Der 23. Juni 2016 wird jedenfalls in den nächsten Jahrhunderten als historisches Datum gewertet werden. Erstmals hat ein Mitgliedstaat der Europäischen Union von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sie zu verlassen. Diese Möglichkeit gibt es in der Europäischen Union auch erst seit dem Lissabon-Vertrag vom 13. Dezember 2007. Das ist ein durchaus interessanter Aspekt. Denn jahrzehntelang war es offenbar gar nicht denkbar, daß ein Land die Europäische Union bzw. ihre Vorläufer wieder verläßt. Das Projekt Europa schien als Heilsversprechen für eine friedliche und prosperierende neue europäische Ordnung als Gegenentwurf zum jahrhundertelang existierenden Gegeneinander der Nationalstaaten fest in der Vorstellungswelt der Menschen in Europa verankert. Daß diese Vorstellungen in mancherlei Ausprägung als politische Romantik betrachtet werden müssen, wollen wir einmal beiseite lassen. Die Wirklichkeit der europäischen Politik der letzten Jahrzehnte hat der so definierten europäischen Idee derart geschadet, daß in ganz Europa, nicht nur in Großbritannien, eine tiefgreifende Unzufriedenheit um sich gegriffen hat, die dieses Projekt zum Scheitern bringen muß. Auch in den Staaten, in denen schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mit einer Volksabstimmung gerechnet werden kann, gibt es einen verbreiteten Unmut über die real existierende europäische Union. „Brüssel“ ist gewissermaßen zu einem Synonym für überbordende Bürokratie, einen anmaßenden Regulierungswahn nicht gewählter Politiker und eines undurchschaubaren Verwaltungsmolochs geworden. Deswegen haben ja auch die Franzosen und die Niederländer in Volksabstimmungen Bestrebungen durchkreuzt, den Brüsseler Bürokraten noch mehr Befugnisse zu geben. Der Brexit war nur die logische Fortsetzung dieser Entwicklung.
Aus einem weiteren Grund wird dieses Datum historisch genannt werden. Erstmals ist eine so tiefgreifende und weitreichende Entscheidung vom Volk selbst in einer parlamentarischen Demokratie ohne konstitutive plebiszitäre Elemente getroffen worden. Dies wird die in vielen europäischen Ländern virulenten Bestrebungen, die Befugnisse der Parlamente zugunsten von Volksentscheidungen zu beschneiden, vorantreiben. Im Hinblick darauf, daß wir es heute in einem weitaus größeren Ausmaß als in früheren Jahrhunderten mit informierten und daher zum eigenverantwortlichen Urteil befähigten Bürgern zu tun haben, ist dieser Trend durchaus zu begrüßen.
Beachtung verdient auch, daß die knappe Mehrheit von 51,9 % Befürwortern des Austritts aus der Europäischen Union trotz der massiven Werbung, man könnte auch sagen Propaganda, nicht nur der für den Verbleib in der Europäischen Union plädierenden Politiker, sondern auch einer nahezu einheitlichen Front von Unternehmern, Verbandsfunktionären, Hochschullehrern, Journalisten und sogar Künstlern zustande kommen konnte. Wenn daraus geschlossen werden kann, daß der Einfluß der genannten meinungsbildenden Wortführer zurückgeht, dann wäre auch dies zu begrüßen. Denn Immanuel Kant hat zu Recht von jedem Bürger verlangt: „sapere aude!“, zu deutsch: „denk gefälligst selber!“
Die Unkenrufe derer, die nun sowohl für Großbritannien als auch für die Staaten der Europäischen Union massive wirtschaftliche Einbrüche vorhersagen, werden sich aller Voraussicht nach als Schwarzseherei enttäuschter Verlierer herausstellen. Die wirtschaftlichen Interessen auf allen Seiten sind allemal stärker als politische Bedenken. Man wird auch in bilateralen Abkommen und mittels anderer Gestaltungsmöglichkeiten reichlich Mittel und Wege finden, gute Geschäfte miteinander zu machen. Das ist ja auch in unser aller Sinne.
Fazit, ausnahmsweise dem Anlaß angemessen in englischer Sprache: Good luck, Europe!.
Lieber Rainer,
Deinen ausgezeichneten Betrachtungen kann man nur zustimmen.
Auch ich habe nie die geradezu apokalyptischen Hochrechnungen der Wirtschaftverbände und Banken geteilt, die einen enormen Wohlstandsverlust für Deutschland im Falle des Brexit prognostizierten.
Jedoch etwas muss ich die von Dir gescholtenen Wirtschaftsvertreter, die sich wegen des Brexit Sorge machen in Schutz nehmen.
Fakt ist nämlich, dass bis dato UK für uns mit in Vergangenheit steigender Tendenz nach USA und Frankreich der drittwichtigste Exportmarkt, mit knapp 90 Mrd. € noch vor China ist.
Unser Aussenhandelssaldo mit UK lag 2015 sogar auf Platz 2.
Daraus ergibt sich die berechtigte Sorge der deutschen Firmen vor allem des Mittelstandes, wenn jetzt der Freihandel gestoppt und Zollschranken errichtet werden.
Zusätzlich ergeben sich durch den Brexit auch Gewinneinbrüche für deutsche Firmen wegen der veränderten Währungssituation.
Warum?: Die deutschen Direktinvestitionen in UK belaufen sich derzeit auf ca. 121 Mrd. das sind ca. 7 % unserer gesamten Auslandsinvestitionen.
Das bedeutet: die jetzt stattgefundene rasanteste Abwertung des Pfundes seit 30 Jahren hat einen gewaltigen Abschreibungsbedarf zur Folge.
Lieber Peter,
danke für Deine Einschätzung. Die Zahlen sind natürlich unbestreitbar. Ich vertraue hier einfach auf die Kraft des Marktes und die Vernunft der Leute, die dann die Verhandlungen im Detail führen werden. Außerdem gilt ja auch hier das Prinzip der kommunizierenden Röhren: Verluste auf einer Seite treten auf der anderen Seite als Gewinne auf. Wer sich in der Wirtschaft Sorgen macht, hat damit schon angefangen nach Lösungen zu suchen. Wäre es nicht so, hätten die Gewerkschaften schon längst die Marktwirtschaft zugrundegerichtet.