hat Clausewitz seine Betrachtungen über Grund, Zweck, Erscheinungsformen und Prinzipien der Kriegführung genannt. Sein berühmtes Diktum vom Kriege als bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln will uns ja auch lehren, daß diese äußerste Anspannung der Kräfte kein Selbstzweck ist. Wörtlich heißt es nach dieser Feststellung ersten Kapitel des ersten Buches dieses Werks: „So sehen wir also, daß der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“. Er betont im siebten Kapitel des achten und letzten Buches: „Also noch einmal: der Krieg ist ein Instrument der Politik; er muß notwendig ihren Charakter tragen, er muß mit ihrem Maße messen; die Führung des Krieges in seinen Hauptumrissen ist daher Politik selbst, welche die Feder mit dem Degen vertauscht, aber darum nicht aufgehört hat, nach ihren eigenen Gesetzen zu denken.“ Daraus folgt denknotwendig auch, daß Sieg oder Niederlage im Kriege nur das vorläufige Ergebnis sein können. Aus der Sicht der Politik hat das Instrument genutzt oder nicht genutzt. Clausewitz formuliert das wenige Seiten vorher so: „Endlich ist selbst die totale Entscheidung eines ganzen Krieges nicht immer für eine absolute anzusehen, sondern der erliegende Staat sieht darin oft nur ein vorübergehendes Übel, für welches in den politischen Verhältnissen späterer Zeiten noch eine Abhilfe gewonnen werden kann.“
Die politische Konfliktlage wird also vom Ergebnis des Krieges in aller Regel wohl nur in den Hintergrund geschoben werden. Wenn die Verhältnisse es zweckmäßig erscheinen lassen, erneut zum Instrument der Kriegführung zu greifen, um das unerwünschte Ergebnis zu korrigieren, so wird das geschehen.
Der Krieg ist die Regel, der Friede die Ausnahme
Die Politik hat ersichtlich allenthalben Gründe, auf das Instrument des Krieges zu setzen. Weil das so ist, hat die Menschheit eine krieglose Zeit nie erlebt. Uns Deutschen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vom Kriege verschont geblieben sind, wird so langsam deutlich, daß wir bisher wohl nur Glück gehabt haben, weil die politischen Verhältnisse rund um unser Land nicht so waren, daß wir das Instrument des Krieges zur Durchsetzung eigener Machtinteressen – die wir offensichtlich gar nicht haben – noch zur Behauptung gegen Eroberungsgelüste Dritter nutzen mußten. Der Krieg in der Ukraine indessen ist nicht nur ein Krieg gewissermaßen vor unserer Haustür. Das war der Jugoslawien-Krieg auch. Aber selbst unsere marginale Beteiligung daran war weit entfernt davon, daß unser Land ernsthaft mit einer militärischen Bedrohung rechnen mußte.
Neutral können wir nicht sein
Das ist nun anders. Unsere strategische und wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA, deren massive Interessen an und in der Ukraine unübersehbar sind, läßt uns praktisch keine andere Wahl, als die Ukraine zu unterstützen, und zwar in dem Maße, das dieser „große Bruder“ wünscht. Ob wir das im Einzelfall für vernünftig halten oder nicht, ist wohl sekundär. Eine wirkliche Alternative haben wir nicht. Wir können uns weder einen Wirtschaftsboykott durch die USA und die übrigen auf ihrer Linie handelnden Staaten, und noch viel weniger die Aufkündigung ihrer militärischen Garantien leisten. Deutschland als neutraler Staat ist weder geostrategisch noch wirtschaftlich denkbar. Weltpolitisch ist ein Ersatz für die USA auch nicht vorstellbar. Selbst wer etwa die USA durch China, Indien oder Russland ersetzen wollte, müsste sich fragen lassen, wie das praktisch möglich wäre, und noch mehr, welche Folgen das für die außenpolitische Sicherheit und noch mehr für die wirtschaftliche Prosperität unseres Landes haben würde. Von der in solchen Fällen zwangsläufig folgenden Angleichung des Gesellschaftssystems ganz zu schweigen. Wer von uns möchte schon Sozialkreditpunkte nach chinesischem Muster oder eine Strafjustiz russischer Art? Was Russland angeht, so stand es historisch nur sehr selten an der Seite Deutschlands. Bismarck misstraute Russland grundsätzlich. Sein Urteilsvermögen ist deutschen Politikern zu wünschen.
Russland denkt imperial
Russland hat mit dem Angriff am 22. Februar 2022 auch unmissverständlich gezeigt, daß es seine Großmachtinteressen ganz selbstverständlich auch mit dem Instrument des Krieges durchzusetzen gedenkt. Das war auch nur der Schlag auf die größere Pauke, denn schon in Tschetschenien, Georgien und mit Inbesitznahme der Krim und des Donbass hat Russland wie selbstverständlich militärische Mittel zur Durchsetzung seiner territorialen Interessen eingesetzt. Damit steht Putin lediglich in der Tradition seiner Vorgänger. Die russischen Zaren, allen voran Katharina die Große und Peter der Große – daß gerade diese beiden imperial denkenden und handelnden Zaren mit dem ehrenden Prädikat „groß“ in die Geschichte ihres Volkes eingegangen sind, spricht Bände – haben Kriege geführt, um Russland zu vergrößern. Putin hat sich auch ausdrücklich in die Tradition Peters des Großen gestellt. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Polen und die baltischen Staaten haben in ihrer Geschichte russische Eroberung und Besetzung erfahren. Aber auch Deutschland hat in seiner jüngeren Geschichte die Expansion (Sowjet-) Russlands bis an die Elbe erlebt. Russische Außenpolitik mit dem Instrument des Krieges ist eine historische und auch aktuelle Konstante. Der erfolgreiche Einsatz dieses Instruments könnte also weitere Anwendungsfälle nach sich ziehen. Es liegt somit in unserem Interesse, mindestens den uneingeschränkten Erfolg im vorliegenden Falle zu verhindern.
Nicht zu vergessen: das Recht
Ein drittes kommt hinzu. Unstrittig verstößt Russland mit dem Angriff auf die Ukraine gegen das Völkerrecht. Bekanntlich kann dies jedoch keine juristischen Strafmaßnahmen nach sich ziehen. Denn Russland ist Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat. Auch eine Verurteilung durch den Internationalen Strafgerichtshof ist nicht möglich, denn Russland hat das Römische Statut über den Internationalen Strafgerichtshof nicht unterzeichnet und ratifiziert. Auch das Urteil eines möglicherweise einzurichtenden Sonderstrafgerichtshofs hätte ungeachtet der Zweifelhaftigkeit dieser Rechtskonstruktion keine Auswirkungen. Weder hätten die übrigen Weltmächte wie die USA, China und – mit Einschränkungen – Indien ein Interesse an strafgerichtlichen Sanktionen gegen Russland, noch könnten die machtlosen übrigen Staaten dieser Welt ein solches Urteil durchsetzen. Sie sehen sich in der Lage der Maus in der Fabel des Äsop, die der Katze die Schelle umhängen soll. Indessen kann Deutschland ebenso wenig wie die übrigen Rechtsstaaten dieser Erde einen solchen massiven Rechtsbruch dulden. Ohne das Recht ist der Staat nur eine Räuberbande, wie Augustinus das bildhaft ausgedrückt hat. Das Recht ist nun einmal die Grundlage unseres Zusammenlebens – iustitia fundamentum regnorum. Das Selbstverständnis der demokratischen Rechtsstaaten dieser Welt, auch wenn sie eindeutig die Minderheit der UN-Mitglieder sind, lässt nichts anderes zu, als wenigstens anzustreben, daß der Rechtsbruch nicht zum Erfolg führt, sondern im Versuchsstadium stecken bleibt.
Was tun?
Natürlich kann das Ziel nur sein, Frieden zu schaffen, im Idealfall unter Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände. Aber auch Kompromisse, die immer nur die zweitbeste, dafür aber regelmäßig allein realistisch anzustrebende Lösung sein können, sind einer gewaltsamen Lösung vorzuziehen. Indessen liegt das allein in der Hand der kriegführenden Parteien, wobei die Ukraine mit Sicherheit weder allein entscheiden kann noch will. Ob und mit welchen Verhandlungszielen Waffenstillstands- und später Friedensverhandlungen möglich sind, wissen wir nicht. Vor allem aber kann Deutschland als zum einen bündnisgebundener und zum anderen machtloser Akteur auf dem internationalen Parkett keinen eigenständigen Beitrag leisten. Bisher ist nicht einmal erkennbar, ob und welche Kompromisslösungen von den beiden Kriegsparteien angestrebt werden. Dem Wesen des Krieges entsprechend, wird im Falle des durchschlagenden militärischen Erfolges keine der beiden Seiten überhaupt zu Verhandlungen bereit sein.
Über die militärische Lage befinden wir uns im Unklaren. Ob Russland seine gewaltige personelle Überlegenheit und den Umstand, daß die Kampfhandlungen allein die ukrainische Bevölkerung treffen, letztendlich siegen lässt, oder ob trotzalledem die Waffenlieferungen der USA und ihrer Verbündeten am Ende Russland zur Einstellung der Kampfhandlungen zwingen, kann wohl eher nicht seriös prognostiziert werden. Auch sollte man die zitierte Erkenntnis des großen Clausewitz berücksichtigen, daß das militärische Ergebnis des Krieges meist nur ein vorläufiges ist, und sich bei Änderung der Verhältnisse politisch erneut die Frage nach der Nutzung des Instruments Krieg stellt. Somit bleibt das Instrument des Krieges für beide Seiten derzeit noch die naheliegende Option, nicht aber die Rückkehr zur Diplomatie.
Deutsche Dissonanzen
Die Debatte in Deutschland wird der ernsten Lage indessen regelmäßig nicht gerecht. Sie ist gekennzeichnet durch schrille Töne in der einen wie der anderen Richtung. Wer es für die richtige Strategie hält, Russland zu Verhandlungen an den Konferenztisch zu bitten, muß sich als Russland-Freund, Putin-Versteher und was der freundlichen Zuschreibungen mehr sind, bezeichnen lassen. Allerdings fehlt es an realistischen Vorschlägen, wie das denn in die Tat umgesetzt werden könnte. Mit welchem Argumennt könnte man Putin auch nur zu Verhandlungen bewegen, solange die militärische Lage ihn nicht dazu zwingt? Wer es für notwendig hält, die Durchhaltefähigkeit der Ukraine durch Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe aufrecht zu erhalten, muß sich als Kriegstreiber beschimpfen lassen. Doch welche Gebietsverluste würde die Ukraine denn hinnehmen? Ist es auch nur denkbar, geschweige denn realistisch, daß die völkerrechtlichen Grenzen der Ukraine wiederhergestellt werden können? Nun sind allgemein die Ausrufezeichen kein Merkmal sachlicher Argumentation. Es schneidet auch jeder sachliche Diskussion von vornherein den Erfolg ab, wenn der jeweiligen Gegenseite der gute Wille abgesprochen wird. Abgesehen davon, daß wir in Deutschland ohnehin nur theoretische Diskussionen zu dieser Frage führen können, sollten wir schon aus Gründen der Selbstachtung und internationalen Reputation zu einem sachlichen und nüchternen Gesprächsmodus finden, aus dem allein vielleicht auch international beachtete Lösungsvorschläge kommen könnten. Indessen dürfte das angesichts der Qualität unseres politischen Personals und der tiefen Spaltung in unserer Gesellschaft ein frommer Wunsch bleiben.