Der Blick über den Zaun, in diesem Falle der Blick in ausländische Zeitungen, lohnt sich häufig. Das gilt besonders für die Neue Zürcher Zeitung, die auf festgefügt liberalem Fundament stehend unabhängig und kritisch das Zeitgeschehen kommentiert. Aus deutscher Sicht ist dabei vieles erfrischend realistisch. Der verbiesterte, moralinsauer aufgeladene Zeitgeist mit dem erhobenen Zeigefinger, der in Deutschland Politik und Medien so unangenehm dominiert, fehlt hier weitestgehend. In der Ausgabe vom 07.08.2021 hat sich der Chefredakteur des Blattes, Eric Gujer, grundsätzlich mit der Coronapolitik auseinandergesetzt. Der Artikel ist derart luzide, daß ich mir erlaube, ihn nachstehend wortwörtlich wiederzugeben:
> Der pandemische Zeitgeist
Corona hat den Umgang mit Krankheiten fundamental verändert. Waren früher Ansteckungsgefahren Teil des Lebens, diktieren heute abstrakte Kennzahlen eine Null-Risiko-Strategie. Es ist Zeit, zur Normalität zurückzukehren.
Inzwischen gibt es Impfstoff für alle – und er wirkt. Die Zahl der Personen, die trotz doppelter Impfung an Covid-19 erkranken, ist verschwindend klein. Während die Neuinfektionen wieder zunehmen, verharren die Spitaleintritte und Todesfälle auf niedrigem Niveau. Warum also kehrt die Gesellschaft nicht endlich zum Normalbetrieb zurück? Weil der pandemische Zeitgeist regiert.
Der pandemische Zeitgeist bedeutet die Kontrolle der Gesellschaft im Zeichen eines absolut verstandenen Gesundheitsschutzes. Dieser beruht auf drei Elementen: einer hypergenauen Diagnostik, einer gigantischen Organisation und Eingriffen in die Grundrechte. Anderthalb Jahre mit einer für die wohlstandsverwöhnte Moderne einzigartigen Herausforderung haben die Wahrnehmung in einseitiger Weise konditioniert. Politikern und Heerscharen von Public-Health-Beamten in Verwaltung und Wissenschaft fällt es schwer, die Welt in anderen Kategorien zu denken als in 7-Tage-Inzidenzen, Testzahlen oder Impfquoten. Die für einen einzelnen Erreger geschaffene Sonderorganisation läuft noch auf Hochtouren, obwohl die Dringlichkeit etwa bei den Impfungen nachlässt.
Corona deutet die Welt
Inzwischen hat ein neuer Biologismus Einzug gehalten, wie man ihn seit der Verbreitung von Darwins Lehre im 19. Jahrhundert nicht mehr kannte. Obwohl menschliches Leben doch unendlich mehr ist als seine Vitalfunktionen, scheinen diese gegenwärtig der dominierende Maßstab zu sein. Sah der darwinistische Zeitgeist Begriffe wie den „Kampf ums Überleben“ und die „natürliche Selektion“ als Metapher für die Gesellschaft schlechthin, hat sich heute die Pandemie als das zentrale Muster zur Erklärung der Welt etabliert.
In dieser Perspektive nimmt sich für viele Kontinentaleuropäer Boris Johnsons Proklamation des „Freedom Day“ mit der Aufhebung aller Einschränkungen als frivol bis unverantwortlich aus. Dass unterdessen die Fallzahlen auf der Insel sinken, kommt da ungelegen, ist letztlich aber nicht entscheidend. Wichtiger ist das von Johnson verteidigte Prinzip, sich das Leben nicht von abstrakten Kennzahlen diktieren zu lassen, sofern dafür nicht ein zwingender Grund vorliegt.
Der deutsche Epidemiologe Gerard Krause plädiert deshalb in einem Interview mit der „Welt“ dafür, sich zu vergegenwärtigen, wie sehr sich der Umgang mit Infektionskrankheiten verändert hat. Früher legte man sich bei Anzeichen einer Grippe ins Bett und suchte den Arzt allenfalls dann auf, wenn sich die Symptome verschlimmerten. Dieser verschrieb dann meist nach bloßem Augenschein Medikamente. Keine Behörde erfuhr von der Erkrankung, der Fall ging in keine Statistik ein, keine Zeitung kommentierte das Infektionsgeschehen. Dabei kann eine schwere Grippe einen ähnlichen Verlauf wie „Long Covid“ nehmen.
Wie anders sei die Situation heute, so Krause: „Wir haben einen riesigen diagnostischen Apparat aufgebaut, in dem wir Leute testen, selbst wenn sie keine Beschwerden haben. Würde man jeden Nasenabstrich auf die gängigen fünf oder zehn anderen Atemwegsinfektionen testen, könnte rasch der Eindruck entstehen, wir hätten zusätzliche enorme Epidemien. Zum Beispiel würden wir häufig Meningokokken finden – um nur einen Erreger zu nennen, der im Gegensatz zu Covid-19 bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich häufig dramatische Erkrankungen verursacht.“
Corona ist zum Paradigma der Gegenwart geworden, also zum Deutungsmuster für die stets widersprüchlichen Fakten. Um Ordnung in der Welt zu schaffen, braucht es Paradigmen, zugleich kreieren sie ein neues Problem: Tatsachen werden so lange interpretiert, bis sie in den Rahmen passen. So hieß es zu Beginn der Pandemie, um die verletzlichen Personen, die Alten und Kranken, zu schützen, seien Freiheitsbeschränkungen für alle zwingend erforderlich. Die vulnerablen Gruppen sind inzwischen zu 80 % geimpft, reichen als Grund für Verbote folglich nicht mehr aus.
Mit der allgemeinen Verfügbarkeit des Impfstoffs hat sich die Lage fundamental verändert. Der gefährdete Teil der Bevölkerung ist geschützt oder hat die Möglichkeit, sich zu schützen. Andere Personen, die sich jetzt mit dem Coronavirus anstecken, tragen kein höheres oder sogar ein geringeres Risiko als bei anderen Atemwegserkrankungen – mit dem Unterschied, dass nur wegen Covid-19 flächendeckende Restriktionen gelten.
Eine Inzidenz von 600 ist heute nach allem, was man weiß, nicht kritischer als im letzten Winter eine Inzidenz von 200. Anstatt dies zu akzeptieren und die Verbote aufzuheben, werden die Fakten passend gemacht. Nun heißt es, man müsse die Kinder und Jugendlichen sowie den Schulbetrieb schützen. Die Argumentation des Vorjahres wird einfach auf den Kopf gestellt. Abgesehen davon, dass auch Zwölfjährige geimpft werden, zeugt die Begründung von einem pervertierten Risikoverständnis. Schulbetrieb wäre demnach nur noch möglich, wenn Gefahren zu 100 % ausgeschlossen werden können. Anderenfalls soll die gesamte Gesellschaft durch Freiheitsverlust in Mithaftung genommen werden
Obrigkeitsstaat kehrt zurück
Geht man bis in die frühen siebziger Jahre zurück, sieht man, wie sehr sich die Wahrnehmung verschoben hat. Damals hatte sich die Masernimpfung noch nicht als Standard durchgesetzt. Obwohl Masern schwerste Schäden verursachen können, fiel der Unterricht nicht aus. Die Krankheit wurde als Teil des Lebensrisikos hingenommen. Kein Politiker wäre deswegen auf die Idee gekommen, die Schulen zu schließen oder gar die ganze Bevölkerung Beschränkungen zu unterwerfen. Niemand wird dafür eintreten, Kinder und Jugendliche einem Erreger auszusetzen, nur weil es früher nicht anders ging. Aber das Beispiel zeigt, dass eine Null-Risiko-Mentalität keine Lösung darstellt.
Die moderne Medizin mit ihrer hochsensiblen Diagnostik eröffnet einen anderen Erkenntnishorizont als vor 50 Jahren. Diesen zu nutzen, ohne in Extreme zu verfallen, etwa in eine permanente Biopolitik im Namen der Volksgesundheit und der Vernichtung eines Virus, bleibt eine Herausforderung. Nicht umsonst lässt die Bibel das Paradies enden, nachdem der Mensch von den Früchten der Erkenntnis gegessen hat.
Was die Pandemie mit dem Körper macht, ist das eine; was sie mit den Köpfen macht, etwas völlig anderes. Es ist an der Zeit, die in den letzten anderthalb Jahren antrainierten Denkschablonen infrage zu stellen. Den pandemischen Zeitgeist auszutreiben, ist ungleich mühevoller, als kurz den linken Oberarm hinzuhalten, aber nicht minder notwendig.
Die Mehrheit hat sich an Verbote gewöhnt, so wie sie es vor dem März 2020 gewohnt war, keine Maske zu tragen. Gegenwärtig herrscht ein graues Zwischenreich, in dem manche Gebote noch gelten, während zugleich Lockerungen Einzug halten. So wie derjenige, der Schwimmen lernt, sich überwinden muss, ins tiefe Wasser vorzudringen, müssen wir uns einen Ruck geben, um ein Leben ohne Einschränkungen zurückzugewinnen
Weg mit den Verboten
Wer aber wird im Herbst noch einen Eisenbahnwagen voll schniefender Zeitgenossen ohne Maske betreten, selbst wenn ihn keine Verordnung zum Tragen des Gesichtsschutzes verpflichten sollte? Auch deshalb war es auf dem Höhepunkt der Pandemie so wichtig, auf die Freiheit des Einzelnen zu pochen: damit dieser gewappnet ist für den Tag, an dem ihm das Denken nicht mehr abgenommen wird. Damit er nicht verlernt, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen.
Damit mögen nicht alle gleichermaßen zurecht kommen. Im Vergleich der drei deutschsprachigen Staaten scheint es den Deutschen am schwersten zu fallen, ohne die Schwimmhilfen des pandemischen Obrigkeitsstaates auszukommen. Die Politiker sind am populärsten, die wie Markus Söder die Bürger am meisten bevormunden.
Obwohl immer mehr Wissenschafter darauf hinweisen, wie irrational es sei, die Strategie allein an Infektionszahlen auszurichten, halten die deutsche Regierung und die Länder daran fest. Ja, man zwingt jetzt ausnahmslos alle Ferienheimkehrer, einen Gesundheitsnachweis zu erbringen. Dass sich dies nicht sinnvoll kontrollieren lässt, bekümmert den von seiner Machtfülle berauschten Maßnahmenstaat wenig. Doch selbst Deutschland sollte endlich Abschied nehmen von der Biopolitik des Ausnahmezustandes und zur Normalität zurückzukehren. Nicht nur Großbritannien, auch der Kontinent hat einen Freiheitstag verdient. <
Anmerkung:
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in das Reich Gottes gelangt, heißt es in der Bibel. Die Lebenserfahrung der Gegenwart läßt die Abwandlung zu: eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Politiker von der Macht ablässt. Die Politik hat sich im Corona-Regime häuslich eingerichtet. Als vermeintlicher Corona-Besieger im Lichte der Öffentlichkeit zu stehen, muß doch wohl die Wahlchancen explodieren lassen. Genau deswegen wird jedenfalls vor dem 26. September 2021 die deutsche Politik stur an dem irrwitzigen Corona-Regime festhalten. Wir sollten uns merken, wer seine Machtgelüste über die Grundrechte der Bürger stellt.