Julian Assange ist frei. Jenseits der tagespolitischen Diskussionen will ich das grundsätzliche ethische und juristische Problem des Falles kurz anreißen. Die Rechtslage ist ja so, daß Assange zweifelsfrei gegen Gesetze der USA verstoßen hat, die eben militärische Geheimnisse auch mit den Mitteln des Strafrechts schützen. Auf der anderen Seite sind die von ihm aufgedeckten Kriegsverbrechen so unerträglich, daß sich die Frage erhebt, ob ein Staat wirklich für sich in Anspruch nehmen kann, derartige Dinge geheim halten zu dürfen, mit der Folge, daß die Aufdeckung derartiger Kriegsverbrechen nach nationalem Recht jedenfalls als Straftat verfolgt werden muß.
Recht über das Gesetz hinaus
Die deutsche Rechtsordnung kennt das Rechtsinstitut des übergesetzlichen Notstandes, der dann gegeben ist, wenn zwar nach dem Buchstaben des Gesetzes die Handlung des Täters strafbar wäre, er aber aus übergeordneten Gesichtspunkten gegen das Gesetz verstoßen darf. Das gilt nach deutschem Recht allerdings nur für eine gegenwärtige und unmittelbare Gefahr für Leib und Leben Dritter, die nicht anders abgewendet werden kann, als eben durch eine Tat, die nach dem Buchstaben des Gesetzes mit Strafe bedroht ist. Im Falle der von Assange aufgedeckten Kriegsverbrechen ist dies jedoch anders. Indessen erhebt sich die Frage, ob der Rechtsgedanke des übergesetzlichen Notstandes auch dahingehend ausgeweitet werden muß, daß auch dann, wenn zwar nicht unmittelbar Gefahr für Leib und Leben besteht, die nicht anders, als durch Gesetzesverstoß abgewandt werden kann, straffrei ausgehen muß, wer gegen Gesetze verstößt, die im Ergebnis Unrecht verdecken und verhindern, daß Unrecht auch gesühnt wird.
Das scheint mir im vorliegenden Falle so zu sein. Zwar hat Assange gegen amerikanisches Recht verstoßen, das letztendlich zum Schutze der amerikanischen Soldaten dient, allerdings im Ergebnis auch dazu führt, daß es sie vor der Verfolgung von Kriegsverbrechen schützt. Hier stellt sich doch die Frage, ob nicht übergeordnetes Recht es nicht nur erlaubt, sondern sogar erfordert, daß nationales Recht zurücktreten muß, wenn überragende allgemeine Rechtsprinzipien entgegenstehen. Und ein solches überragendes allgemeines Rechtsprinzip ist, daß auch im Kriege Zivilbevölkerung, Kriegsgefangene und sonstige Nichtkombattanten geschützt werden müssen. Wenn die Rechtsordnung eines Staates dem entgegensteht, dann muß nach dem Weltrechtsprinzip diese Rechtsordnung weichen, wenn nicht anders das natürliche Recht durchgesetzt werden kann.
Der Präzedenzfall
Bemerkenswert ist, daß im vorliegenden Falle die Weltmacht Nr. 1, die USA, letztendlich dem Druck der internationalen Gemeinschaft – nicht der rechtlich verfassten Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen – sondern der Gemeinschaft der zivilisierten Bürger vieler Länder, aber auch solcher Staaten wie Australien, nachgeben mußte. Dieser Sachverhalt kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn er begründet jedenfalls die leise Hoffnung darauf, daß auch künftig jedenfalls in dem ein oder anderen Falle Recht vor Macht gehen kann.