Die Menschen unseres Kulturkreises haben im allgemeinen nur noch eine schwache Rückbindung an den christlichen Glauben oder überhaupt an Gewißheiten jenseits des Profanen. Ob wir die Bedeutung des Wortes Religion mit Cicero von relegere ableiten und damit die gewissenhafte Einhaltung überlieferter Regeln meinen oder mit Lactantius von religare und damit eine Rückbindung an Gott bezeichnen: Religion ist etwas, was über den Alltag mit seinem Kampf um die Existenz, dem Streben nach Wohlstand, der Sorge um die Gesundheit und all die anderen Dinge, denen wir verhaftet sind, hinausführt. Damit sind wir auch ausreichend beschäftigt, häufig mehr als das. Tod und Teufel, Himmel und Hölle, Gott und Jüngstes Gericht haben in der Hektik des täglichen Lebens, die uns immer mehr fordert, keinen Platz. Darum ist Religion für die meisten Menschen unseres Kulturkreises bestenfalls noch Nebensache, während das Leben unserer Vorfahren im vorindustriellen Zeitalter noch in erster Linie von der Religion bestimmt war. Davon zeugen heute noch Kathedralen und Klöster in großer Zahl und geben uns eine leise Ahnung davon, was für sie das wichtigste war.
Doch es gibt eine Ausnahme von diesem Befund. Weihnachten fasziniert selbst solche Menschen, die dem Christentum fern stehen, und zwar jenseits von allem Kitsch und Kommerz. Besinnliche Stunden im Kreise der Familie, zur Besinnung kommen, den Alltag einmal hinter sich lassen, mindestens das macht Weihnachten aus, und daran will man festhalten. Worin liegt nun der Zauber, der das bewirkt? Oder ist es vielleicht gar kein Zauber, sondern etwas ganz anderes, etwas, das dem Menschen unseres Kulturkreises eigen ist, gewissermaßen auf der DNA verankert?
Die Antwort kann uns vielleicht das Bild der Weihnachtskrippe geben. Die Sprache der Bilder ist wirkmächtiger als es Texte sein können. Sie vermögen offenbar Saiten in uns anzuschlagen, die sonst nicht berührt werden. Sie führen uns von der Oberfläche der visuellen Wahrnehmung in die Tiefen des Unbewußten und lassen uns fühlen, was wir kaum in Worte fassen können. Die mit handelnden Personen sparsam besetzte Weihnachtsgeschichte enthält in ihrer Bildsprache doch die Summe dessen, was das Leben eigentlich ausmacht, und was wir von ihm auch erwarten: Die Eltern mit dem Neugeborenen und die Hirtenfamilien in drei Generationen als Symbol des Lebens überhaupt, die Tiere und Feldfrüchte als Grundlage unserer Existenz, die Könige als Abbilder einer guten Regentschaft, der Soldat als Beschützer und der Engel als Künder der Botschaft, die weit über das irdische Leben in die Ewigkeit hinausweist: das alles rührt an die tiefe Sehnsucht der Menschen nach Geborgenheit und Sinnerfüllung, die sie sich selbst nicht geben können. Die Botschaft, die von diesem Bild ausgeht, sie rührt an unser Innerstes. Sie ist deswegen so eindringlich und hat die Kraft, uns jedenfalls die kurze Frist der Weihnachtstage gefangen zu nehmen, so daß wir alles andere einmal hinter uns lassen können. Sie bewirkt das offensichtlich auch bei der großen Mehrheit, die sonst nach innen eher taub ist.
Ich wünsche allen meinen Lesern frohe Weihnachten!