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Selig träumte die kleine Cathy vom gestohlenen Märchenprinzen

So müßte die Überschrift des dpa-Artikels lauten, der zur Zeit den Tageszeitungen in Deutschland angeboten wird. Nachzulesen z.B. in der Nürnberger Zeitung vom 17.12.2016.

Und die Geschichte geht so: Als Cathy Hinz ein Kind war, war der Wandteppich in ihrem Elternhaus im US-amerikanischen Minneapolis wie ein Bilderbuch voller Geheimnisse und Märchen. Im Traum war sie die Prinzessin im blauen Kleid. Neben ihr kniend ihr Märchenprinz. Ihr Vater hatte das Stück mit der Szene einer höfischen Gesellschaft 1945 mit nach Hause gebracht – als Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in dem er als Offizier mithalf, Deutschland von den Nazis zu befreien. Soweit die Geschichte, wie sie die kleine Cathy damals erlebte.

Die Rede ist von der Rückgabe eines Wandteppichs, den jener amerikanischer Offizier Anfang Mai 1945 aus dem Kehlsteinhaus bei Berchtesgaden „mitgehen“ ließ, nachdem sein Truppenteil den Obersalzberg eingenommen hatte. Seiner kleinen Tochter hat er erzählt, damals einen seiner Soldaten gebeten zu haben, für ihn ein kleines Erinnerungsstück zu finden. Er habe an einen Löffel oder eine Tasse gedacht, aber es sei dann ein Teppich gewesen. Diese Tapisserie wurde um 1500 in Flandern aus Wolle gewirkt, und zeigt einen Flötenspieler, einen knienden Mann und zwei Frauen in prächtigen Kleidern, vielleicht mit Noten in den Händen. Weiterhin Männer bei der Jagd. Erst ab der Zeit um das Jahr 1900 ist seine Geschichte bekannt. Der Münchner Malerfürst Franz von Lenbach erwarb ihn in der Kunst- und Antiquitätenhandlung Bernheimer und schmückte damit seine berühmte Künstlervilla. 1931 kaufte die Firma die Tapisserie zurück, außerdem wurde das Werk in das Verzeichnis national wertvoller Kulturgüter aufgenommen. Am 21. September 1938 kam ein Kunde und wollte den Wandteppich haben. 24.000 Reichsmark blätterte der Architekt Heinrich Michaelis dafür hin. Nach Auffassung des Beauftragten für Provenienzforschung in Bayern war das ein stolzer Preis.

Also handelte es sich hier nicht um einen jener häufigen Fälle, in denen jüdische Kunsthändler unter Druck weit unter Preis verkaufen mußten. Diese Kunstwerke werden heute unter dem Begriff der Raubkunst geführt. Im Falle des Wandteppichs aus dem Kehlsteinhaus war das eben nicht der Fall. Auch der Enkel des Kunsthändlers Bernheimer erhebt deswegen keine Ansprüche auf diesen Wandteppich. Michaelis kaufte damals im Auftrage der Reichskanzlei Kunstwerke ein, die Hitler am 20. April 1939 zu seinem 50. Geburtstag geschenkt wurden. Auch das Kehlsteinhaus selbst erhielt der Diktator von der Partei zum Geschenk. Auch wenn die Geschichte des Erwerbs der Liegenschaft Obersalzberg eine solche von Erpressung und Raub ist: der Wandteppich, um den es hier geht, gehört nicht in diese Geschichte, jedenfalls was die rechtliche Beurteilung angeht.

Am 4. April 1945 nahmen die amerikanischen Streitkräfte auch das Obersalzberggelände ein. Wie üblich, plünderten die Soldaten. Man muß von plündern sprechen, denn es wurde nicht etwa beschlagnahmt und registriert, wie das der Fall gewesen wäre, wenn man von Amts wegen Vermögen des besiegten Feindes sichergestellt hätte. Nein, es war damals auch bei den amerikanischen Streitkräften gang und gäbe, daß sich die Soldaten privat am Eigentum der gefangenen deutschen Soldaten wie auch der Zivilbevölkerung vergriffen. Heute ist in Deutschland zwar immer noch das Bild vom Soldaten der Roten Armee in den Köpfen, dessen Unterarme links und rechts mit gestohlenen Armbanduhren umschlossen sind. Doch genau dieses Bild boten nach tausenden von Zeitzeugenberichten auch die Soldaten der US-Armee. Nun war natürlich auch nach amerikanischem Recht der Diebstahl strafbar. Diebstahl am Eigentum der besiegten Nazis – nach der amerikanischen Propaganda waren ja alle deutschen Nazis – wurde offensichtlich mindestens geduldet.

In diesem Zusammenhang ist es durchaus von Interesse, wie das auf der anderen Seite gesehen und gehandhabt wurde. Im Soldbuch – das entspricht heute dem Truppenausweis – eines jeden deutschen Soldaten waren die sogenannten Zehn Gebote des deutschen Soldaten eingeklebt. Diese enthielten kurz und prägnant Verhaltensanweisungen, auch bezüglich des Umganges mit der Zivilbevölkerung in besetzten Ländern und mit den gefangen genommenen feindlichen Soldaten. Klipp und klar regelten die Ziffern 4 und 7 dieser zehn Gebote, daß auf keinen Fall geplündert werden, und auch das Privateigentum der gefangenen feindlichen Soldaten nicht angerührt werden dürfe. Dem entsprach § 129 des damals geltenden Militärstrafgesetzbuches. Daran hielten sich die deutschen Soldaten auch in aller Regel, sei es aus Anstand, sei es aus Furcht vor Strafe. Denn die Truppe ahndete das Delikt der Plünderung grundsätzlich. Die angedrohten Strafen waren auch von abschreckender Härte. Grundsätzlich stand auf Plünderung Gefängnis oder Festungshaft, wobei eine Obergrenze nicht vorgesehen war. In besonders schweren Fällen hatte das Kriegsgericht auf Todesstrafe oder auf lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus zu erkennen. Gerade gegen Ende des Krieges hat man, wohl nicht zuletzt zur Aufrechterhaltung der Disziplin, dieses Gesetz in aller Strenge angewandt. Generalfeldmarschall Kesselring ließ im Verlaufe des Krieges in Italien mehrfach Todesurteile wegen Plünderung vollstrecken.

Bemerkenswert an dem dpa Artikel ist, daß der rechtliche Aspekt völlig ausgeblendet wird. Der unbefangene Leser unserer Tage, der weder die Geschichte des Zweiten Weltkrieges auch nur annähernd vollständig kennt, noch über das Recht im Kriege informiert ist, muß annehmen, daß es völlig normal gewesen ist, wenn alliierte Soldaten „Souvenirs“ aller Art mit nach Hause brachten. Und wenn die dann auch noch den „Nazis“ weggenommen worden waren, dann war das wohl völlig in Ordnung. Angesichts der Berichte über die Kriege und Bürgerkriege unserer Tage müssen die Leute ja ohnehin davon ausgehen, daß es im Kriege kein Recht gibt, und sich Soldaten oder auch irreguläre Kämpfer dann alles erlauben können. Gerade die Vorstellung, daß ein amerikanischer Soldat sich mit gutem Recht von den Deutschen nehmen konnte, was ihm gefiel, paßt so recht in das Geschichtsverständnis unserer Tage. Danach war der Zweite Weltkrieg eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. Wer die Guten, und wer die Bösen waren, ist ja klar. Und die Bösen müssen natürlich einsehen, daß alles, was ihnen widerfahren ist, letztendlich von ihnen selbst verursacht und damit auch verschuldet worden ist. Die Deutschen in ihrer Mehrheit sollen glauben und tun es auch, daß ihren Vorfahren nur die gerechte Strafe zuteil geworden ist, als man ihre Häuser geplündert, ihre Städte in Schutt und Asche gelegt und die Frauen und Mädchen ihres Volkes massenhaft vergewaltigt hat. Deswegen kommt ja heute auch kein Bericht über die Bombardierung von Dresden oder Nürnberg ohne den Hinweis auf die alles erklärende, ja rechtfertigende deutsche Schuld am Kriege aus.

Historiker und vor allem Juristen sollten sich damit nicht zufrieden geben. Abgesehen davon, daß es in keinem Kriege nur ausschließlich Gute und nur ausschließlich Böse gibt, und daß selbstverständlich immer auf beiden Seiten Kriegsverbrechen einerseits und menschliche Größe andererseits zu finden sind, sollte die Herrschaft des Rechts als die größte Errungenschaft der Zivilisation unangefochten die Beurteilung auch kriegerischer Ereignisse prägen. Und wenn dies generell gilt, dann natürlich auch speziell für die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Jeder Student der Rechte lernt, daß der Dieb bestohlen und der Mörder ermordet werden kann. Und so legten die Librettisten von Beethovens Fidelio, uraufgeführt am 20.11.1805, dem Gefängnisdirektor Pizzarro, der sich anschickte, den Florestan aus Rache zu ermorden, die berühmten Worte in den Mund: „Nun ist es mir geworden, den Mörder selbst zu morden!“ Ob bewußt oder unbewußt, juristisch beraten oder mit dem natürlichen Sinn für das Rechte oder Unrechte: Nicht des Reimes wegen, sondern aus dem natürlichen, unhinterfragbaren Bewußtsein, daß über Leben und Tod kein Mensch einfach entscheiden kann, es sei denn, man habe ihn zum Richter über Leben und Tod bestellt, wurden diese Zeilen geschrieben.

Aus Cathy ist nun eine würdige ältere Dame geworden. Sie hat bekundet, froh darüber zu sein, daß der Wandteppich nun in guten Händen ist. Als liebende Tochter ihres Vaters meint sie auch, er habe sich verpflichtet gefühlt, auf die wertvolle Tapisserie aufzupassen. Sie wisse, er wäre sehr stolz auf sie gewesen, wenn er es noch hätte erleben können, daß der Wandteppich seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben wird. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass Cathy Hinz das nicht auch so meint. Wir haben allerdings allen Grund anzunehmen, daß beim Verfassen des besprochenen dpa Artikels die Geschichtsauffassung, die unter maßgeblicher Anleitung US-amerikanischer Offiziere und Beamter („reeducation“) das Geschichtsverständnis der deutschen Nachkriegsgenerationen geprägt hat, einer historisch und juristisch zutreffenden Darstellung unüberwindbar im Wege stand. Doch auch für die Geschichte gilt Schopenhauers Feststellung: „Die Wahrheit kann warten, denn sie hat ein langes Leben vor sich.“ Gut möglich, daß die Geschichte von Cathy und dem Märchenprinzen auf dem flandrischen Wandteppich aus der Zeit um 1500 n. Chr. in 100 Jahren ganz anders erzählt werden wird.

Der Überfall

„Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion.“ Mit diesen Worten begann Bundespräsident Joachim Gauck seine Ansprache zu diesem Jahrestag. Auch das Auswärtige Amt sprach in seiner Stellungnahme vom 22.6.2016 vom 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. Der amtliche Sprachgebrauch verwendet die Vokabel „Überfall“ auch für den Angriff des Deutschen Reiches auf Polen am 1. September 1939, zum Beispiel anläßlich der offiziellen Gedenkfeier zusammen mit höchstrangigen Vertretern der Republik Polen. Dem schließen sich die gedruckten wie die gesendeten Medien durchgehend an. So findet sich in der Tageszeitung Die Welt vom 01.09.2014 ein längerer Artikel mit der Überschrift: „Der deutsche Überfall auf Polen 1939.“

Es fällt auf, daß dieser amtliche Sprachgebrauch sich offenbar erst in den letzten drei Jahrzehnten eingebürgert hat. Von einem Überfall als Bezeichnung für die Feldzüge gegen Polen und die Sowjetunion war insbesondere in der Nachkriegszeit nicht die Rede. Selbst das Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg verwendet diesen Begriff für diese Feldzüge nicht, sondern spricht von Angriffskriegen. Der Angriffskrieg war zwar bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein für alle Staaten, insbesondere auch diejenigen, die in Nürnberg über die Repräsentanten des besiegten Deutschen Reiches zu Gericht saßen, ein durchaus übliches Mittel der Außenpolitik – besser gesagt: Machtpolitik. Daran änderten auch die internationalen Bemühungen zur Ächtung des Angriffskrieges nichts, die in dem bekannten Briand-Kellogg-Pakt von 1928 mündeten, wonach sich die Unterzeichnerstaaten verpflichteten, auf den Angriffskrieg als Mittel der Politik zu verzichten. Obgleich dieser Pakt ebenso wenig wie andere völkerrechtliche Verträge in den Jahrzehnten zuvor den Verstoß gegen diese Verpflichtung mit Strafe bedrohte, erklärten die Alliierten im Londoner Protokoll vom 8. August 1945 die Planung und Führung eines Angriffskrieges nachträglich auch zur Straftat. Folgerichtig wurden die führenden Vertreter des Deutschen Reiches, deren man noch lebend habhaft geworden war, auf der Grundlage dieses tatsächlich neuen, aus der Sicht der Alliierten und des von ihnen begründeten Gerichtshofs jedoch schon immer existierenden Straftatbestandes verurteilt. Es ist hier nicht der Platz, dazu weitere Ausführungen zu machen, ebenso wenig dazu, daß dies bis heute einmalig geblieben ist. Ob jemals ein Staatsmann oder Offizier wegen Planung oder Führung eines Angriffskrieges verurteilt werden wird, darf nach Sachlage füglich bezweifelt werden. Die großen Nationen dieser Erde haben die einschlägigen Artikel des Römischen Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof vom 01.07.1998 nicht einmal ratifiziert.

Auch die unübersehbare Literatur zum Zweiten Weltkrieg kannte jahrzehntelang den Begriff des Überfalls für diese Operationen nicht. So schildert zum Beispiel Raymond Cartier in seinem bekannten Standardwerk über den Zweiten Weltkrieg, das in den sechziger/siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehr verbreitet war, die jeweiligen diplomatischen Verhandlungen und militärischen Operationen, ohne dabei Wertungen wie etwa „Überfall“ vorzunehmen. Auch der Große Brockhaus aus dem Jahr 1957 schildert recht minutiös die verschiedenen militärischen Operationen und diplomatischen Verhandlungen, vermeidet aber den Begriff des Überfalls.

Gegenstand dieser Untersuchung ist die Frage, ob es tatsächlich richtig ist, für die beiden Angriffskriege gegen Polen und die Sowjetunion den Begriff des Überfalls zu verwenden, und weiter, warum dies heute der amtliche Sprachgebrauch ist, in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen nicht.

Zunächst einmal ist zu definieren, was unter einem Überfall zu verstehen ist. Der Duden definiert ihn als plötzlichen, unvermuteten Angriff, bei dem jemand überfallen wird. Wenn es um sprachliche Präzision geht, ist eine juristische Definition stets hilfreich. Deswegen blicken wir in das Strafgesetzbuch und finden dort § 224 – gefährliche Körperverletzung –, wobei einer der dort geregelten Tatbestände die Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls ist. Nach der gängigen Definition des Reichsgerichts, der sich der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, ist Überfall ein Angriff auf den Verletzten, dessen er sich nicht versieht und auf den er sich nicht vorbereiten kann. Das liegt genauso wie das Tatbestandsmerkmal der Heimtücke im Mordparagraphen 211. Danach handelt heimtückisch, wer eine zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tat ausnutzt. Der Begriff des Überfalls trägt sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als nach den einschlägigen Definitionen im Strafgesetzbuch ein Unwerturteil in sich, das unmittelbar aus den Tatumständen folgt. Wir wollen nachstehend untersuchen, ob die Ereignisse vom 1. September 1939 und vom 22. Juni 1941 diese Beurteilung auch rechtfertigen.

Am 01.09.1939 war Polen hinsichtlich eines bevorstehenden deutschen Angriffs keinesfalls arglos, noch weniger wehrlos. Vielmehr waren die polnischen Streitkräfte seit Wochen alarmiert und an den Grenzen aufmarschiert. Der Vormarsch von rund 37 Divisionen in der Nacht vom 25./26.8.1939 gegen die Grenze konnte ebenso wenig unbemerkt geblieben sein wie die Eisenbahntransporte, die ab 25. August, 20:00 Uhr, mit Höchstleistung liefen. Den rund 1,5 Millionen Soldaten der Wehrmacht standen 1,3 Millionen polnische Soldaten gegenüber. Ihre Dislozierung war allerdings für die Verteidigung gegen einen erwarteten Angriff nicht optimal, allerdings auch dafür geeignet, selbst nach Westen anzugreifen. Derartige Bestrebungen gab es seinerzeit in Polen durchaus, so merkwürdig dies heute auch erscheinen mag. Dafür gibt es auch nicht hinwegzudiskutierende Belege wie etwa die Äußerung des polnischen Botschafters in Paris vom 10. August 1939, der Hitlers Ausspruch, er werde Polen mit seinen motorisierten Verbänden in drei Wochen erobern mit der Bemerkung quittierte: „Albern! Wir werden von Kriegsbeginn an Deutschland besetzen.“

Auch die Lage an der aufgrund des Hitler-Stalin Paktes vom 23. August 1939 in Polen gezogenen Grenze zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Machtbereich zeigt deutlich, daß von einem Überfall im Wortsinne keine Rede sein konnte. Auf deutscher Seite waren ca. 3 Millionen Soldaten mit rund 3500 Kampfpanzern und Sturmgeschützen so wie gut 7000 Artilleriegeschützen und 2700 Frontflugzeugen aufmarschiert. Demgegenüber hatte die Rote Armee in den fünf westlichen Militärbezirken ca. 5,4 Millionen Soldaten aufmarschieren lassen, denen ca. 10500 Kampfpanzer, etwa 34.700 Artilleriegeschütze und rund 8500 Frontflugzeuge zur Verfügung standen, die Reserven in der Tiefe des Raumes nicht mitgerechnet. Tatsächlich waren diese Armeen auch zum Angriff gegliedert. Für jeden militärischen Fachmann ist dies völlig klar. So gab es keinerlei Minensperren vor den Spitzen der Roten Armee. Eine Truppe, die sich zur Verteidigung einrichtet, schützt sich jedoch mit möglichst umfangreichen und tief gestaffelten Sperren, jedenfalls nach den damals allgemein geltenden Grundsätzen des Kriegshandwerks. Die Massierung von Kampfpanzern in vorderster Linie wie auch die Einrichtung von Feldflugplätzen in Grenznähe, und somit im Einwirkungsbereich der deutschen Artillerie, lassen ebenfalls keinen Zweifel daran, daß die Rote Armee nicht zur Landesverteidigung, sondern zum Angriff nach Westen aufmarschiert war. Wer sich mit der Militärgeschichte dieser Zeit näher befaßt, wird um diese Erkenntnis nicht herumkommen. Ich selbst kenne noch einschlägige Berichte aus mündlicher Überlieferung. So hatte ich während meiner Ausbildung zum Reserveoffizier im Jahr 1968 einen Taktiklehrer, der als Offizier an diesem Feldzug teilgenommen hatte. Er berichtete uns, daß man in einen zum Angriff gegliederten Feind hineingestoßen sei. Dafür spricht ja auch der weitere Verlauf des Krieges. Denn die deutschen Truppen stießen zügig durch die feindlichen Armeen. Wäre indessen jene personell und vor allem an schweren Waffen und Luftwaffe weit überlegene Streitmacht zur Verteidigung eingerichtet gewesen, wäre das zwangsläufig fehlgeschlagen. Vielmehr hätte der Angriff nach allen seinerzeit geltenden militärischen Grundsätzen scheitern müssen. Natürlich mußten beide Seiten auch mit einem bevorstehenden Angriff des Feindes rechnen. Derart gewaltige Truppenaufmärsche konnten auch damals nicht unbemerkt bleiben. Letztendlich kam der deutsche Angriff einem Angriff des Feindes auch ganz offensichtlich nur um wenige Tage zuvor.

Daraus allerdings ableiten zu wollen, es habe sich um einen von Deutschland rechtzeitig begonnenen Präventivkrieg gehandelt, kann lediglich aus operativer Sicht zutreffen. In der Tat kam Deutschland einem bevorstehenden Angriff der Roten Armee zeitlich zuvor. In dieser Situation war es auch zweckmäßig, als erster zu schlagen, vor allem angesichts eines nicht zur Verteidigung eingerichteten, sondern zum Angriff angetretenen Feindes. Da man selbst zum Angriff aufmarschiert war, hätte man einem Angriff des Gegners ja auch nicht standhalten können. Das ist allerdings nur eine Beschreibung der Situation in den 2-3 Monaten vor dem Angriff. Die politischen Absichten beider Seiten waren jedoch schon seit langem dahingehend festgelegt, daß die jeweils andere Seite militärisch zu unterwerfen war. Aus der Sicht der Sowjetunion folgt das ohne weiteres aus dem Auftrag der Kommunisten, die Weltrevolution voranzutreiben. Für Lenin war der Sieg des Kommunismus in Deutschland ja ohnehin der Schlüssel zu Europa. Stalin wäre kein guter Kommunist gewesen, hätte er diese Absichten nicht vorangetrieben. Der Aufbau einer gewaltigen Streitmacht und deren Aufstellung zum Angriff belegen nichts anderes, als daß Stalin seinem in kommunistischer Diktion „Klassenauftrag“ nachgekommen war. Hitler indessen verfolgte von Anfang an das politische Ziel, für sein Volk Lebensraum im Osten zu gewinnen. Eine der vielen Äußerungen dazu findet sich auf Seite 742 in seinem programmatischen Buch „Mein Kampf“: „Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten… Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“ Hitler sah durchaus einen unüberbrückbaren Gegensatz in der Existenz der kommunistischen Sowjetunion einerseits und den von ihm definierten deutschen Interessen. Daß er diese auch militärisch durchzusetzen gedachte, hat er ja seinen Generälen vor Beginn des Polenfeldzuges schon ausführlich erläutert. Deren militärfachliche Bedenken wischte er bekanntlich zur Seite und befahl ihnen, diese Operationen zu planen und durchzuführen. Als Soldaten hatten sie ja zu gehorchen.

Wir kommen zum Ergebnis, daß weder nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, noch gar in rechtlicher Hinsicht von einem „Überfall“ gesprochen werden kann, wenn es um die Feldzüge gegen Polen bzw. die Sowjetunion geht. Zutreffend ist allein der Begriff des Angriffs. Er beschreibt den Sachverhalt, enthält aber keine Wertung, weder in moralischer noch in rechtlicher Hinsicht. Daß der Begriff des Überfalls Eingang sowohl in die Geschichtswissenschaft, die Medien und auch den amtlichen Sprachgebrauch gefunden hat, ist bemerkenswert. Die Ursache kann wohl nur darin gesehen werden, daß sich in allen diesen Bereichen zwischenzeitlich die Schüler der Achtundsechziger in den maßgeblichen Positionen befinden. Für die Achtundsechziger war es ja ausgemacht, daß die Deutschen als „Tätervolk“ zu betrachten seien, die während des Zweiten Weltkrieges nicht nur ungeheure Verbrechen begangen, sondern schon diesen Krieg in verbrecherischer Absicht vom Zaune gebrochen hatten. Dem mußte dann aber auch der Sprachgebrauch entsprechen. Deutschland hatte Polen und die Sowjetunion nicht lediglich einfach angegriffen, nein es hatte diese Länder überfallen, was natürlich kriminell war. Dieser Sprachgebrauch hat sich eingebürgert. Wenn vom Bundespräsidenten angefangen über die Medien und die Schulen nur von einem „Überfall“ die Rede ist, dann ist kaum zu erwarten, daß noch irgendjemand diese Vorgänge genauer unter die Lupe nimmt und feststellt, daß von einem Überfall bei Lichte besehen nicht die Rede sein kann. Das würde jedoch den Intentionen der Lehrmeister unserer Politiker, Journalisten und Professoren zuwiderlaufen. Ihnen hat es nicht genügt, die Väter ihrer Studenten als Mörder zu bezeichnen. Nein, so richtig teuflisch wird der Mörder erst dann, wenn er sein Opfer auch noch gequält und mißhandelt hat, bevor er es getötet hat. Wer solche Vorfahren hat, der muß eben mit einer genetischen Minderwertigkeit leben. Ein solches Volk wird gesenkten Hauptes über diese Erde wandeln und niemandem jemals wieder gefährlich werden. Hier vereinigen sich die Träume der linken Pazifisten wie der Großmachtpolitiker, die kein Interesse daran haben können, daß ihren Ländern ein Rivale in Europa entstehen könnte.

Auch der Tarnanstrich blättert ab

Politik und Medien haben im vergangenen Jahr mit verschiedenen Veranstaltungen daran erinnert, daß vor 70 Jahren in Nürnberg der Prozeß gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher begonnen hat. Die Schaffung des diesem Verfahren zugrunde liegenden Londoner Statuts vom 8.8.1945 wurde einhellig als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts gefeiert. Soweit ersichtlich, war die Rechtswissenschaft hier etwas zurückhaltender. Mit gutem Grund.

Wir erinnern uns. Bis zu jenem Londoner Statut gab es überhaupt noch kein Völkerstrafrecht. Zwar gab es eine Reihe von völkerrechtlichen Verträgen, die gewisse Regeln für kriegerische Auseinandersetzungen statuierten. Es gab sogar ein internationales Abkommen, in dem die beteiligten Staaten feierlich auf das Recht verzichteten, ihre außenpolitischen Absichten mit Gewalt durchzusetzen. In diesem allgemein als Briand-Kellogg Pakt bekannten Vertragswerk findet sich jedoch keine Regelung über etwaige strafrechtliche Folgen der Verletzung dieses Vertrages. Erst das erwähnte Londoner Statut vom 8.8.1945 legte fest, daß die Planung und Führung eines Angriffskriegs strafrechtlich verfolgt werden kann. Künftig sollten Staatsmänner und Militärs hierfür persönlich zur Verantwortung gezogen werden können. Allerdings hatte dieses Statut den juristischen Kardinalfehler, daß es sich rückwirkende Geltung beilegte. Nur mit diesem juristischen Kunstgriff, manche sagen auch: Taschenspielertrick, war es überhaupt möglich, die führenden Politiker und Militärs des soeben niedergeworfenen Deutschland vor Gericht zu stellen. Das aber war unbedingt notwendig, um ein Justizdrama auf die Bühne bringen zu können, in dem publikumswirksam die Eliten des besiegten Staates – teils in der Sache durchaus zu Recht – als kriminelle Scheusale vorgeführt und abgeurteilt werden konnten. Der offensichtlich erwünschte Effekt der ganzen Veranstaltung war natürlich, Deutschland für sehr lange Zeit gewissermaßen an den Katzentisch der Weltgeschichte zu setzen. Nicht nur die Verteidiger der damaligen Angeklagten, darunter anerkannte Experten des Völkerrechts, sondern auch Rechtswissenschaftler, Philosophen und hochrangige Geistliche aus aller Welt übten denn auch Kritik an diesem Verfahren, dessen Grundlage eben gegen den universalen Rechtssatz verstieß, daß niemand für eine Tat bestraft werden darf, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung noch nicht gesetzlich mit Strafe bedroht war.

Daher ist es nicht überraschend, daß nach Beendigung der Nürnberger Prozesse das Völkerstrafrecht in einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf gefallen ist, auch wenn kurz danach die Verein Nationen das Londoner Statut und die darauf basierenden Verfahren als „Nürnberger Prinzipien“ herausstellten. Es folgte kein einziges weiteres Verfahren dieser oder ähnlicher Art. Das kann auch nicht weiter verwundern, denn das Londoner Statut richtete sich ausschließlich gegen die im Zweiten Weltkrieg unterlegenen Staaten. Mit Friedrich Schiller war festzustellen: der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.

Erst mit Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden erneut Verfahren gegen Staatsmänner geführt, die sich in ähnlicher Weise wie die Staatsführer Deutschlands und Japans wegen Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten. Wegen Planung und Führung eines Angriffskrieges wurden allerdings weder der serbische Präsident Milosevic noch einer der verschiedenen afrikanischen Potentaten angeklagt und verurteilt. Die Zeit schien auch dafür reif, nun endlich ein Völkerstrafrecht zu schaffen, das auch eine wirkliche Rechtsgrundlage für die strafrechtliche Verfolgung von Kriegstreibern und Kriegsverbrechern darstellte. Im Jahr 1998 war es dann soweit. Die meisten in den Vereinten Nationen organisierten Staaten beschlossen das Römische Statut über die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs. Es trat dann 2002 in Kraft, wurde allerdings von einer ganzen Reihe von Staaten nicht ratifiziert, darunter die USA, Russland, China und Israel. Der Tatbestand der Planung und Führung eines Angriffskrieges, der bereits in diesem Statut enthalten war, stand unter dem Vorbehalt, daß eine allgemein anerkannte Definition dafür erst noch gefunden und beschlossen werden müsse. Das geschah dann 2010 in Kampala. Diesen Vertrag haben bisher allerdings nur drei Staaten (Andorra, die Slowakei und Deutschland) ratifiziert. In Kraft treten kann er erst am 1.1.2017. Die weiteren Kautelen für die Einleitung eines Strafverfahrens wegen dieses Tatbestandes sind vielfältig und dergestalt, daß man annehmen muß, ein derartiges Strafverfahren werde es wohl niemals geben.

Damit scheint das Völkerstrafrecht auch seinen Gipfel erreicht zu haben. Von dort aus kann es ja auch nur noch wieder abwärts gehen. Und so ist es auch. Derzeit gibt es in einigen afrikanischen Ländern, darunter Südafrika und Namibia, aber auch Kenia, ernsthafte Überlegungen, aus dem Vertrag von Rom über den Internationalen Strafgerichtshof wieder auszusteigen. Damit kündigt sich eine Entwicklung an, an deren Ende wohl die praktische Bedeutungslosigkeit dieses Internationalen Strafgerichtshofs stehen wird. Das Völkerstrafrecht wird dann endgültig an der politischen Wirklichkeit gescheitert sein. Ob die Juristen künftiger Generationen das Londoner Statut vom 8.8.1945 und die auf dieser Grundlage durchgeführten Prozesse gegen die Führer Deutschlands und Japans dann noch als Sternstunden des Völkerrechts betrachten werden, muß doch wohl füglich bezweifelt werden.

Doch für Gedenkveranstaltungen 100 Jahre danach im Jahre 2045 wird natürlich der Maßstab der Pietät gelten. De mortuis nihil nisi bene.

Frau komm – Als die Soldaten kamen

Die massenhaften Vergewaltigungen in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges, aber auch bis in die fünfziger Jahre hinein, sind sehr lange ein Tabuthema in Deutschland geblieben. Dies, obgleich schon 1954 in einer offiziellen Dokumentation der Bundesregierung zur Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa auch dieses Thema ausführlich behandelt worden ist. Allerdings beschränkt sich diese Dokumentation auf die Geschehnisse im Osten. Die Untaten alliierter Soldaten im Westen und Süden Deutschlands werden darin nicht behandelt, was ja auch der Aufgabenstellung entspricht. Der Grund für diese bewußte Aussparung liegt auf der Hand: Das Verhältnis der bundesdeutschen Bevölkerung zu den neuen Alliierten sollte nicht durch die Darstellung von ihren Soldaten wenige Jahre zuvor massenhaft begangener Verbrechen belastet werden. Hinsichtlich der Staaten des Warschauer Pakts, insbesondere der Sowjetunion, galt natürlich das Gegenteil. Die Erinnerung daran, wie ihre Soldaten marodierend und vergewaltigend durch die östlichen Landesteile und Berlin gezogen waren, sollte durchaus wach gehalten werden. Wie ich aus eigener Erinnerung weiß, hatte das jedenfalls in den Jahren des Kalten Krieges auch einen positiven Einfluß auf die Motivation der wehrpflichtigen Soldaten und die Einstellung der Deutschen zu NATO und Bundeswehr.

Dennoch verblaßte im Lauf der Jahre auch die kollektive Erinnerung an diese Vorgänge im Osten. Erst in den letzten Jahren ist das Thema publizistisch und wissenschaftlich wieder in den Focus gerückt. Erstmals wurden nun auch die im Grunde genommen durchaus bekannten Verbrechen amerikanischer, britischer und französischer Soldaten zum Thema von Büchern und Zeitschriftenartikeln gemacht. Zwei dieser Arbeiten habe ich gelesen. Trotz des gleichen Themas könnten sie jedoch inhaltlich nicht unterschiedlicher sein. Es handelt sich zum einen um das Buch „Frau, komm!“ – Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 des Juristen Ingo von Münch (Ares Verlag, Graz 2009 ISBN 978-3-902475-78-7) und zum anderen um das Buch „Als die Soldaten kamen – die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs“ der Historikerin Miriam Gebhardt (Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2015 ISBN 978-3-421-04633-8). Ingo von Münch beschränkt sich thematisch auf die Vorgänge im Osten, während Miriam Gebhardt auch die Ereignisse im Westen und Süden Deutschlands behandelt.

Die Arbeit der Historikerin Gebhardt ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Daß sie hauptsächlich soziologisch angelegt ist, und nicht in erster Linie Ereignisgeschichte schreibt – „wie es denn gewesen ist“ (Leopold von Ranke, Thukydides) – ist der heute vorherrschenden Auffassung von Geschichtswissenschaft geschuldet. Nicht umsonst firmiert das wohl meistgenutzte Internetportal dieser Disziplin unter dem Titel „H-Soz-Kult“, einem Akronym für „Humanities – Sozial und Kulturgeschichte“. Die Forschungsschwerpunkte der Autorin spiegeln sich auch in den Titeln ihrer Werke wieder, die sie im Literaturverzeichnis des besprochenen Buches nennt (“ Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert“, „Alice im Niemandsland. Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor“, und „Eine Frage des Schweigens? Forschungsthesen zur Vergewaltigung deutscher Frauen nach Kriegsende“). Welche Fragen die moderne historische Forschung offenbar bewegen, zeigt sich auch an Titeln in ihrem Literaturverzeichnis wie „Umkämpfte Maskulinität. Zur Historischen Kultursoziologie männlicher Subjektformen und ihrer Affektivitäten vom Zeitalter der Empfindsamkeit bis zur Postmoderne“. Ob es allerdings dieser Herangehensweise geschuldet ist, daß ihre Angaben zu den Opferzahlen insbesondere hinsichtlich der Vorgänge im Osten im Vergleich zu anderen Autoren außerordentlich niedrig ausfallen und auch zum Teil schlicht nicht nachvollziehbar sind, mag zunächst offen bleiben. Daß Opferzahlen nur grob geschätzt werden können, liegt auf der Hand und ist auch unstrittig. Gebhardt selbst erklärt, daß ihre Schätzungen sehr vorsichtig sind. Sie gibt die Gesamtzahl der von alliierten Soldaten vergewaltigten Frauen in Deutschland mit 860.000 an. Ihre auf der Basis der ebenfalls nur geschätzten Zahl der sogenannten Besatzungskinder hochgerechneten Opferzahlen legten dann nahe, daß annähernd 190.000 in der Bundesrepublik lebende Frauen amerikanischen Tätern zum Opfer gefallen seien, 50.000 Frauen französischen Tätern, 45.000 britischen, 15.000 sowjetischen und 10.000 belgischen. Gebhardt zitiert allerdings auch andere Schätzungen, so von Helke Sander und Gerhard Reichling, wonach die Zahl der Vergewaltigungen auf rund 110.000 Fälle allein in Berlin und weitere 1,9 Millionen Fälle in der SBZ, in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und während Flucht und Vertreibung geschätzt würden. Somit wären 2 Millionen deutsche Frauen einer kriegsbedingten Vergewaltigung durch Sowjets zum Opfer gefallen. Ingo von Münch gibt Schätzungen verschiedener Autoren wieder, die von 1.400.000-2.000.000 Opfern ausgehen. Aber nicht nur die im Vergleich zu anderen Untersuchungen auffallend niedrige Gesamtzahl von 860.000 Opfern fällt auf, sondern auch die in sich nicht stimmige Verteilung auf die Tätergruppen. Denn die Addition der genannten Zuordnungszahlen ergibt nun einmal 310.000 und nicht 860.000. Falls die Angaben zu den Tätern aus den westalliierten Armeen zutreffen sollten, dann müßten nicht 15.000, sondern 565.000 Frauen den Übergriffen der sowjetischen Soldaten zum Opfer gefallen sein.

Im Schwerpunkt befaßt sich die Verfasserin mit den Motiven der Täter einerseits und den Auswirkungen ihrer Taten auf die Opfer andererseits. Die Motive der Täter sucht sie offenbar vorwiegend in den Kriegserlebnissen der Soldaten, ihrer Wahrnehmung des Feindes, und zwar nicht nur des feindlichen Soldaten, sondern des feindlichen Volkes überhaupt, so wie in kulturellen und psychischen Ursachen wie dem Verhältnis der Geschlechter, gruppendynamischen Prozessen und ähnlichem mehr. Erwähnt wird auch die Propaganda, gerade auf sowjetischer Seite. Auch wenn sie ausführt, das „berühmte“ Flugblatt, in dem der Schriftsteller Ilja Ehrenburg zur massenhaften Vergewaltigung und Schändung deutscher Frauen aufruft, werde ihm nur zugeschrieben, so macht es doch wohl keinen Unterschied, ob es von ihm oder einer unbekannten Person verfasst worden ist. Nachweislich wurde es in der Roten Armee verbreitet. Und sein Text ist an Unmenschlichkeit nicht zu überbieten: „Tötet. Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht. Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen! Nehmt sie als rechtmäßige Beute! Tötet, ihr tapferen Soldaten der siegreichen sowjetischen Armee!“

Damit ist aber auch klar, warum die Rote Armee wenn überhaupt, nur sehr selten gegen Vergewaltigungen eingeschritten ist. Auch wenn sogar in Einzelfällen Soldaten wegen solcher Taten zum Tode verurteilt und hingerichtet worden sind, so haben es die Kommandeure und Befehlshaber mindestens geduldet, daß ihre Soldaten sich so verhalten haben. Anders wäre es ja auch nicht möglich gewesen, daß dies in so ungeheurem Ausmaß geschehen konnte.

Der Verdienst der Arbeit liegt sicher darin, daß die ebenfalls objektiv sehr große Zahl von Vergewaltigungen durch amerikanische, britische und französische sowie auch belgische Soldaten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wird. Auch hier fällt auf, daß die Offiziere nur sehr selten gegen diese Täter eingeschritten sind. Natürlich sind auch Strafverfahren vor Kriegsgerichten durchgeführt worden, insbesondere in der US-Armee. Deren Zahl ist zwar nicht exakt belegt, und kann deswegen auch nur vorsichtig geschätzt werden. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Taten ist sie verschwindend gering. Auch dies mag daran liegen, daß auch den Soldaten der westlichen Alliierten die Frauen des besiegten Feindes und sogar der befreiten europäischen Länder (Frankreich, Italien) gewissermaßen als Beute versprochen wurden. Traurige Berühmtheit haben die Massenvergewaltigungen durch nordafrikanische Soldaten der französischen Armee in Italien erlangt. Der Kommandierende General des französischen Expeditionskorps hatte seine Soldaten für den verlustreichen Durchbruch durch die deutsche Gustav-Linie bei Monte Cassino motiviert, indem er ihnen erklärte, die Frauen in den Dörfern jenseits der Front gehörten für die nächsten drei Tage ihnen. Gebhardt schreibt: „Wie wir mittlerweile wissen, war die Kriegsprämie in Gestalt einer europäischen Frau durchaus ein Rekrutierungsargument der US Armee gewesen.“ Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, daß die Armeeführungen weder disziplinarisch noch kriegsgerichtlich in nennenswertem Umfang gegen diese Täter eingeschritten sind. Inwieweit auch die diffamierende Kriegspropaganda gegen die Deutschen an sich und nicht lediglich gegen die Nationalsozialisten hier mitgespielt hat, untersucht die Verfasserin leider nicht.

Was an dem Buch von Miriam Gebhardt jedoch besonders ins Auge fällt, ist ihr Erklärungsmuster, wonach die Opfer dieser Untaten gewissermaßen objektiv durch ihre Unterstützung des Nazi-Regimes eine Ursache für ihr späteres Schicksal gesetzt hätten. So findet sich gleich im Vorwort der an sich unglaubliche Satz: „Vielmehr sollen die Opfer selbst zu Wort kommen, sie sollen rehabilitiert werden, ohne daß sie damit zugleich von den deutschen Verbrechen im Nationalsozialismus freigesprochen sind. Es erscheint mir wichtig, diese Ambiguität der Täter-und Opferrolle anzuerkennen.“ Mit diesem Ansatz steht sie offenbar nicht alleine. Sie weist darauf hin, daß es sich eingebürgert habe, daß die wenigen „Historikerinnen und Historiker“, die das Thema Massenvergewaltigungen an deutschen Frauen überhaupt beschäftigt, ihren Ausführungen lange Exkurse über die Verbrechen der Wehrmacht, die Wehrmachtbordelle und die Zwangsprostitution in Konzentrationslagern voranstellen. Erst wenn von den eigenen Untaten ausführlich gesprochen worden sei, dürfe von den eigenen Opfern die Rede sein. Diese Rhetorik sei verständlich und sympathisch, allerdings lege sie ihres Erachtens eine problematische Kausalität nahe – weil die Deutschen so unendlich gewütet haben, wurden die deutschen Frauen anschließend vergewaltigt. Diese innere Logik trifft für sie allerdings für amerikanische und kanadische Soldaten nicht zu, weil die Wehrmachtssoldaten nicht zuvor den Frauen jenseits des Atlantiks sexuelle Gewalt angetan hätten. An dieser Stelle ist bemerkenswert, worüber die Verfasserin schweigt. Sie setzt stillschweigend voraus, daß die deutschen Soldaten während des Krieges ebenfalls massenhaft derartige Verbrechen begangen hätten. Dem war aber nicht so, was die Verfasserin eigentlich wissen müßte. Ingo von Münch zitiert in seinem bereits 2009 erschienenen Werk die Arbeit von Birgit Beck, „Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939-1945“, die bereits 2004 erschienen ist. Er zitiert auch das ebenfalls von Gebhardt ausgewertete Werk von Helke Sander/Barbara Johr, woraus sich ergibt, daß „Ereignisse wie in Nanking oder in Berlin für die Wehrmacht nicht belegt“ sind. Von Münch zieht daraus den Schluß, daß dies konkret und eindeutig bedeutet, daß es keine – den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch russische Soldaten 1944/1945 vergleichbaren – Massenvergewaltigungen durch deutsche Soldaten gegeben hat, übrigens auch keine sogenannten systematischen Vergewaltigungen, die entweder Terror verbreiten sollten, oder wie im Bosnien-Krieg von serbischer Seite, mit dem Ziel der „ethnischen Säuberung“ im Zusammenhang standen. Vielmehr weist von Münch darauf hin, daß die Wehrmacht vor allem aus Gründen der Disziplin gegen Vergewaltigungen auch in Russland regelmäßig und auch mit drakonischen Strafen eingeschritten ist. Dies habe im übrigen sogar für die Waffen-SS gegolten. Tatsächlich sind von den Wehrmachtgerichten eine Vielzahl von Soldaten wegen solcher Verbrechen sogar mit dem Tode bestraft worden. Gebhardt hätte somit Gelegenheit gehabt, das Rachemotiv, das den Soldaten der Roten Armee nicht selten mit einem gewissen Verständnis unterstellt wird, in das Reich der Fabel zu verweisen. Daß sie es nicht tut, und die Arbeiten von Beck und von Münch nicht einmal erwähnt, läßt nur die Schlussfolgerung zu, daß auch sie an dem Bild von den marodierenden und vergewaltigenden Wehrmachtssoldaten festhalten will. Entgegenstehende Fakten werden dann lieber erst gar nicht erwähnt.

Empörend ist jedoch die Auffassung der Verfasserin, die vergewaltigten Frauen und Kinder (!) hätten gewissermaßen objektiv eine Ursache dafür gesetzt, daß die alliierten Soldaten so mit ihnen umgegangen seien. Sie behauptet wörtlich: „Seit den neunziger Jahren ist es kein Geheimnis mehr, daß deutsche Frauen und Kinder nicht nur Opfer waren. Sie haben mehrheitlich der nationalsozialistischen Ideologie zugestimmt, sie waren im schlimmsten Fall aktiv an der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik beteiligt. Ohne die zahllosen Denunziantinnen wäre etwa die Erfassung der jüdischen Bevölkerung zur späteren Ausplünderung, Vertreibung und Vernichtung nicht möglich gewesen. Die Annahme, daß deutsche Frauen überlebenswichtig seien für die ‚arische‘ Rasse, ließen sie die sogenannten minderwertigen Frauen und Völker spüren. Frauen waren KZ-Wärterinnen, Kolonistinnen in den besetzten Gebieten, Anstifterinnen, Mitläuferinnen, Profiteurinnen oder zumindest Zuschauerinnen der nationalsozialistischen Verbrechen…. Auch vermeintlich apolitische Hausfrauen glaubten an die Überlegenheit des deutschen Volkes und an die Gerechtigkeit des Krieges, hofften auf den Endsieg und hielten ganz entscheidend die Kriegsmaschinerie am Laufen… Frauen waren zu jener Zeit von der Abhärtungsideologie, von der Notwendigkeit von Sachlichkeit und Empathielosigkeit genauso überzeugt wie Männer, sie haben ihre Kinder entsprechend erzogen. Wir müssen davon ausgehen, daß eine deutsche Durchschnittsfrau von den nationalsozialistischen Verbrechen wie dem Judenmord und den Greueltaten der Wehrmacht wissen konnte… Es ist vollkommen klar, daß viele Vergewaltigungsopfer mindestens potenziell auch Täterinnen waren. Selbst Kinder waren nicht immer nur unschuldig, sondern haben sich unter Umständen an Schikanen von Zwangsarbeitern beteiligt, jüdische Mitschüler gemobbt und sich für Angehörige einer Herrenrasse gehalten.“ Die Verfasserin behauptet also allen Ernstes, die Frauen und Kinder jener Zeit hätten nicht einfach wie Frauen und Kinder in allen anderen kriegführenden Ländern sich um ihre Ehemänner, Söhne bzw. Väter gesorgt, sondern aktiv nicht lediglich ihr Land, sondern die nationalsozialistische Ideologie unterstützt. Sogar Kindern eine bewußte Unterstützung des Regimes zu unterstellen, verschlägt einem schon den Atem. Natürlich liegt Gebhardt damit auf einer Linie mit dem Bundespräsidenten Gauck, der den hunderttausenden von Opfern des alliierten Bombenterrors bescheinigt hat, sie hätten angesichts des Leides, das die Deutschen über Europa gebracht hätten, indem sie jenen Krieg vom Zaun gebrochen und in verbrecherischer Weise geführt hätten, eigentlich erwarten müssen, daß ihnen derartiges geschieht. Es ist müßig, darauf hinzuweisen, daß selbst die Minderheit der Wähler, die Hitler in freien Wahlen ihre Stimme gegeben haben, zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnten, was Jahre später geschehen würde, und daß die allermeisten Deutschen auch während des Krieges wegen der strikten Geheimhaltungsmaßnahmen des Regimes von seinen großen Untaten nichts gewußt haben. Es ist bedrückend, daß eine deutsche Hochschullehrerin einen solchen Ursachenzusammenhang nicht für völlig abwegig und unhistorisch erklärt, sondern diesen Zusammenhang lediglich nicht für eine ausreichende Erklärung hält, sondern, so wörtlich: „Eine empathische Auseinandersetzung mit der Massenvergewaltigung sollte vielmehr unter dem Vorzeichen der Verklammerung der beiden Kategorien Geschlecht und Ethnie stehen.“ Da hilft es wenig, daß sie immerhin in rechtlicher Hinsicht ausführt, es gebe generell keine Legitimation eines Verbrechens aus einem anderen Verbrechen. Denn auch diese Argumentation fußt auf der Grundannahme, daß es gleichartige Verbrechen auf der Seite der Opfer gegeben hat.

Die Autorin hat auch offenbar erhebliche Vorbehalte gegen die Vorstellungen der Deutschen in der Kriegs-und Nachkriegszeit über das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Deswegen setzt sie sich auch entsprechend kritisch mit dem Umgang der deutschen Gesellschaft mit den Opfern dieser massenhaften Vergewaltigungen auseinander. Tatsache ist jedoch, daß es zwar leider vielfach nicht gelungen ist, den Opfern wenigstens Entschädigung zu gewähren, von Gerechtigkeit und Genugtuung ganz zu schweigen. Alles jedoch auf Gesellschaftsordnung jener Zeit zurückzuführen, halte ich für unzulässig.

Ingo von Münch beschränkt sich auf die Vorgänge im Osten, wie ausgeführt. Diese untersucht er sorgfältig und faktenreich. Ebenso wie Gebhardt zitiert er in großem Umfang die Aussagen von Opfern. Die Lektüre dieser Erzählungen ist bedrückend. Dennoch muß man sie lesen um einen Eindruck davon zu bekommen, was damals geschehen ist. Von Münch sieht die Ursache für dieses Verhalten der sowjetischen Soldaten meines Erachtens zutreffend einerseits in der Hasspropaganda des Regimes und andererseits in der Tat in der Psyche der Soldaten. Gebhardt indessen meint, lange Zeit, vielleicht bis heute, habe die „Karikatur des barbarisch vergewaltigenden Russen“ das Geschichtsbild hierzulande beherrscht. Dieses Zerrbild bündelte all die historisch angestauten Ressentiments und Befürchtungen der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Bolschewismus und den im Nationalsozialismus herabgewürdigten „Untermenschen“ aus dem Osten. Die Massenvergewaltigungen hätten dieses Bild bestätigt. Leider muß man sagen: Sie haben es bestätigt. Ähnliches muß auch für das Verhalten der nordafrikanischen Soldaten in der französischen Armee gesagt werden. Denn ihr Anteil an diesen Verbrechen ist überwältigend. Offenbar hat man jedoch Angst, sich dem Vorwurf des Rassismus auszusetzen, wenn man diese Fakten benennt. Es geht jedoch nicht an, Tatsachen auszublenden, nur weil sie geeignet sein könnten, Vorurteile zu schüren.

Zusammenfassend muß festgehalten werden, daß die Arbeit von Miriam Gebhardt sich nahtlos in die lange Reihe von Büchern einfügt, die den Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus allgemein und ihren Soldaten im besonderen eine grundsätzliche Übereinstimmung mit dem System bescheinigen. Sie haben demnach alle Verbrechen des Systems mit zu verantworten. Sie können sich deswegen nicht darüber beschweren, daß sie selbst Opfer von Kriegsverbrechen geworden sind. Somit waren sie Täter und Opfer zugleich. Wir Nachgeborenen müssen nach ihrer Ansicht 70 Jahre nach Kriegsende so viel Ambiguitätstoleranz eben aufbringen. In diesem Zusammenhang scheint ihre größte Sorge zu sein, daß die Schilderung jener Greueltaten der alliierten Soldaten in Ost und West den sogenannten Revisionismus fördern könnte. Nüchterne wissenschaftliche Arbeit ebenso wie Empathie mit den Opfern sieht anders aus. Daß ein angesehener Lehrer des Staats- und Völkerrechts wie Ingo von Münch erst gar nicht erwähnt wird, könnte zu Spekulationen darüber Anlaß geben, daß manche Historiker wohl den juristischen Zugang zur Geschichte fürchten.

 

Der 8. Mai 1945 – Die gespaltene Erinnerung

Wer sich zum 8. Mai 1945 äußert, der muß mit unterschiedlichen, teils sehr gegensätzlichen Reaktionen rechnen. Das gilt für jede öffentliche Äußerung zur jüngeren deutschen Geschichte. Soweit sich dies im Rahmen des wissenschaftlichen oder publizistischen Diskurses hält, ist das auch nicht nur normal, sondern zu begrüßen. Die Demokratie lebt davon, daß sachlich diskutiert wird. Indessen fällt es auf, daß die Debatte um historische Tatsachen und noch mehr ihre Bedeutung häufig, leider allzu häufig, nicht sachlich geführt wird. Vielmehr werden Äußerungen, die hinsichtlich der Faktendarstellung oder der Interpretation von Ereignissen nicht dem entsprechen, was man heutzutage den mainstream nennt, in aller Regel nicht sachlich diskutiert, sondern gewissermaßen als Ketzerei gebrandmarkt. Warum das so ist, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Darüber wird derzeit viel geschrieben.

Es scheint notwendig zu sein, einmal grundsätzlich darzustellen, um was es mir geht. Zunächst einmal ist es völlig klar und muß deswegen nicht stets und ständig erneut dargestellt werden, daß der Nationalsozialismus neben dem Kommunismus eine der übelsten und menschenverachtendsten Ideologien war, die jemals auf dieser Erde vertreten wurden und leider auch für eine Zeit zur Herrschaft gelangt sind. Die monströsen Verbrechen Hitlers und seiner Gefolgsleute stehen wie ein Gebirgsmassiv beherrschend im Hintergrund eines jeden Bildes, das jene Zeit darstellt. Indessen spielen sich vor diesem Hintergrund, um im Bilde zu bleiben, eine Reihe von Dramen ab, die jedes für sich genau betrachtet werden müssen. Daraus erhellt, daß es eben keine Relativierung irgendeines vor dem Betrachter ablaufenden Ereignisses jener Zeit ist, wenn es ebenso wie ein anderes jener Ereignisse geschildert wird. Sie stehen nebeneinander. Mehr nicht.

Genau aus diesem Grunde kann es auch keine Hierarchie der Opfer geben. Das Schicksal des im KZ ermordeten jüdischen Kindes geht mir genauso nahe, wie das Schicksal des Kindes, das im Keller seines Elternhauses durch die Explosion einer amerikanischen Fliegerbombe getötet worden ist. Das Schicksal der italienischen Bäuerin, die als Sühnegeisel erschossen worden ist, geht mir ebenso nahe, wie das Schicksal des jungen deutschen Soldaten, den griechische Partisanen gezwungen haben sich nackt auszuziehen, um ihm dann die Kehle durchzuschneiden. Die Trauer der Eltern des gefallenen deutschen Soldaten ruft ebenso mein Mitgefühl hervor, wie die Trauer der Eltern des gefallenen britischen Soldaten. Das alles halte ich aber für derart selbstverständlich, daß es Im Zusammenhang mit der Schilderung und Bewertung eines historischen Ereignisses nicht eigens erwähnt werden muß. Vielmehr steht das immer im Hintergrund wie das eingangs als Metapher vorgestellte Gebirgsmassiv.

Hinzu kommt, daß jedenfalls in Deutschland im Zusammenhang mit der Schilderung und Bewertung von Ereignissen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges eine schlicht berichtende und nichts verschweigende Darstellung stets als relativierend oder verharmlosend diffamiert wird.

Allerdings halte ich es für notwendig, auch Ereignisse zu schildern, die für gewöhnlich in der Medienlandschaft nicht zu entdecken sind. Auch wenn sicherlich etwa die Zahl der Opfer des Holocaust oder der rassistisch motivierten Liquidierung von Soldaten und Zivilisten in Osteuropa überwiegt, kann eine seriöse Berichterstattung nicht darauf verzichten, auch Kriegsverbrechen der anderen Seite zu beschreiben. Denn die Wahrheit ist unteilbar. Es kann auch nicht darauf verzichtet werden, in jedem Einzelfall die Rechtslage zu untersuchen. Denn das Recht ist ein Wesensmerkmal der Zivilisation. Gerade die Rechtlosigkeit kennzeichnet Regime wie den Nationalsozialismus und den Kommunismus. Die Wirklichkeit kann nicht nur in schwarzer und weißer Farbe gemalt werden, vielmehr überwiegen die Grautöne.

Gerade weil die Verbrechen der Nazis in den gängigen Schilderungen der Zeit des Zweiten Weltkrieges gewissermaßen formatfüllend erscheinen, halte ich es nicht für notwendig, gewissermaßen zum 4322ten mal die gleiche Geschichte zu erzählen. Vielmehr halte ich es für notwendig, auch die weithin nicht bekannten Fakten ebenfalls vorzustellen. Denn wer sich für jene Zeit interessiert, der sollte auch die Chance haben, vollständig informiert zu werden. Nur dann kann er sich auch ein eigenes Bild machen. Nicht umsonst hat diese Internetseite den Untertitel „sapere aude – Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“.

Ebenso wird es als revisionistisch oder gar geschichtsverfälschend angesehen, wenn an der alleinigen Kriegsschuld der Deutschen gezweifelt wird. Schon die Benennung von mitursächlichen Verhaltensweisen der Regierungen anderer Länder wird als unzulässige Verdrehung der Wahrheit angeprangert. Die Diskussion in der Sache wird erst gar nicht zugelassen. Selbst wenn lediglich die wirklich unvertretbare Argumentation zurückgewiesen wird, die Deutschen hätten, weil sie den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen und den Holocaust durchgeführt hätten, in Gestalt der Flächenbombardierungen ihrer Städte und der Vertreibung und Ermordung ihrer Landsleute aus den östlichen Teilen ihres Landes nur die gerechte, zumindest erwartbare Strafe erhalten, wird das als Sünde wider den Anstand gewertet. Hatte denn das erwähnte Kind in der Bombennacht etwas mit Hitler zu tun? Und welche Schuld hatte die zu Tode gequälte und vergewaltigte Frau aus Ostpreußen?

Abgesehen davon, daß dies den betreffenden Autoren gegenüber – von Ausnahmefällen natürlich abgesehen – schlicht unanständig ist, wird damit auch die Chance vertan, sich in der Sache auseinanderzusetzen. Was mich betrifft, so bin ich für jede sachliche Kritik dankbar, weil sie grundsätzlich geeignet ist, mir neue Erkenntnisse zu vermitteln. Denn, wie unser höchstes Gericht einmal formuliert hat, ist es der wissenschaftlichen Arbeit – und dazu gehört die Beschäftigung mit der Geschichte ganz sicher auch – wesenseigen, stets neuen Erkenntnissen offen zu sein. Wissenschaft ist eben niemals etwas abgeschlossenes, sondern eine Sache, die von der Gewinnung neuer Erkenntnisse lebt. Denn sonst hätten wir es mit einem heiligen Buch zu tun und befaßten uns mit Religion. Das alles gilt auch außerhalb der universitären wissenschaftlichen Arbeit im Bereich der Publizistik. Willy Brandt hat das einmal prägnant in die Worte gefaßt: „Die Geschichte kennt kein letztes Wort.“ Bleiben wir also sachlich.