Kriegstreiberei oder Klugheit?

Zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit gehört der derzeit grassierende Pazifismus von rechts. Nicht nur die gemäß Art. 51 der UN-Charta zulässige Unterstützung eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates bei seiner Selbstverteidigung wird mit dem Verdikt der Kriegstreiberei belegt. Dabei kann die bloße Lieferung von Waffen an das angegriffene Land nicht als Teilnahme am militärischen Konflikt gewertet werden. Ich habe das unter Angabe von Belegstellen aus der völkerrechtlichen Literatur in meinem kurz nach Kriegsbeginn erschienenen, knapp gehaltenen Büchlein „Tatort Ukraine“ auf S. 55 ff. erläutert. Auch die Aufrüstung der NATO als Reaktion auf die aggressive Politik Russlands sehen selbst viele Zeitgenossen so, die während des kalten Krieges die Verteidigungsanstrengungen des Westens als eher unzureichend kritisiert haben. Das gibt nun doch Veranlassung, die oben formulierte Frage zu stellen und zu prüfen, was die Antwort darauf sein muß. An dieser Stelle wird nicht geprüft, ob und in welchem Umfang die finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine in unserem eigenen Interesse liegt.

Die militärischen Kräfteverhältnisse

Außer den üblichen pazifistischen „lieber rot als tot“ Parolen wird als vermeintlich rationales Argument angeführt, die militärischen Kräfteverhältnisse seien doch so, daß Russland der NATO militärisch weit unterlegen sei. Russland sei daher erst gar nicht in der Lage, die NATO anzugreifen. Also könne die Aufrüstung der NATO nur den Sinn haben, einen Angriff auf Russland vorzubereiten. Man kann man gegen Angstparolen wie „lieber rot als tot“ sachlich nicht argumentieren. Leute die so reden, bedürfen vielleicht des tröstenden Zuspruchs ihrer Oma oder der Kirche. Mit den Argumenten zu den militärischen Kräfteverhältnissen kann man sich jedoch rational auseinandersetzen, und das werde ich nun tun.

Auch ganz unabhängig von der aggressiven Rhetorik Putins und seiner Paladine ist stets und fortlaufend zu prüfen, wie die militärischen Kräfteverhältnisse sind, und welche Optionen potentiellen Gegnern daraus erwachsen. Das beginnt natürlich bei der geopolitischen Lage, die hinsichtlich Europas und Amerikas einerseits mit der Herzland-Theorie des britischen Geographen Halford Mackinder (1861 – 1947) und andererseits in den Betrachtungen zur Seemacht des US-amerikanischen Admirals Alfred Thayer Mahan (1840 – 1914) gut dargestellt werden. Zwar ist es grundsätzlich richtig, daß ein potentieller Angreifer über überlegene Kräfte und Mittel verfügen muss. Indessen zeigt die Kriegsgeschichte, daß dies keineswegs immer der Fall gewesen ist. Vielmehr haben machtbewusste Herrscher immer wieder auch aus der Position der numerischen Unterlegenheit heraus Kriege begonnen und bisweilen auch erfolgreich beendet.

Die aktuellen Zahlen

Vordergründig trifft es natürlich zu, daß die NATO Russland und seinem Satelliten Belarus militärisch weit überlegen ist. Wenn man das gesamte militärische Personal (aktive Soldaten und Reservisten sowie paramilitärische Kräfte) beider Seiten in den Blick nimmt, so stellt man derzeit auf Seiten der NATO 8.658.382 Angehörige der Streitkräfte, auf Seiten Russlands einschließlich Belarus 3.904.870 Waffenträger fest. Putin kann also nur über etwa 45 % der Truppenstärke verfügen, die ihm auf Seiten der NATO gegenübersteht. Indessen zeigt die Kriegsgeschichte, daß dies nicht entscheidend sein muss.

Was uns die Kriegsgeschichte lehrt

Beginnen wir mit einem Beispiel aus der neueren Geschichte. Als Hitler am 10.5.1940 den Frankreichfeldzug begann, zählten die deutschen Streitkräfte 2.760.000 Soldaten, die der verbündeten Franzosen und Briten deren 3.740.000. Das Ergebnis ist bekannt. Trotz einer numerischen Unterlegenheit von 73 % schlug die Wehrmacht Frankreich binnen sechs Wochen vernichtend und jagte das britische Expeditionskorps über den Ärmelkanal nach Hause. Auch in dem kleineren Maßstab eines Kriegsschauplatzes oder auch nur einer Schlacht zeigt sich regelmäßig, daß der militärische Erfolg nicht unbedingt von den Kräfteverhältnissen abhängt. Die deutsche Wehrmacht eroberte zwischen dem 20. Mai und dem 1.Juni 1941 mit einer Streitmacht von nur 22.000 Soldaten die von 42.600 britischen und neuseeländischen Soldaten, unterstützt von griechischen Partisanen, verteidigte Insel Kreta. Das Kräfteverhältnis lag also zu Ungunsten der Deutschen bei 51,7 % der feindlichen Truppen.

Gehen wir etwas weiter in der Geschichte zurück. Napoleon besiegte am 2.12.1805 bei Austerlitz die vereinigten russisch-österreichischen Truppen, 85.400 Mann stark, mit lediglich 73.000 Soldaten, also nur 85 % der Truppenstärke, über die der Feind verfügte. Friedrich der Große siegte mit nur 35.000 Soldaten in der Schlacht bei Leuthen am 5.12.1757 gegen das mit 66.000 Mann nahezu doppelt starke Heer der mit Württemberg und Bayern verbündeten Österreicher. Alexander der Große besiegte in der Schlacht am Granikos 334 v. Chr. mit seinen 37.000 makedonischen und griechischen Hopliten die ca. 100.000 Mann starke persische Streitmacht. Drei Jahre später war er in der Schlacht bei Gaugamela trotz noch ungünstigeren numerischen Kräfteverhältnisses von 47.000 eigenen Soldaten und an die 200.000 Soldaten des Perserkönigs Darius III. erfolgreich, also mit lediglich 23 % der Soldaten, die der Feind aufbieten konnte. Und auch der Erfolg Hannibals in der berühmten Schlacht bei Cannae 216 v. Chr. zeigt, daß es nicht auf die schiere Zahl der Soldaten ankommt, sondern auch das militärische Können des Feldherrn den Ausschlag geben kann. Denn den ca. 86.000 römischen Legionären standen lediglich etwa 50.000 Karthager gegenüber, also gerade mal 58 % der Truppenstärke des Feindes.

Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit

Es ist auch die Pflicht der Offiziere in den Planungsstäben aller Armeen der Welt, die Entwicklung der Streitkräfte rundum in den Blick zu nehmen und die daraus erwachsenden militärischen Optionen nüchtern zu beurteilen. Auf dieser Basis müssen sie ihre Regierungen beraten und selbstverständlich unter Zugrundelegung des Worst Case Szenario Vorschläge zu Aufwuchs und Ausrüstung der Streitkräfte machen. Denn die Geschichte lehrt, daß auch machtpolitisch gilt: Gelegenheit macht Diebe. Nichts anderes tun derzeit die Generäle und Stabsoffiziere der Bundeswehr. Wenn sie als die militärischen Fachleute zu dem Ergebnis kommen, daß Russland in wenigen Jahren über eine Angriffskapazität verfügen wird, dann muss man insbesondere angesichts einer außenpolitisch aggressiven Führung dieses Landes entsprechende Vorbereitungen treffen. Denn schon die Römer wussten: si vis pacem, para bellum. Weder weiß man genau im Voraus, wen der Gegner angreifen wird, noch wer einem zu Hilfe eilen wird. Wer das für Kriegstreiberei hält, versteht von der Materie offensichtlich wenig bis nichts. Wenn sich gelernte Militärs für derartige Kampagnen hergeben, dann müssen sie über ihr fachliches Wissen hinwegsehen. Das muss man dann so einstufen, wie die regelmäßig falschen volkswirtschaftlichen Prognosen von Marcel Fratzscher und Claudia Kemfert, die ja mehr von der politischen Einstellung als der fachlichen Qualifikation getragen sind.