Archiv für den Monat: Dezember 2023

Warum das Grundgesetz unsere Verfassung ist

Zu den nicht totzukriegenden populären Irrtümern gehört jedenfalls in sich besonders patriotisch gebärdenen Kreisen die Überzeugung, das Grundgesetz sei keine Verfassung, demgemäß hätten wir auch keine, und folglich existiere die Bundesrepublik Deutschland als Staat überhaupt nicht, vielmehr bestehe von Rechts wegen das Deutsche Reich von 1871, wahlweise auch von 1919, weiter fort. Wer sich zu den sogenannten Reichsbürgern zählt, erkennt in der Konsequenz dieser Auffassung die staatliche Ordnung unseres Landes nicht an, hält dann auch das Ganze für eine im Prvatrecht angesiedelte GmbH und dergleichen mehr. Wohl nur nolens volens zahlt er dann trotzdem Steuern, hält die Regeln der Straßenverkehrsordnung ein und nimmt die Dienste von Ämtern in Anspruch.

Wir wollen also einmal prüfen, was es mit diesen Theorien eigentlich auf sich hat und einen Blick in die Verfassungsgeschichte werfen.

Vorbemerkung

Unter den Verfechtern dieser Überzeugung finden sich keine Juristen. Das ist zunächst einmal erstaunlich. Indessen gibt es wohl keine andere akademische Disziplin, nicht einmal außerakademische Fachgebiete, wo Hinz und Kunz meinen, es besser zu wissen, als die studierten und praktizierenden Juristen. Zwar käme niemand auf den Gedanken, einen anderen Menschen am Herzen zu operieren, ohne zuvor Medizin studiert und Facharzt für Chirurgie geworden zu sein, es käme auch niemand auf den Gedanken, eine Autobahnbrücke zu konstruieren, ohne zuvor ein Ingenieurstudium absolviert und vertiefte Kenntnisse der Statik erlangt zu haben. Auch würde niemand etwa einen Steuerberater mit der Entwicklung eines Arzneimittels betrauen, zumindest das auf diesem Wege entstandener Arzneimittel tunlichst nicht einnehmen. Der Gedanke, daß ein juristischer Laie ein Rechtsproblem lösen kann, oder sogar die Königsdisziplin der Jurisprudenz, das Verfassungsrecht, beherrscht, sollte damit eigentlich hinreichend ad absurdum geführt worden sein. Indessen zeigt mir als Rechtsanwalt das praktische Leben oft genug, daß juristische Laien glauben, die Rechtslage selbst einschätzen zu können. Und die Existenz kruder Theorien über die Existenz oder Nichtexistenz der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verfassung zeigt schlagend, daß offenbar jedermann, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, meint, mit Rechtstexten umgehen zu können. Dabei sollte doch klar sein, daß das wörtliche Verständnis von Texten über das Verständnis der inhaltlichen Bedeutung nichts aussagen muß. Wer etwa einen medizinischen Befund trotz der vielfach verwendeten lateinischen Fachausdrücke zu entziffern vermag, hat damit noch lange nicht verstanden, was der Verfasser damit festgestellt hat. Nur ein Gesetzestext oder gar ein Verfassungsgerichtsurteil scheint indessen ohne die Hilfe von Fachleuten für juristische Laien sonnenklar zu sein.

Wer also wirklich wissen will, was es mit dem Grundgesetz und der Bundesrepublik Deutschland auf sich hat, der kann sich nun kundig machen und weiterlesen. Wer indessen sich in seiner Fantasiewelt des Deutschen Reiches ganz eigener Art wohlig eingerichtet hat, der mag dort bleiben.

Die Paulskirchenverfassung vom 28.3.1848

Als Mutter aller nachfolgenden deutschen Verfassungen gilt die sogenannte Paulskirchenverfassung. Sie wurde von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossen. Es handelte sich dabei um gewählte Abgeordnete aus den Einzelstaaten des damaligen Deutschen Bundes. Dieser war auf dem Wiener Kongress nach der Niederlage Napoleons und Befreiung der unterworfenen Staaten entstanden. Rechtliche Grundlage war die sogenannte Bundesakte vom 8.6.1815. Sie war nicht etwa von einer Nationalversammlung beschlossen worden, sondern es handelte sich um einen völkerrechtlichen Vertrag der deutschen Einzelstaaten mit Billigung der übrigen europäischen Länder. Die starken Bestrebungen im gesamten deutschen Sprachraum, endlich zu einer nationalen Einigung und damit einem Staat aller Deutschen zu kommen, waren begleitet von dem ebenso starken Streben nach einem demokratischen Staatswesen, mindestens aber einer Zurückdrängung der Monarchie, weswegen es ja dann auch zur konstitutionellen Monarchie kam. Zwar war die Verfassung von 1848 populär und auch in den kleineren Staaten akzeptiert, die großen Bundesstaaten wie Preußen und Österreich wollten davon aber nichts wissen. Somit blieb die Paulskirchenverfassung ein achtbarer Versuch, wurde jedoch nicht zur Verfassung eines deutschen Staates, den es ja auch noch gar nicht gab. Ihre Grundzüge indessen finden sich in den nachfolgenden Verfassungen bis in unser Grundgesetz hinein.

Die Verfassung des deutschen Kaiserreichs

Nach dem Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71, den man auch als den letzten der Einigungskriege bezeichnen kann, proklamierten die versammelten Fürsten des Deutschen Bundes mit Ausnahme von Österreich den König von Preußen am 18.1.1871 zum deutschen Kaiser. Damit war die deutsche Einigung vollendet, wenn auch nur mit der sogenannten kleindeutschen Lösung unter Ausschluss Österreichs. Was noch fehlte, war eine Verfassung für den neuen Staat. Zunächst wurde am 3.3.1871 die erste gesamtdeutsche Wahl zum Reichstag durchgeführt. Am 14.4.1871 verabschiedete der Reichstag dann eine Verfassung, die in weiten Bereichen auf der Paulskirchenverfassung aufbaute. Indessen fehlte ein Grundrechtsteil, wie er noch in der preußischen Verfassung von 1850 enthalten war. Zweifellos muß man diese Verfassung als demokratisch zustandegekommen ansehen, auch wenn sie inhaltlich weitgehend von den staatsrechtlichen Vorstellungen Bismarcks geprägt war. Denn der Reichstag war, jedenfalls nach damaligen Vorstellungen, durch allgemeine und freie Wahlen zustande gekommen. Zwar konnten Frauen noch nicht wählen, und in Preußen galt sogar noch das Dreiklassenwahlrecht mit unterschiedlicher Gewichtung je nach Einkommen und Vermögen. Im internationalen Vergleich, auch mit als Mutterländern der Demokratie angesehenen Staaten wie Frankreich, Großbritannien und den USA, kann man darin keine wesentlichen demokratischen Defizite sehen, vielmehr entsprach das damals noch dem Zeitgeist. Großbritannien führte das Wahlrecht für Frauen erst 1918 ein, die USA 1920 und Frankreich erst 1944. Schwarze, oder wie das heute politisch korrekt heißt, People of Colour, können in den USA erst seit 1965 wählen. Und auch die in unseren Augen je nach Geschmack skurril oder diskriminierend anmutende Leseprüfung für schwarze Wähler entfiel erst 1964.

Die Weimarer Verfassung

Nachdem die deutschen Fürsten einschließlich des Kaisers 1919 abgedankt hatten – heute würde man sagen, zurückgetreten waren -, gab es die in der Verfassung festgeschriebene konstitutionelle Monarchie nicht mehr. Schon deswegen war es an der Zeit, eine neue Verfassung zu beschließen, denn die Staatsorganisation von 1871 existierte ja nicht mehr. Am 19.1. / 2.2.1919 kam es zur Wahl einer Nationalversammlung, die auch ausdrücklich als verfassunggebende Versammlung konzipiert war. Sie trat am 6.2.1919 in Weimar zusammen. In ihren Beratungen spielte natürlich auch die Paulskirchenverfassung ebenso eine Rolle, wie der damalige Stand der verfassungsrechtlichen Lehre in den juristischen Fakultäten. Staatsrechtlich wurde ein republikanischer Staatsaufbau gewählt, hinzu trat ein Grundrechtskatalog. Der Verfassungstext wurde von den hierzu berufenen Vertretern der verfassunggebenden Versammlung am 11.8.1919 unterzeichnet. Die nach ihrem Entstehungsort Weimarer Verfassung genannte Verfassung des Deutschen Reiches gilt heute unter Verfassungsrechtlern als durchaus respektables Werk und hat auch mit dem heute geltenden Grundgesetz sehr viele Gemeinsamkeiten. Sie blieb bis zum Zusammenbruch der staatlichen Ordnung Deutschlands am 8.5.1945 in Kraft, wenngleich sie faktisch bereits am 28.2.1933 mit der sogenannten Reichstagsbrandverordnung auf Wunsch, besser Befehl, Hitlers durch den Reichspräsidenten von Hindenburg außer Kraft gesetzt worden war.

Das Grundgesetz

Der 8.5.1945 führte mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht nicht nur das Ende der Kampfhandlungen herbei, sondern die staatliche Ordnung war nicht mehr existent. Es existierte keine Reichsregierung mehr, und auch die nachgeordneten Staatsgewalten waren entweder weggefallen oder ohne Legitimation. Zwar arbeiteten tatsächlich die Verwaltungsbehörden auf unterer Ebene weiter. Die Staatsgewalt war jedoch völkerrechtlich gemäß Art. 42 der Haager Landkriegsordnung auf die Besatzungsmächte übergegangen (occupatio bellica). Art. 43 HLKO bestimmt für diesen Fall: „Nachdem die gesetzmäßige Gewalt tatsächlich in die Hände des Besetzenden übergegangen ist, hat dieser alle von ihm abhängenden Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrecht zu erhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze.“ Somit war nicht nur eine ordnungsgemäße staatliche Verwaltung und Rechtsprechung zu gewährleisten, was ja auch tatsächlich geschah, unbeschadet dessen, daß durch die Kontrollratsgesetze der Alliierten als nationalsozialistisch kontaminiert erkannte Gesetze außer Kraft gesetzt worden waren. Es war auch die öffentliche Ordnung in Gestalt der Staatsorganisation wiederherzustellen. Grundlage jeder modernen Staatsorganisation ist eine Verfassung. Der einfachste Weg dazu wäre natürlich gewesen, es bei der rechtlich nach wie vor existenten Weimarer Verfassung zu belassen. Indessen hielten es die Alliierten für geboten, eine neue Verfassung beschließen zu lassen, natürlich unter ihrer Aufsicht und unter Beachtung ihrer Vorstellungen von einem demokratischen und gewissermaßen von Geburt an gegen das nationalsozialistische Virus immunen Deutschland. Die weitreichenden Rechte des Reichspräsidenten verdächtigten sie als Einfallstor für Diktatoren, obgleich doch die Stellung des Präsidenten in den USA noch stärker ist, als die des deutschen Reichspräsidenten jemals war, sieht man von den sogenannten Notverordnungen ab, die man jedoch aus der Verfassung hätte streichen können.

Nachdem die deutschen Länder politisch, teilweise in neuen Grenzen, wiederhergestellt waren und über demokratisch gewählte Parlamente verfügten, wurde aus insgesamt 65 Abgeordneten der Länderparlamente ein Parlamentarischer Rat genannter Verfassungssausschuss gegründet. Er konstituierte sich am 1.9.1948 in Bonn. Seine Beratungen bauten auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee auf, der von den Ministerpräsidenten der Länder einberufen worden war. Er tagte vom 10. bis 23.8.1948 und leistete in dieser kurzen Zeit die Vorarbeit für den späteren Verfassungstext. Ihm gehörten natürlich die maßgeblichen deutschen Verfassungsjuristen jener Zeit an. Der Parlamentarische Rat hatte einen ausdrücklich vorläufigen Charakter, wie auch die zu beschließende Verfassung selbst. Das beruhte auf der allgemeinen Überzeugung in Deutschland, daß wegen der inzwischen bereits faktisch eingetretenen Teilung infolge der Abspaltung des sowjetisch besetzten Teils Deutschlands nur in den Besatzungszonen der Westalliierten ein demokratisches Staatswesen errichtet werden konnte. Die Wiedervereinigung indessen war fest ins Auge gefasst und wurde auch in der neuen Verfassung festgeschrieben. Um diesen provisorischen Charakter des Unternehmens auch sprachlich zu kennzeichnen, sprach man nicht von einer Verfassunggebenden Versammlung, sondern von einem Parlamentarischen Rat, und nannte die Verfassung auch nicht so, sondern Grundgesetz. Es trat bekanntlich am 23.5.1949 in Kraft. Auch wenn die Staatsgewalt damals noch gemäß Art. 43 HLKO in den Händen der Alliierten lag, gab sich das deutsche Volk in den Besatzungsgebieten der Westalliierten durch gewählte Volksvertreter eine Verfassung im materiellen Sinne. Ihre Rechtsgültigkeit kann nicht infrage gestellt werden. Zwar ist es allgemeine Auffassung, daß die Befugnis zur Erstellung einer Verfassung in einer Demokratie nur beim Volk liegen kann. Indessen ist nirgendwo geregelt, in welcher Form diese Befugnis ausgeübt wird. In einer repräsentativen Massendemokratie kann das nur eine gewählte Vertreterversammlung sein; über die Art und Weise der Wahl und Auswahl gibt es einfach keine allgemein verbindlichen Regelungen. Sicher ist nur, daß nicht in jedem Falle eigens eine verfassunggebende Versammlung gewählt werden muß, wie schon die Befugnis des Bundestages und Bundesrates zur Änderung der Verfassung zeigt. Der pouvoir constituant kann demgemäß durchaus eine Abordnung gewählter Parlamentarier sein.

Leute ohne juristische Kenntnisse vertreten vielfach die Meinung, wir hätten schon deswegen keine Verfassung, weil doch Art. 146 des Grundgesetzes lautete bis 1990:

Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Eine solche Verfassung gebe es bis heute nicht. Das ist natürlich Unsinn. Im Einigungsvertrag vom 31.8.1990, der am 20.9.1990 von Bundestag und Volkskammer der DDR angenommen worden ist, wurde die Wiedervereinigung Deutschlands nicht auf der Grundlage einer neu beschlossenen Verfassung verwirklicht, sondern man wählte bewusst den Weg über Art. 23 GG, der den Beitritt deutscher Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes regelte. Das hatte den rechtlichen Vorteil der Kontinuität der bestehenden Verfassung und damit auch, worauf wir noch kommen werden, der Identität der nun größer gewordenen Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich, das von Rechts wegen am 8.5.1945 eben nicht untergegangen ist. Das ist jedenfalls einhellige Auffassung der Juristen, die dann auch bereits am 31.7.1973 vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR festgehalten worden ist. Denn, so das Gericht:

„Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! – geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte, noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort, besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe, selbst nicht handlungsfähig. Im Grundgesetz ist auch die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und von der gesamtdeutschen Staatsgewalt ‚verankert‘. Verantwortung für ‚Deutschland als Ganzes‘ tragen – auch – die vier Mächte. Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert. Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat Deutsches Reich, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings „teilidentisch“, sodaß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht. Die Bundesrepublik umfasst also, was ihr Staatsgebiet und ihr Staatsvolk angeht, nicht das ganze Deutschland, unbeschadet dessen, daß sie ein einheitliches Staatsvolk des Völkerrechtssubjekts „Deutschland“ (Deutsches Reich), zu dem die eigene Bevölkerung als untrennbarer Teil gehört, und ein einheitliches Staatsgebiet „Deutschland“ (Deutsches Reich), zu dem ihr eigenes Staatsgebiet als ebenfalls nicht abtrennbarer Teil gehört, anerkennt. Sie beschränkt staatsrechtlich ihre Hoheitsgewalt auf den „Geltungsbereich des Grundgesetzes“, fühlt sich aber auch verantwortlich für das gesamte Deutschland (vgl. Präambel des Grundgesetzes). Derzeit besteht die Bundesrepublik aus den in Art. 23 GG genannten Ländern, einschließlich Berlin; der Status des Landes Berlin der Bundesrepublik Deutschland ist nur gemindert und belastet durch den sogenannten Vorbehalt der Gouverneure der Westmächte. Die Deutsche Demokratische Republik gehört zu Deutschland und kann im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht als Ausland angesehen werden.“ (Die jeweils vom Gericht zitierten Belegstellen habe ich der leichteren Lesbarkeit wegen weggelassen.)

Soweit die maßgeblichen Passagen in diesem Urteil zum hier behandelten Thema. Anzumerken ist, daß hier bereits die rechtliche Gestaltung der Wiedervereinigung 1990 über Art. 23 GG vorgezeichnet worden ist.

Folgerichtig beschloss der Deutsche Bundestag mit verfassungsändernder Mehrheit die Neufassung des Art. 146 GG, der nunmehr lautet:

„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Zum einen ist damit festgehalten, daß das Grundgesetz von 1949 weiterhin gilt, nur auf dem inzwischen größer gewordenen Staatsgebiet. Zum anderen wird damit die an sich banale Tatsache deklaratorisch festgehalten, daß dieses Grundgesetz wie jedes andere Gesetz und auch jeder andere Verfassung, durch eine nachfolgende neue Verfassung aufgehoben und ersetzt werden kann. Dies folgt aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz lex posterior derogat legi priori, für Nichtlateiner: das spätere Gesetz setzt das voraufgegangene Gesetz außer Kraft. Dieser Grundsatz gilt seit Alters her auf allen Rechtsgebieten einschließlich des Staats- und Völkerrechts. Jedenfalls unter Juristen gibt es darüber keinen Streit.

Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz ist auch, daß durch ständige Beachtung von Verträgen, Rechtsvorschriften und Institutionen Gewohnheitsrecht entsteht und verfestigt wird. Die Staatsordnung des Grundgesetzes ist seit 1949 in unzähligen Wahlen vom Volk immer wieder bestätigt worden. Denn wenn auf der Grundlage der damals beschlossenen Verfassung namens Grundgesetz immer wieder Parlamente gewählt, von Ihnen erlassene Gesetze befolgt und die Urteile der von dieser Verfassung geschaffenen Gerichte beachtet werden, dann kann man durchaus von einer opinio communis, also einer allgemeinen Überzeugung ausgehen, daß dieser Staat in dieser Form existiert. Diese Verfassung stellt sich seit 1949 immer wieder dem Plebiszit. Selbst wenn man der abwegigen Auffassung wäre, die Verfassung von 1949 sei nicht rechtmäßig zustande gekommen, dann müsste man unter Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, daß auch vollmachtloses Handeln durch Genehmigung legitimiert wird, eben diese Genehmigung durch das Volk über Jahrzehnte hinweg feststellen.

Namen sind Schall und Rauch

Selbst ernannte Verfassungsjuristen mit Reichsbürgerqualität verweisen gern triumphierend darauf, daß wir ja nur ein Grundgesetz und keine Verfassung haben. Dieses Argument ist, zurückhaltend ausgedrückt, unbehelflich. Zur rechtlichen Qualität als Staatswesen gehören nach allgemeiner Anschauung die drei Elemente Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Ob ein solcher Staat eine Verfassung hat oder nicht, ob sie Verfassung heißt oder nicht, ist völkerrechtlich ohne jeden Belang. Die nach allgemeiner Auffassung älteste Demokratie der Welt, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, besitzt ebenso wenig eine geschriebene Verfassung wie etwa Israel und Neuseeland. Die Verfassung Dänemarks heißt Grundgesetz, Schweden hat eine Verfassungsgrundlage, die wörtlich übersetzt „Regierungsform“ heißt. Die griechische Verfassung heißt Syntagma, was so viel wie „Zusammenordnung“ bedeutet, im altgriechischen auch ein Wort für Heerbann oder Kontingent. Auch wenn inzwischen der provisorische Charakter des Staates Bundesrepublik Deutschland und seiner Grundgesetz genannten Verfassung weggefallen sind, und deswegen auch, seinem materiellen Gehalt entsprechend, die Bezeichnung Grundgesetz ohne weiteres durch das Wort Verfassung ersetzt werden könnte, es würde sich nichts ändern. Die Wiedervereinigung der nach den kriegsbedingten und völkerrechtlich festgeschriebenen Gebietsverlusten verbliebenen deutschen Länder und der Wegfall der alliierten Vorbehalte im 2 + 4 Vertrag haben das Deutsche Reich von den Kriegsfolgen mit Ausnahme der Gebietsverluste befreit. Sein neuer Name Bundesrepublik Deutschland spiegelt nicht nur seine staatsrechtliche Organisation wieder, sondern entspricht auch eher seiner verminderten politischen und geographischen Größe, als der doch mächtig daher kommende Name Deutsches Reich.

Wie Irre zu Staatsfeinden mutieren

Nach der Tagesschau am 7.12.2022 konnten sich die Deutschen den Angstschweiß von der Stirn wischen, den dieser Bericht Ihnen zunächst auf die Stirn getrieben hatte. Unsere tüchtigen Sicherheitsbehörden hatten offensichtlich in letzter Minute einen gewaltsamen Umsturz, getragen von einer Gruppe von gefährlichen Reichsbürgern mit militärischer Eliteausbildung und Zugang zu Waffen verhindert. Rund 5.000 Polizeibeamte, davon ein beträchtlicher Anteil von Spezialkräften in Kampfausrüstung, drangen vor laufender Kamera in die Wohnungen der Verdächtigen ein und nahmen sie fest. Die Verstrickung der AfD in diesen Putschversuch schien wohl offensichtlich, weswegen die Bundesinnenministerin Faeser und andere Politiker auch als erste Konsequenz ankündigten, hier anzusetzen. Vor allem das Dienstrecht der Beamten und Soldaten sei zu ändern, um die Feinde des Rechtsstaates leichter und schneller aus dem Dienst entfernen zu können. Und es sei klar, daß die AfD nun ihr wahres Gesicht zeige. So kann man die diversen Statements der Politiker zusammenfassen. Nach den ersten 25 verhafteten Rädelsführern wurden dann noch weitere Verschwörer verhaftet. Nun hat letzte Woche der Generalbundesanwalt Anklage gegen27 Verschwörer erhoben. Unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach § 129a StGB und Hochverrats nach § 83 StGB.

Wir werden also in den nächsten Monaten, voraussichtlich sogar in den nächsten Jahren, immer wieder mit diesen Mammutprozessen um die Bewältigung eines Umsturzversuches finsterer Mächte konfrontiert werden. Grund genug, einmal vorläufig einen Blick auf die Rechtslage zu werfen. Das bedingt natürlich auch, den bislang bekannten Sachverhalt wenigstens kursorisch darzustellen, denn die Arbeit des Juristen beginnt am Sachverhalt. Auf seiner Grundlage erfolgt die rechtliche Prüfung. Verändert sich auch nur ein Detail am Sachverhalt, führt dies regelmäßig auch zu einer veränderten rechtlichen Bewertung. Deswegen ist eben die Sachverhaltsermittlung ebenso wichtig, wie die anschließende juristische Prüfung der Rechtslage.

Der Vorgang muß auch vor dem Hintergrund des politischen Klimas in unserem Lande gesehen werden. Wenn man Politik und Medien glauben darf, gehört zu ihren wichtigsten Aufgaben der Kampf gegen rechts, unter anderem natürlich gegen den angeblichen parlamentarischen Arm des Rechtsextremismus, die AfD. Und das erst recht, seit dem gut 20 % der Wahlberechtigten in den Umfragen konstant als Wähler dieser Partei geführt werden, was etwa 10 Millionen erwachsene Bundesbürger sind. Man braucht wenig Phantasie sich vorzustellen, daß etwa Frau Faeser angesichts der Berichte des Verfassungsschutzes, daß zu den Verschwörern auch Politiker der AfD, an der Spitze eine Bundestagsabgeordnete gehörten, ihrer Verzückung mit orgiastischen Schreien freien Lauf ließ.

Zu den bis jetzt bekannten Fakten:

Der Plan

Schlicht und einfach die Machtergreifung. Auf jeden Fall wollten die Verschwörer während einer Sitzung des Bundestages in das Reichstagsgebäude eindringen und mit einem Kommando von 16 bewaffneten Kämpfern einzelne Bundesminister und den Kanzler festnehmen. Die Macht im Staate sollte gleichzeitig mit Hilfe von bis zu 286 Heimatschutzkompanien gesichert werden. Nach einigen Angaben auch mithilfe von Außerirdischen, die Bestandteil einer Allianz von irdischen und außerirdischen Mächten sein sollte. Zu diesen irdischen sollte wohl auch Russland gehören. Überhaupt sollte das ganze erst umgesetzt werden, nachdem diese Allianz sich anschicken würde, Deutschland zu unterwerfen. Was etwas genauer geplant zu sein schien, war die Zusammensetzung der neuen deutschen Regierung mit dem Anführer, oder sollen wir sagen Führer, der Gruppe, Heinrich XIII. Prinz Reuß an der Spitze.

Die Rentnerbande

Die Verschwörergruppe besteht ersichtlich vorwiegend aus, sagen wir einmal, älteren Semestern. Sowohl Prinz Reuß als auch der als Führer des sogenannten militärischen Arms der Gruppe geführte Rüdiger von Pescatore sind über 70 Jahre alt. Aber auch die weiteren verhafteten ehemaligen Soldaten wie Maximilian Eder und Peter Wörner haben ihre Jugendjahre, ja sogar das sogenannte beste Alter schon hinter sich. Was sie allerdings in den Augen der Bürger dieses Landes so gefährlich machen soll, ist eben ihre Vergangenheit als Offiziere. Diese wird dann weit übertrieben als die von Elitesoldaten dargestellt. Tatsächlich hat der ehemalige Oberstleutnant Rüdiger von Pescatore ebenso wenig wie der ehemalige Oberst Maximilian Eder eine Ausbildung als Elitesoldat des KSK. Beide waren lediglich in der Aufstellungsphase des KSK als Planer im Aufstellungsstab tätig. Doch man kann der heutzutage der im wesentlichen militärfernen Öffentlichkeit sehr leicht die Vorstellung vermitteln, bei ehemaligen Soldaten handele es sich grundsätzlich um gefährliche, weil im Umgang mit Waffen und Kampftechniken geschulte Zeitgenossen. Das ist ungefähr so seriös, als wenn man Franz Beckenbauer heute noch die Fähigkeit zuschreiben würde, seine Gegenspieler auf dem Platz auszuspielen wie seinerzeit in den siebziger Jahren. Nach diesen naiven Vorstellungen bin auch ich selbst wohl ein ganz gefährlicher Zeitgenosse, denn ich bin nicht nur an den diversen Infanteriewaffen ausgebildet worden, sondern habe darüber hinaus den Umgang mit Sprengstoff und Minen erlernt. Difficile est, satiram non scribere!

Von einer militärischen Organisation kann auch nicht einmal in Ansätzen die Rede sein. Sie mag in den Köpfen dieser Leute herumgespukt haben, umgesetzt worden ist davon offenbar nichts. Das gilt vor allem für die geplanten Heimatschutzkompanien. Hat man sich tatsächlich vorgestellt, 286 dieser Kompanien aufzustellen, so wären das bei einer Stärke von nur 100 Soldaten pro Kompanie doch immerhin 28.600 Mann. Gut ausgebildet und zum Zusammenwirken im Kompanierahmen qualifiziert, was nun einmal gut und gerne ein Jahr dauert. Von der notwendigen Führungs- und Logistikstruktur ganz zu schweigen, für die man mehr als die doppelte Zahl braucht, um diese Kampfeinheiten einsetzen zu können. Bis zum 7.12.2022 existierte nicht eine dieser Kompanien. Von der erforderlichen übergeordneten Organisation mit entsprechenden Stäben, geführt von erfahrenen Stabsoffizieren, ganz zu schweigen. Wo sollten die auch herkommen? Rekrutierungsversuche, soweit es sie überhaupt gab, waren offensichtlich ohne jeden Erfolg. Was die Bewaffnung angeht, so sollen ja nun etwa an die 400 Schusswaffen sichergestellt worden sein, und auch einige 1.000 Schuss Munition. Dabei handelte es sich jedoch um Jagdgewehre und Sportwaffen. Von den Stichwaffen und Armbrüsten wollen wir einmal schweigen. Bei den sichergestellten Schusswaffen fanden sich keine Kriegswaffen und es gab nicht ein einziges Sturmgewehr, geschweige denn Handgranaten, Maschinengewehre, Granatmaschinenwaffen oder gar Maschinenkanonen, die doch zur Bewaffnung auch leichter Infanteriekräfte der Bundeswehr und anderer Armeen gehören.

Der „Feind“

Mit welchem Gegner wollte es diese „Truppe“ aufnehmen? Die 16 wackeren Kämpfer, die zur Erstürmung des Reichstages vorgesehen waren, wären dann zunächst einmal auf die Polizei des Bundestages getroffen. Diese besteht aus 187 Beamten, allerdings nur mit polizeitypischer Bewaffnung, im wesentlichen Pistolen, aber im Gegensatz zu den Eindringlingen mit bester Ortskenntnis. Natürlich wären auch tausende von Berliner Polizeibeamten sofort verfügbar gewesen. Doch ist auch die Bundespolizei mit ihren Einsatzkräften, darunter die GSG 9 ebenso wie die Landespolizeien einschließlich ihrer SEKs in Rechnung zu stellen. Vor allem aber wäre im Falle einer von der Polizei nicht mehr beherrschbaren nationalen Notlage die Bundeswehr einzusetzen. Ihre Stärke beträgt aktuell ca. 183.000 Soldaten, die man natürlich nicht alle im und rund um den Reichstag einsetzen kann, nicht nur, weil man sich dann buchstäblich gegenseitig auf den Füßen stünde. Ihre Panzer und Lkws müsssten sie ohnehin in den Kasernen lassen, denn dafür fehlt es schlicht am Platz. Doch schon der Einsatz etwa einer Heeresbrigade wie etwa der hier infrage kommenden Luftlandebrigade 1 mit ca. 4.400 Soldaten und entsprechender Bewaffnung und Ausrüstung wäre noch weit überzogen gewesen, um diese lächerliche Aktion abzubrechen. Schon ein Infanteriebataillon mit ca. 900 Soldaten, ausgerüstet mit Sturmgewehren, Maschinengewehren, Maschinenpistolen, Granatmaschinenpistolen, Maschinenkanonen 20 mm, Kampfmitteln wie Handgranaten usw. hätte genügt, diesem Spuk schnellstens ein Ende zu machen. Ganz zu schweigen von dem für solche Zwecke natürlich ausgebildeten KSK, das innerhalb 1 Stunde mit hunderten von erstklassig ausgebildeten und bewaffneten Elitesoldaten dort hätte eingesetzt werden können.

Die Rechtslage

Die Pläne der Beschuldigten, und seien sie noch so unausgegoren, kann man natürlich unter die Strafvorschriften der Gründung einer terroristischen Vereinigung und des Hochverrats subsumieren. Was sich diese Kandidaten für einen dauerhaften Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie vorgestellt haben, erfüllt objektiv diese Tatbestände. Das ist auch nicht das Problem.

Versuch versus straflose Vorbereitungshandlung

Der Staatsstreich ist ja nun nicht durchgeführt worden. Nicht einmal der Beginn der Ausführung ist festzustellen. Somit kommt der Versuch der Begehung dieser Delikte in Betracht. Geregelt ist der Versuch der Begehung einer Straftat in § 22 StGB. Die Vorschrift lautet: „Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt“. Davon abzugrenzen ist die sogenannte straflose Vorbereitungshandlung, die sich eben dadurch vom Versuch der Tatbegehung unterscheidet, daß der Täter zwar die Tat geplant, und dazu notwendige Vorbereitungshandlungen umgesetzt, jedoch die Tat selbst noch nicht begonnen hat. In der Rechtspraxis ist es häufig schwierig, das eine vom anderen zu unterscheiden. Juristen orientieren sich hier wie sonst natürlich an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Sie ist gerade für dieses Problem verständlicherweise umfangreich. Ich will das einmal anschaulich an zwei Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erläutern. In einem Falle hatte sich ein Autodieb „in diebischer Absicht“, wie die Richter das formuliert haben, den Nachschlüssel für ein Kfz besorgt, das er vom Gelände eines Autohauses stehlen wollte. Die Sache flog auf, und die Polizei stellte den Nachschlüssel bei dem Angeklagten sicher. Entgegen der Vorinstanz, die bereits darin den Versuch des Diebstahls erblickt hatte, war der Bundesgerichtshof anderer Meinung und konnte darin eben nicht das unmittelbare Ansetzen zur Tat erkennen. Das sei erst dann gegeben, wenn der Täter in seiner Vorstellung mehr tut, und es nun für ihn heißt: „Jetzt geht’s los“. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn der Täter mit dem Nachschlüssel in der Hosentasche sich dem Auto nähert, das er nun auf diese Weise stehlen will. Ein anderer Fall: der Täter wollte eine Frau entführen, um von ihrer Familie ein hohes Lösegeld zu erpressen. Als er an der Haustür klingelte und die Frau mit ihrem Kleinkind auf dem Arm die Tür öffnete, gab er sein Vorhaben auf und verließ das Anwesen. Damit hatte er nach Auffassung des Bundesgerichtshofs eben nicht zur unmittelbaren Verwirklichung seines kriminellen Vorhabens angesetzt.

Im vorliegenden Falle werden die Gerichte also zu entscheiden haben, ob die Angeklagten überhaupt schon zu der Tat, wie sie sich in ihren Planungen darstellte, unmittelbar angesetzt hatten. Das wäre etwa dann der Fall gewesen, wenn ihre – bis dato nicht einmal existenten – Kämpfer begonnen hätten, bewaffnet in das Reichstagsgebäude einzudringen. Man darf also gespannt sein, was die Hauptverhandlungen vor den drei mit dem Fall befassten Oberlandesgerichten Frankfurt, Stuttgart und München ergeben werden.

Der untaugliche Versuch

Sollten die Oberlandesgerichte dennoch zu dem Ergebnis kommen, die Täter hätten unmittelbar zur Tat angesetzt und daher sei auf jeden Fall der Versuch der Begehung jener Straftaten gegeben, wäre eine weitere rechtliche Prüfung anzustellen. Denn nicht jeder Versuch der Tatbegehung ist überhaupt geeignet, zum Erfolg zu führen und Rechtsgüter Dritter zu verletzen. Denn insoweit greift die Strafvorschrift über den untauglichen Versuch, § 23 Abs. 3 StGB. Diese Vorschrift lautet: „Hat der Täter aus grobem Unverstand verkannt, daß der Versuch nach der Art des Gegenstandes, an dem, oder des Mittels, mit dem die Tat begangen werden sollte, überhaupt nicht zur Vollendung führen konnte, so kann das Gericht von Strafe absehen oder die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2)“. Letztere Vorschrift ermöglicht es dem Gericht die fällige Strafe bis zum gesetzlichen Mindestmaßzu reduzieren oder statt einer Freiheitsstrafe eine Geldstrafe zu verhängen. Dieser Fall wird vielleicht häufig vorliegen, aber wohl sehr selten überhaupt zur Anklage und Verurteilung führen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs handelt der Täter aus grobem Unverstand nur dann, wenn er trotz ungeeigneten Mittels den Taterfolg für möglich hält, weil er bei der Tatausführung von völlig abwegigen Vorstellungen über gemeinhin bekannte Ursachenzusammenhänge ausgeht. Dabei muss der Irrtum nicht nur für fachkundige Personen, sondern für jeden Menschen mit durchschnittlichem Erfahrungswissen offenkundig, ja geradezu handgreiflich sein. Das hat der Bundesgerichtshof in einem Falle verneint, indem die Angeklagte ihren Ehemann mittels Insektengift, das sie aus einer Spraydose auf sein Vesperbrot gesprüht hatte, töten wollte. Indessen war das Insektengift in einer so starken Verdünnung in der versprühten Flüssigkeit enthalten, daß der Mann wohl 50 solcher Vesperbrote hätte vertilgen müssen, bevor er an dem Gift gestorben wäre. Dennoch verneinte der Bundesgerichtshof in diesem Falle den untauglichen Versuch im Sinne des Gesetzes, denn die Angeklagte habe hier nicht über die grundsätzliche Eignung von Insektengift zur Tötung irrige Vorstellungen gehabt, ihre Fehlvorstellung habe sich lediglich auf die tatsächliche Beschaffenheit des von ihr gewählten und in seiner giftigen Konzentration für ausreichend gehaltenen Mittels geirrt. Es habe sich um einen Irrtum über die erforderliche Dosis, nicht jedoch über die Eignung des Giftes überhaupt gehandelt. Grober Unverstand im Sinne dieser Vorschrift ist wohl nur dann gegeben, wenn man beispielsweise ein Tatmittel auswählt, das unter gar keinen Umständen zur Tatausführung taugt, etwa jemanden mit einer an der Spitze abgerundeten Nagelfeile erstechen will.

Im vorliegenden Fall indessen liegt der grobe Unverstand im Sinne des Gesetzes auf der Hand. Mit den wenigen Mitgliedern der Verschwörergruppe wäre es nicht einmal entfernt möglich gewesen, so etwas ähnliches wie einen Staatsstreich durchzuführen. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, den Reichstag mit ein paar Bewaffneten zu stürmen und einige Politiker festzunehmen, so wäre man von der angestrebten „Machtergreifung“ immer noch Lichtjahre entfernt gewesen. Die gesamte Sicherheitsstruktur des Staates wäre damit immer noch intakt gewesen und imstande, diesem Spuk ein rasches Ende zu machen. Die erhoffte Auslösung und Unterstützung des Staatsstreichs durch die nur in der Pantasie kranker Hirne existierende Allianz aus außerirdischen und irdischen Mächten wie Russland, zu deren Machtmitteln dann auch eine Armee aus Außerirdischen gehören sollte (Klingonen, Orgs oder doch Luzifers unheilige Schar?), hatte sich noch nicht einmal gezeigt. Da ihr Eingreifen überhaupt Voraussetzung des Staatsstreichs gewesen sein soll, war seine Ausführung mindestens ungewiss, und hätte vielleicht das Anbrechen des jüngsten Tages vorausgesetzt. Aber solche Wahnvorstellungen passen natürlich zu Leuten wie den Beschuldigten, die ja absurde esoterische Vorstellungen von geheimnisvollen Mächten haben, die unterirdisch Kinder gefangen halten, um sie zu töten und von ihrem Blut zu trinken, wovon sie sich ewige Jugend versprechen. Mit grober Unverstand ist auch nur zurückhaltend umschrieben, was von den Vorstellungen der beteiligten ehemaligen Stabsoffiziere zu halten ist. Das gesamte Konstrukt des sogenannten militärischen Arms mit Heimatschutzkompanien ist so hanebüchen, daß man ernstliche Zweifel daran haben muß, ob diese ehemaligen Stabsoffiziere überhaupt nur noch einen Rest ihrer militärischen Kenntnisse in ihre Wahnwelt hinüber gerettet haben.

Hilfreich ist auch ein Blick in die Geschichte. Was ein wirklicher Putschversuch ist, wird am Beispiel des gescheiterten Putschs von Teilen der spanischen Streitkräfte im Jahr 1981 deutlich. Hier haben tatsächlich eine Reihe von höheren Offizieren bis hinein in die Generalität mit der Befehlsgewalt über tatsächlich existierende Truppen versucht, die Macht zu übernehmen. Sie scheiterten letztendlich daran, daß der junge König Juan Carlos sich ihnen entschlossen entgegenstellte und öffentlich seine Treue zur Verfassung bekundete, was dann die überwiegende Anzahl der spanischen Offiziere veranlasste, sich gegen die Putschisten zu stellen. Die Hoffnungen der Putschgeneräle, der von Diktator Franco erzogene König werde die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, die demokratische Verfassung zu suspendieren und statt als konstitutioneller als absoluter Monarch mit diktatorischen Vollmachten wie sein Mentor Franco regieren zu können, zerplatzten damit wie eine Seifenblase. Zwar gab es im Lande durchaus damals noch nicht wenige Anhänger des Franco-Regimes, doch war das die Minderheit im Volk wie in den Streitkräften. Die Putschisten hatten also zumindest aus ihrer Sicht reelle Aussichten, sowohl den König als auch einen nicht geringen Teil der Bevölkerung für ihre Sache gewinnen zu können, und sie verfügten zumindest über Teile der Armee und der Polizei. Das war also durchaus ernst zu nehmen, auch wenn die Fernsehbilder von den in das Plenum des Parlaments eingedrungenen Offizieren, die dann theatralisch Löcher in die Decke schossen, jedenfalls im Nachhinein eher tragisch-komisch wirken. Der Plan jener esoterischen Spinner um den merkwürdigen Prinzen Heinrich XIII. Reuß indessen mutet dagegen an wie der Fiebertraum eines Geisteskranken.

Warum dann aber eine Anklage?

An und für sich sollte man bei dieser Sach- und Rechtslage annehmen, die Ermittlungen gegen die Möchtegern-Putschisten wären von der Staatsanwaltschaft mangels hinreichendem Tatverdachts eingestellt worden. Denn mit einer Verurteilung sei eben nicht ernsthaft zu rechnen. Ich lehne mich durchaus so weit aus dem Fenster zu sagen, daß dies geschehen wäre, wenn es sich dabei nicht um einen „rechten“ Putschversuch, besser gesagt, dessen schlechte Karikatur, gehandelt hätte. Man muß ja wissen, daß die Staatsanwaltschaften in Deutschland keine richterliche Unabhängigkeit besitzen, sondern den Weisungen der jeweiligen Justizminister Folge leisten müssen. Somit können Politiker auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Einfluss nehmen. Und sie widerstehen der Versuchung nicht, auch die Staatsanwaltschaften für ihre Strategie einzusetzen, den verhassten politischen Gegner von der Rechten mit administrativen Mitteln zu bekämpfen, statt auf die Kraft des besseren Arguments, jedenfalls in den eigenen Augen besseren Arguments, zu setzen. Es bedarf allerdings nur geringer Vorstellungskraft, auch zu erwarten, daß die angerufenen Oberlandesgerichte die jeweiligen Anklagen zur Hauptverhandlung zulassen werden. Zum einen besteht in dieser Phase des Verfahrens für die Staatsanwaltschaften und Gerichte ein relativ großer Beurteilungsspielraum dahingehend, ob ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, der sich ja dann in der Hauptverhandlung bei sorgfältiger Tatsachenermittlung entweder bestätigt oder zerschlägt. Zum anderen sind auch Richter Kinder ihrer Zeit und von den gesellschaftlich vorherrschenden Meinungen geprägt. Man spricht insoweit auch vom Vorverständnis des Richters, das zum Beispiel bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder sprachlich mehrdeutiger Worte entscheidend ist. So wird der Begriff der Sitten heute anders verstanden als vor 100 Jahren. Und so wird das Selbstbestimmungsrecht des Bürgers heute auch in rechtlicher Hinsicht völlig anders gesehen, als in früheren Zeiten, als es diesen Begriff genau genommen nicht einmal gab. Und nicht zuletzt darf man die öffentliche, vor allem veröffentlichte Meinung und ihren Einfluss auch auf Richter nicht zu gering schätzen. Der Rechtsextremismus wird ja nun vielfach weit über seinen politisch-rechtlichen Gehalt hinaus dämonisiert. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, daß am Ende eine rechtskräftige Verurteilung im Sinne der Anklage stehen wird. Dazu ist das ganze doch zu grotesk.

Was uns aber blüht

Schon die medienwirksam zelebrierte Verhaftungsaktion, jeweils an Ort und Stelle mit rechtzeitig herangekarrten Kamerateams aufgenommen, läßt ahnen, worum es wirklich geht. Die Reaktionen der Politiker im unmittelbaren Anschluss sprechen schon Bände. Es geht um nichts anderes, als den allfälligen Kampf, besser Krampf, gegen rechts. Alle politischen Vorstellungen rechts von den Unionsparteien müssen den Wählern nachhaltig ausgetrieben werden. Die politische Schmutzkonkurrenz namens AfD muß nachhaltig diskreditiert werden, wenn man sie schon nicht verbieten lassen kann. Wenn die begriffsstutzigen Bürger schon nicht begreifen wollen, daß es sich dabei um die wiederauferstandene Nazipartei handelt, dann müssen sie jetzt endlich merken, daß es sich dabei um die Speerspitze des Rechtsextremismus handelt, mit der die Demokratie beseitigt und die rechte Diktatur installiert werden soll. Das hat man doch gerade noch verhindert. Und das muß man möglichst lange möglichst oft in den Medien breit treten wie Quark, insbesondere in den Zeiten vor den Wahlen. Und da passt es ja, daß in einem halben Jahr Europawahlen und in einem dreiviertel Jahr Landtagswahlen und dann im Herbst 2025 Bundestagswahlen stattfinden werden. Über diese Zeit hinweg muß den Bürgern stets das Gefühl vermittelt werden, in Deutschland drohe die Machtübernahme von Hitlers geistigen Enkeln. Und das möglichst Live aus dem Gerichtssaal. Doch wer übertreibt, erreicht nichts. Eine derart offensichtlich überzogene Inszenierung sollte das Gegenteil dessen bewirken, was die Mehrheit der Politiker und ihre medialen Propagandatruppen erreichen wollen.

Lagebeurteilung

Der Krieg in der Ukraine geht nun in den zweiten Kriegswinter. Grund genug, erneut in die Beurteilung der Lage einzutreten. Nicht in erster Linie hinsichtlich der Lage im Kriegsgebiet. Sondern in erster Linie hinsichtlich der Folgen dieses Krieges für Deutschland, seiner Handlungsoptionen und nicht zuletzt der Frage: was ist zu tun?

Das Bild des Krieges im Frühjahr 2022

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24.2.2022 war die politische wie auch die militärische Bewertung recht eindeutig. Es ließ sich auch ein weit überwiegender Konsens in Deutschland feststellen. Natürlich war und ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Natürlich ist es auch völkerrechtliche Verpflichtung unseres Landes wie aller anderen Staaten, Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine vorübergehend aufzunehmen. Im vorliegenden Falle kam der allgemeine Konsens hinzu, daß die ausgebombten, vor Krieg und Zerstörung geflohenen Menschen aus der Ukraine auch unser Mitgefühl verdienten. Man sah es als selbstverständlich an, daß sie nicht den rechtlichen Beschränkungen unterliegen sollten, die für alle anderen Kriegsflüchtlinge und Asylsuchenden bei uns gelten, auch wenn diese Beschränkungen im internationalen Vergleich kaum spürbar sind. Die kulturelle Nähe der Ukrainer zu Mitteleuropa ganz im Gegensatz zur Kulturferne der Zuwanderer aus Schwarzafrika und dem muslimischen vorderen Orient und Nordafrika tat ein übriges. Man konnte davon ausgehen, daß sich diese neuen Bewohner unseres Landes sehr rasch integrieren würden.

Die Lage hat sich geändert

Nun, ein dreiviertel Jahr später, stellen wir ernüchtert fest, daß die kulturelle Integration der ukrainischen Flüchtlinge durchaus gelingt, die Integration in den Arbeitsmarkt indessen sehr zu wünschen übrig lässt. Lediglich knapp 20 % der zugewanderten arbeitsfähigen Ukrainer gehen einer Erwerbstätigkeit nach, gut 80 % beziehen Bürgergeld in gleicher Höhe wie deutsche Staatsbürger. Unter den nun hier vorübergehend (?) lebenden Ukrainern sind allem Anschein nach erstaunlich viele Männer im wehrfähigen Alter. Das verwundert jedenfalls auf den ersten Blick deswegen, weil man zu Beginn des Krieges hörte, daß Ukrainer im wehrfähigen Alter überhaupt nicht ausreisen dürfen, sondern in die ukrainischen Streitkräfte eingezogen werden. Dies scheint durchaus nicht der Fall zu sein. Das sollte uns jedenfalls nach der ersten Phase des Mitgefühls nicht weiter überraschen. Handelt es sich doch bei der Ukraine um eines der korruptesten Länder der Welt. Warum sollte nicht gerade in Kriegszeiten die Korruption bei den dortigen Wehrersatzbehörden blühen? ist es sehr überraschend, wenn Flüchtlinge aus diesem Land ihre Kultur des Abzockens mitbringen? Kann man sich dann noch darüber wundern, daß ein Großteil dieser Leute lieber die üppigen deutschen Sozialleistungen, die unter dem Strich ein Einkommen nahe am Erwerbseinkommen ermöglichen, für sich in Anspruch nehmen, als sich eine Arbeit zu suchen? Muß man dann nicht den Rechtsstatus dieser Kriegsflüchtlinge überdenken?

Die Kosten der Solidarität

Deutschland hat sich sehr rasch dazu entschieden, die Ukraine auch durch Waffenlieferungen und Ausbildung von Soldaten an modernen westlichen Waffen zu unterstützen. Diese Militärhilfe in Gestalt von Waffen, Gefechtsfahrzeugen und Munition beläuft sich im laufenden Jahr auf rund 5,4 Milliarden €. Für 2024 ist ein Betrag von rund 8 Milliarden € vorgesehen. Die Lieferung von militärischer Ausrüstung an die Ukraine hat Vorrang vor der Beschaffung für die Bundeswehr. Ähnlich engagieren sich die übrigen NATO-Länder, allen voran natürlich die USA. Daß letztere nota bene auch ein erhebliches Eigeninteresse daran haben, Russland an der Eroberung dieses Landes zu hindern und es in den eigenen Bündnisbereich und Wirtschaftsraum zu integrieren, liegt auf der Hand, ist jedoch weltpolitisch durchaus normal. Ebenso normal ist es, daß wir Deutschen als Verbündete in der NATO den USA in den Grundlinien der Politik folgen. Vernünftige Alternativen sind weit und breit nicht zu sehen.

Das Kriegsziel Russlands ist wohl nicht mehr das gleiche wie zu Beginn

Zu Beginn des Krieges schien es durchaus so, daß Russland sich eine blutige Nase holen würde. Das lag vor allem daran, daß die von Putin großsprecherisch als militärische Spezialoperation bezeichnete Besetzung und Unterwerfung der Ukraine sich sehr bald als stümperhaft durchgeführte Invasion einer Armee von Tölpeln herausstellte. Wir haben noch die Bilder von der endlosen Schlange der Kampfpanzer, Artilleriegeschütze und sonstigen Gefechtsfahrzeuge von der russischen Grenze bis kurz vor Kiew vor Augen, die allenthalben von ukrainischen Panzern zusammengeschossen wurden. Bei dieser Sachlage schien es nur eine Frage der Zeit, bis dieser Angriff völlig zusammenbrechen und anschließend von den ukrainischen Verteidigern über die Landesgrenze zurückgeworfen würde.

Der Stellungskrieg nach dem Muster des I. Weltkrieges

Inzwischen sehen wir ein anderes Bild. Aus dem verlustreich vorgetragenen Angriff einer Armee aus dem Kalten Krieg ist nun ein Stellungskrieg an den Grenzen der schon seit 2014 von nur schlecht aus solchen getarnten russischen Truppen besetzten östlichen Randgebiete der Ukraine mit russischstämmiger Bevölkerung geworden. Hier kommt man seit Monaten beiderseits nicht von der Stelle. Vielmehr bietet sich das Bild eines Stellungskrieges nach dem Muster des Ersten Weltkrieges in Frankreich. Keine der beiden Seiten kann mehr als bescheidene Frontkorrekturen im Bereich von wenigen Kilometern Tiefe, und das auch offenbar nur vorübergehend, erzielen. Russland ist von der Eroberung der Ukraine genauso weit entfernt wie die Ukraine von der Wiedergewinnung der besetzten Gebiete einschließlich der Halbinsel Krim. Offensichtlich ist Putin auch unter dem Zwang der Verhältnisse von der Vorstellung abgerückt, die Ukraine unterwerfen zu können. Vielmehr scheint das neue Kriegsziel darin zu bestehen, das seit Jahren besetzte Gelände nun endgültig in das russische Staatsgebiet einzuverleiben und das auch am Ende des Krieges in einem völkerrechtlichen Vertrag festschreiben zu können.

Bemerkenswert sind auch die Lagebeurteilungen westlicher Militärs, die von dem ursprünglichen Optimismus nur noch wenig übrig lassen, vielmehr davon ausgehen, daß auch die Ukraine ihre Kriegsziele nicht mehr erreichen kann. Noch bemerkenswerter ist nun ein Aufsatz des ukrainischen Oberkommandierenden, General Zaluzhnyi. Er beschreibt ausführlich die militärische Lage in diesem Stellungskrieg und zeigt dabei die Mängel an Waffen und Ausrüstung auf, die es unmöglich machen, vom Stellungskrieg zum Bewegungskrieg überzugehen, der allein ja zur Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete führen könnte. Was nach wohl zutreffender Auffassung des Generals erforderlich wäre, wird die NATO wohl kaum liefern können, wohl auch nicht wollen.

Die personellen und militärischen Ressourcen

Hinzu kommt die Ungleichheit der Ressourcen auf beiden Seiten. Das beginnt bei der Einwohnerzahl der kriegführenden Parteien. Russland hat derzeit 143.556.000 Einwohner, die Ukraine 41.400.000. Der Angreifer kann also seine personelle Ergänzung aus einem mehr als dreimal so großen Bevölkerungsreservoir gewinnen, wie der Verteidiger. Das militärische Personal beider Seiten bietet ein ähnliches Bild. 1.330.900 Angehörigen der Streitkräfte einschließlich der Reserven in Russland stehen in der Ukraine ca. 500.000 gegenüber. Das ist deswegen so wichtig, weil natürlich die immensen Verluste in diesem Krieg einen erheblichen Ergänzungsbedarf im Personalbereich mit sich bringen. Es liegt auf der Hand, daß dies einem etwa dreieinhalb mal so viel Einwohner zählenden Lande wesentlich weniger Probleme bereiten wird, als dem so viel kleineren Gegner. Zu berücksichtigen ist dabei natürlich auch, daß für jeden gefallenen oder schwer verwundeten Soldaten ein gleichwertig ausgebildeter Soldat nicht sofort verfügbar ist, sondern eine Ausbildung schon als Mannschaftsdienstgrad mehrere Monate in Anspruch nimmt, bei Unteroffizieren und den unteren Offiziersrängen schon wenigstens eineinhalb Jahre, über die höheren Offiziersränge wollen wir gar nicht erst reden.

Lehren aus der Kriegsgeschichte

Das ist deswegen so wichtig, weil es ja nun offenbar darum geht, daß die Ukraine in der Position des Angreifers ist, der einen Feind, der sich hinter einem System von riesigen Minensperren und Feuerräumen seiner Artillerie verschanzt hat, angreifen und werfen will. Allgemein bedarf es dazu einer personellen Überlegenheit von wenigstens drei zu eins, wenn nicht mehr. Natürlich ist die Kriegsgeschichte voll von Beispielen, die es auf den ersten Blick auch möglich erscheinen lassen, daß der personell unterlegene Angreifer siegt. Denken wir etwa an Alexander den Großen, der die Schlachten von Gaugamela und Issos jeweils aus der Unterzahl beeindruckend gewonnen hat. Oder an Hannibal, der die berühmte Schlacht bei Cannae aus der Unterzahl ebenso wie seinen beeindruckenden Sieg am Trasimenischen See gewonnen hat. Auch der historische Sieg Friedrichs des Großen in der Schlacht bei Leuthen ist ein Beispiel dafür. Napoleon tat es ihm mehrfach gleich. Aus jüngerer Zeit wären der Frankreichfeldzug und die Eroberung Kretas zu nennen. Deutschland war in beiden Fällen personell nicht klar überlegen. Im Frankreichfeldzug war der Gegner bei der Artillerie im Verhältnis zwei zu eins, bei den Panzern im Verhältnis drei zu zwei und auch bei der Luftwaffe im Verhältnis 4,5 zu 3,5 überlegen. Natürlich war es in diesen Fällen regelmäßig dem militärischen Genie der jeweiligen Feldherren, aber auch der besseren Ausbildung und Disziplin der siegreichen Truppe geschuldet, daß dies gelingen konnte. Indessen zeigt der Blick auf den jeweiligen Krieg im ganzen, daß einzelne grandiose Siege letztendlich den Krieg nicht entschieden haben. Vielmehr setzte sich am Ende zumeist durch, wer über die deutlich größere Armee verfügte. Die Punier unterlagen deswegen letztendlich den Römern, Napoleon der Übermacht seiner verbündeten Feinde. Friedrich der Große obsiegte im Siebenjährigen Krieg allein deswegen, weil nach dem Tod der russischen Zarin Elisabeth am 5. Januar 1762 ihr Nachfolger Peter III. das Bündnis mit Österreich aufkündigte und von nun an Preußen unterstützte („Das Mirakel des Hauses Brandenburg“). Auch die deutsche Wehrmacht mußte letztendlich der zahlenmäßiegen Überlegenheit des zumeist schlechter kämpfenden Feindes unterliegen. Die Lehren aus der Kriegsgeschichte stehen der Erwartung eines ukrainischen Erfolges somit doch klar entgegen.

Eine neue Lage erfordert einen neuen Entschluß

Somit erhebt sich für die Unterstützer der Ukraine, auch Deutschland, die Frage, ob dieser Beurteilung der Lage nicht zwingend eine neue Bewertung des Verhältnisses zur Ukraine folgen muß und man nolens volens darauf dringen muß, das militärische Ergebnis des Krieges zu akzeptieren und die Grenzen neu zu ziehen. Zwar hätte sich damit der Aggressor letztendlich, wenn auch nur zum geringen Teil, durchgesetzt und das Völkerrecht wäre zum wiederholten Male der Gewalt gewichen. Indessen ist dies historisch der Normalfall. Gerade wir Deutschen wissen das doch nur zu gut.

Es erhebt sich aber auch schon jetzt die Frage, ob man nicht die Unterstützung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auf eine neue, der Wirklichkeit angepasste Basis stellen muß. Es geht hier im laufenden Jahr um rund 2,75 Milliarden € nach rund 2 Milliarden € im vergangenen Jahr. Es geht aber auch darum, daß ein Großteil dieser Flüchtlinge durchaus beruflich qualifiziert ist und auf dem deutschen Arbeitsmarkt problemlos eingegliedert werden kann. Nettoausgaben in Milliardenhöhe könnten umgewandelt werden in Wertschöpfung durch diese Arbeitskräfte in mindestens gleichem Umfang.

Ändert sich die Lage, muß sich auch der Entschluß ändern, so lernt es der Offizier in seiner Ausbildung. Sollten unsere Politiker imstande sein, nüchtern und sachlich zu denken, müssten sie sich genauso verhalten.