1941 diese Beurteilung auch rechtfertigen.

Am 01.09.1939 war Polen hinsichtlich eines bevorstehenden deutschen Angriffs keinesfalls arglos, noch weniger wehrlos. Vielmehr waren die polnischen Streitkräfte seit Wochen alarmiert und an den Grenzen aufmarschiert. Der Vormarsch von rund 37 Divisionen in der Nacht vom 25./26.8.1939 gegen die Grenze konnte ebenso wenig unbemerkt geblieben sein wie die Eisenbahntransporte, die ab 25. August, 20:00 Uhr, mit Höchstleistung liefen. Den rund 1,5 Millionen Soldaten der Wehrmacht standen 1,3 Millionen polnische Soldaten gegenüber. Ihre Dislozierung war allerdings für die Verteidigung gegen einen erwarteten Angriff nicht optimal, allerdings auch dafür geeignet, selbst nach Westen anzugreifen. Derartige Bestrebungen gab es seinerzeit in Polen durchaus, so merkwürdig dies heute auch erscheinen mag. Dafür gibt es auch nicht hinwegzudiskutierende Belege wie etwa die Äußerung des polnischen Botschafters in Paris vom 10. August 1939, der Hitlers Ausspruch, er werde Polen mit seinen motorisierten Verbänden in drei Wochen erobern mit der Bemerkung quittierte: „Albern! Wir werden von Kriegsbeginn an Deutschland besetzen.“

Auch die Lage an der aufgrund des Hitler-Stalin Paktes vom 23. August 1939 in Polen gezogenen Grenze zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Machtbereich zeigt deutlich, daß von einem Überfall im Wortsinne keine Rede sein konnte. Auf deutscher Seite waren ca. 3 Millionen Soldaten mit rund 3500 Kampfpanzern und Sturmgeschützen so wie gut 7000 Artilleriegeschützen und 2700 Frontflugzeugen aufmarschiert. Demgegenüber hatte die Rote Armee in den fünf westlichen Militärbezirken ca. 5,4 Millionen Soldaten aufmarschieren lassen, denen ca. 10500 Kampfpanzer, etwa 34.700 Artilleriegeschütze und rund 8500 Frontflugzeuge zur Verfügung standen, die Reserven in der Tiefe des Raumes nicht mitgerechnet. Tatsächlich waren diese Armeen auch zum Angriff gegliedert. Für jeden militärischen Fachmann ist dies völlig klar. So gab es keinerlei Minensperren vor den Spitzen der Roten Armee. Eine Truppe, die sich zur Verteidigung einrichtet, schützt sich jedoch mit möglichst umfangreichen und tief gestaffelten Sperren, jedenfalls nach den damals allgemein geltenden Grundsätzen des Kriegshandwerks. Die Massierung von Kampfpanzern in vorderster Linie wie auch die Einrichtung von Feldflugplätzen in Grenznähe, und somit im Einwirkungsbereich der deutschen Artillerie, lassen ebenfalls keinen Zweifel daran, daß die Rote Armee nicht zur Landesverteidigung, sondern zum Angriff nach Westen aufmarschiert war. Wer sich mit der Militärgeschichte dieser Zeit näher befaßt, wird um diese Erkenntnis nicht herumkommen. Ich selbst kenne noch einschlägige Berichte aus mündlicher Überlieferung. So hatte ich während meiner Ausbildung zum Reserveoffizier im Jahr 1968 einen Taktiklehrer, der als Offizier an diesem Feldzug teilgenommen hatte. Er berichtete uns, daß man in einen zum Angriff gegliederten Feind hineingestoßen sei. Dafür spricht ja auch der weitere Verlauf des Krieges. Denn die deutschen Truppen stießen zügig durch die feindlichen Armeen. Wäre indessen jene personell und vor allem an schweren Waffen und Luftwaffe weit überlegene Streitmacht zur Verteidigung eingerichtet gewesen, wäre das zwangsläufig fehlgeschlagen. Vielmehr hätte der Angriff nach allen seinerzeit geltenden militärischen Grundsätzen scheitern müssen. Natürlich mußten beide Seiten auch mit einem bevorstehenden Angriff des Feindes rechnen. Derart gewaltige Truppenaufmärsche konnten auch damals nicht unbemerkt bleiben. Letztendlich kam der deutsche Angriff einem Angriff des Feindes auch ganz offensichtlich nur um wenige Tage zuvor.

Daraus allerdings ableiten zu wollen, es habe sich um einen von Deutschland rechtzeitig begonnenen Präventivkrieg gehandelt, kann lediglich aus operativer Sicht zutreffen. In der Tat kam Deutschland einem bevorstehenden Angriff der Roten Armee zeitlich zuvor. In dieser Situation war es auch zweckmäßig, als erster zu schlagen, vor allem angesichts eines nicht zur Verteidigung eingerichteten, sondern zum Angriff angetretenen Feindes. Da man selbst zum Angriff aufmarschiert war, hätte man einem Angriff des Gegners ja auch nicht standhalten können. Das ist allerdings nur eine Beschreibung der Situation in den 2-3 Monaten vor dem Angriff. Die politischen Absichten beider Seiten waren jedoch schon seit langem dahingehend festgelegt, daß die jeweils andere Seite militärisch zu unterwerfen war. Aus der Sicht der Sowjetunion folgt das ohne weiteres aus dem Auftrag der Kommunisten, die Weltrevolution voranzutreiben. Für Lenin war der Sieg des Kommunismus in Deutschland ja ohnehin der Schlüssel zu Europa. Stalin wäre kein guter Kommunist gewesen, hätte er diese Absichten nicht vorangetrieben. Der Aufbau einer gewaltigen Streitmacht und deren Aufstellung zum Angriff belegen nichts anderes, als daß Stalin seinem in kommunistischer Diktion „Klassenauftrag“ nachgekommen war. Hitler indessen verfolgte von Anfang an das politische Ziel, für sein Volk Lebensraum im Osten zu gewinnen. Eine der vielen Äußerungen dazu findet sich auf Seite 742 in seinem programmatischen Buch „Mein Kampf“: „Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten… Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“ Hitler sah durchaus einen unüberbrückbaren Gegensatz in der Existenz der kommunistischen Sowjetunion einerseits und den von ihm definierten deutschen Interessen. Daß er diese auch militärisch durchzusetzen gedachte, hat er ja seinen Generälen vor Beginn des Polenfeldzuges schon ausführlich erläutert. Deren militärfachliche Bedenken wischte er bekanntlich zur Seite und befahl ihnen, diese Operationen zu planen und durchzuführen. Als Soldaten hatten sie ja zu gehorchen.

Wir kommen zum Ergebnis, daß weder nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, noch gar in rechtlicher Hinsicht von einem „Überfall“ gesprochen werden kann, wenn es um die Feldzüge gegen Polen bzw. die Sowjetunion geht. Zutreffend ist allein der Begriff des Angriffs. Er beschreibt den Sachverhalt, enthält aber keine Wertung, weder in moralischer noch in rechtlicher Hinsicht. Daß der Begriff des Überfalls Eingang sowohl in die Geschichtswissenschaft, die Medien und auch den amtlichen Sprachgebrauch gefunden hat, ist bemerkenswert. Die Ursache kann wohl nur darin gesehen werden, daß sich in allen diesen Bereichen zwischenzeitlich die Schüler der Achtundsechziger in den maßgeblichen Positionen befinden. Für die Achtundsechziger war es ja ausgemacht, daß die Deutschen als „Tätervolk“ zu betrachten seien, die während des Zweiten Weltkrieges nicht nur ungeheure Verbrechen begangen, sondern schon diesen Krieg in verbrecherischer Absicht vom Zaune gebrochen hatten. Dem mußte dann aber auch der Sprachgebrauch entsprechen. Deutschland hatte Polen und die Sowjetunion nicht lediglich einfach angegriffen, nein es hatte diese Länder überfallen, was natürlich kriminell war. Dieser Sprachgebrauch hat sich eingebürgert. Wenn vom Bundespräsidenten angefangen über die Medien und die Schulen nur von einem „Überfall“ die Rede ist, dann ist kaum zu erwarten, daß noch irgendjemand diese Vorgänge genauer unter die Lupe nimmt und feststellt, daß von einem Überfall bei Lichte besehen nicht die Rede sein kann. Das würde jedoch den Intentionen der Lehrmeister unserer Politiker, Journalisten und Professoren zuwiderlaufen. Ihnen hat es nicht genügt, die Väter ihrer Studenten als Mörder zu bezeichnen. Nein, so richtig teuflisch wird der Mörder erst dann, wenn er sein Opfer auch noch gequält und mißhandelt hat, bevor er es getötet hat. Wer solche Vorfahren hat, der muß eben mit einer genetischen Minderwertigkeit leben. Ein solches Volk wird gesenkten Hauptes über diese Erde wandeln und niemandem jemals wieder gefährlich werden. Hier vereinigen sich die Träume der linken Pazifisten wie der Großmachtpolitiker, die kein Interesse daran haben können, daß ihren Ländern ein Rivale in Europa entstehen könnte.