Preußen verläßt das Reich des Bösen

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges schien es international wie national einen Konsens darüber zu geben, daß Preußen insgesamt eine historische Fehlentwicklung sei, die den Charakter der Deutschen als autoritätsgläubig und militaristisch bestimmt und somit den Weg für Hitler gebahnt habe. Wenn die Deutschen in die Gemeinschaft der zivilisierten Nationen zurückkehren wollten, dann müßte ihnen alles Preußische ausgetrieben werden. Folgerichtig erließ der Alliierte Kontrollrat am 25. Februar 1947 sein Gesetz Nr. 46 zur Auflösung des preußischen Staates. Seine Präambel lautet:

„Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Geleitet von dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker und erfüllt von dem Wunsche, die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern, erläßt der Kontrollrat das folgende Gesetz:

Art. I Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst.“

Christopher Clark führt dazu in seinem Werk „Preußen, Aufstieg und Niedergang 1600-1947 “ aus: „Das Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats war weit mehr als ein bloßer Verwaltungsakt. Indem sie Preußen von der europäischen Landkarte tilgten, fällten die alliierten Behörden zugleich ihr Urteil über dieses Land. Preußen war kein deutsches Land wie jedes andere, auf einer Stufe mit Baden, Württemberg, Bayern oder Sachsen. Preußen war der eigentliche Ursprung der deutschen ‚Krankheit‘, die Europa ins Unglück gestürzt hatte. Preußen war der Grund, warum Deutschland den Pfad des Friedens und der politischen Moderne verlassen hatte. ‚Das Herz Deutschlands schlägt in Preußen‘, sagte Churchill am 21. September 1943 im britischen Parlament. ‚Hier liegt der Ursprung jener Krankheit, die stets neu ausbricht.‘ “

Generationen von Deutschen sind seither mit der Gewißheit aufgewachsen, daß das Preußentum ein Irrweg der Geschichte gewesen sei, ja daß der Gang der Geschichte die preußische Idee von Gesellschaft und Staat widerlegt habe. Folgerichtig ließen die Schulbücher ebenso wie Literatur und Film kein gutes Haar an Preußen. War dies schon in der Nachkriegszeit unübersehbar, so wurde dies nach 1968 noch verstärkt, soweit das überhaupt noch möglich war.

Um so erstaunlicher ist es, daß sich seit wenigen Jahren ein Sinneswandel andeutet. Historiker wie Christopher Clark, dessen zitiertes Buch 2007 erschienen ist, gehen vorsichtig an eine Neubewertung des Phänomens Preußen. Einen großen Schritt hin zu einer sachlichen Beurteilung, ja in Ansätzen sogar Wertschätzung Preußens geht nun der Historiker Frank-Lothar Kroll, Hochschullehrer und Vorsitzender der Preußischen Historischen Kommission. In dem monatlich erscheinenden populärwissenschaftlichen historischen Magazin „G/Geschichte“ aus dem Bayard Media Verlag, das mit einer gedruckten Auflage von 50.000 einen für diesen Gegenstand beachtlichen Leserkreis erreicht, bewertet er Preußen so:

„Es basierte auf Autorität, Hierarchie und Eliteformung ebenso wie auf dem typisch preußischen Stil der < Freiheit in der Gebundenheit des Dienstes> mit seinem Ethos bewußter Hinordnung auf ein überpersönliches Ganzes, auf den Staat und auf die Gemeiinschaft als Ausdruck des kollektiven Besten. Solche Charakterzüge stehen derzeit nicht unbedingt hoch im Kurs, sie wirken beinahe wie ein Kontrastprogramm zu unserer Gegenwart. Doch das ist nur die eine Seite. Zum Mythos Preußens und zu den lang andauernden Prägekräften seines Herrscherhauses gehörten auch andere Leitgrößen – allen voran eine äußerst tolerante Asylpraxis, die Flüchtlingen aus ganz Europa Aufnahme gewährte, Minderheiten jeglicher Art und Herkunft achtete und Preußen zu einem der beliebtesten Einwanderungsländer der frühen Neuzeit machte. Anders als in den meisten größeren Reichsterritorien lebten in Preußen seit dem frühen 17. Jahrhundert zahlreiche religiöse Kleingruppen auskömmlich miteinander, seit 1685 fanden nahezu 20.000 zumeist hochqualifizierte reformierte Glaubensflüchtlinge aus Frankreich den Weg nach Brandenburg-Preußen. Daß die Hohenzollern ihre sprichwörtlich gewordene Religionstoleranz dabei wesentlich aus Gründen des staatlichen Nutzens gewährten, verweist auf den spezifisch preußischen Charakter dieser Tugend.

Neben dem Toleranzprinzip bildet der Komplex Militär und Krieg einen zweiten mythenschaffenden Bestandteil hohenzollerscher Politik. Forscher haben zwar gelegentlich errechnet, daß Preußen in der Teilnahme an allen seit dem 17. Jahrhundert geführten Kriegen signifikant weit hinter Frankreich, England, Russland und selbst Spanien zurückstand. Trotzdem gilt das Land bis heute als Hort des neuzeitlichen Militarismus. Richtig ist hieran, daß der Hohenzollernstaat 1740, im Todesjahr des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I., das viertgrößte stehende Heer Europas unterhielt, obwohl das Land flächenmäßig damals nur den 10. Platz, an Einwohnerzahl gar nur die 13. Stelle einnahm. Das war nur möglich, weil alle Kräfte auf die Bedürfnisse der Armee ausgerichtet waren.

Daß militärische Verhaltensformen die Gesellschaft vollständig durchdrungen hätten und, wie oft behauptet, das gesamte Sozialgefüge militarisiert war – davon kann gleichwohl nur sehr bedingt die Rede sein. Vielmehr bot der Militärdienst, der die einfachen Soldaten sozialisierte, gerade für die unteren Bevölkerungsschichten mannigfache Möglichkeiten, sich von alten, ständisch gebundenen Abhängigkeiten zu befreien und Selbstbewußtsein zu sammeln. So gesehen besaß der Armeedienst im alten Preußen eine emanzipatorische Komponente. Auch wenn die vermeintliche Militarisierung des Hohenzollernstaates vielerorts gefürchtet oder verachtet wurde, so wußten viele ausländische Beobachter ein anderes Charakteristikum Preußens sehr zu schätzen, das woanders – namentlich in Frankreich und in Russland – lange Zeit schmerzlich vermißt wurde: die Rechtsstaatlichkeit. Sie band die Obrigkeit bereits im 18. Jahrhundert an Gesetz und Recht – Friedrich der Große begann seine Herrschaft 1740 nicht zufällig mit der Abschaffung der Folter als erster Schritt zu einer Justizreform.

Freilich ließ der König das willkürlich gehandhabte Instrument herrscherlicher Machtsprüche weiterhin bestehen, weil er – fälschlicherweise – glaubte, dadurch richterlichen Machtmißbrauch korrigieren zu können. Erst das 1794 in Kraft getretene ‚Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten‘ hat die Rechtsstaatsidee in allen Provinzen des Landes weitgehend realisiert.

Eine weitere Kontinuität in der Herrschaftsausübung der Hohenzollern ist das oft unterschätzte, tatsächlich jedoch beachtenswerte kulturpolitische Engagement. Förderung der Kunst und Wissenschaft, Ausgestaltung der Akademien und Universitäten – all das nahmen die Hohenzollern nach dem militärisch-politischen Zusammenbruch des alten Preußen 1806/1807 vermehrt in Angriff. Geprägt vom Kulturstaatsideal des deutschen Idealismus und der Romantik führte vor allem Friedrich Wilhelm IV. sein Land in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer nie da gewesenen künstlerisch-kulturellen Blüte. Dieser König trat nicht nur als großzügiger Mäzen hervor, sondern wirkte auch selbst als schöpferisch begabter, keineswegs dilettierender Baukünstler. Er hat das Erscheinungsbild vieler Orte und Regionen Preußens mit geformt. Das traf selbst für den letzten preußischen König, Kaiser Wilhelm II. zu. Sein Eifer für den Ausbau des preußisch-deutschen Kulturstaates galt zahlreichen Feldern wissenschaftlichen, akademischen und universitären Forschens und wurde in der Spannweite von keinem zeitgenössischen Monarchen übertroffen.

Toleranz, Rechts-und Kulturstaatlichkeit, Sozialisation durch militärische Disziplin, Bildungspflege und Wissenschaftsförderung: All diese Stichworte bezeichnen – neben manchen unleugbar vorhandenen Schattenseiten – herausragende Kontinuitäten im politischen Stil der Hohenzollern. Und diesem Stil kann, verglichen mit anderen deutschen und europäischen Fürstenhäusern, keineswegs Rang und Bedeutung abgesprochen werden.“

Daß inzwischen Friedrich der Große auch weithin nicht nur als Feldherr und Eroberer, sondern auch als Schöngeist, Komponist, Schriftsteller und Förderer der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung seines Staates gesehen wird, rundet das Bild ab. Es scheint nicht mehr unrealistisch und vermessen, wenn man erwartet, daß Preußen wieder zu einem selbstverständlichen Pfeiler der nationalen Identität wird. Der von Kroll apostrophierte typisch preußische Stil der Freiheit in der Gebundenheit des Dienstes mit seinem Ethos bewußter Hinordnung auf ein überpersönliches Ganzes, auf den Staat und auf die Gemeinschaft als Ausdruck des kollektiven Besten als kollektiver Charakterzug der Deutschen unserer Zeit könnte dazu beitragen, den Herausforderungen gerecht zu werden, vor denen sie nun stehen. Und nur dann haben sie die Chance, auch weiterhin in einem von Toleranz, Rechts- und Kulturstaatlichkeit geprägten Land zu leben.

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