Erziehung zur Freiheit

Zu den Merkwürdigkeiten der politischen Debatte in Deutschland gehört zweifelsohne der Streit um das islamische Kopftuch. Es ist ja ohne jeden Zweifel ein Kleidungsstück, das den islamischen Glauben seiner Trägerin für alle Menschen in ihrer Umgebung sichtbar bekunden soll. Anders als das Kopftuch der Bäuerin früherer Zeiten, das ihr Haar vor Sonne, Regen und Staub schützen sollte, ist das also die Manifestation einer Weltanschauung, was natürlich eine gesellschaftliche, ja politische Bedeutung hat. Die Erwartung von Gesellschaft und Familie an die Frau, das Kopftuch zu tragen, kann gut und gerne als Ausdruck para-religiöser Machtansprüche gedeutet werden. Sicher ist jedenfalls, daß das Tragen des Kopftuchs die Entscheidung für eine Lebensform widerspiegelt, damit eine Gruppenzugehörigkeit formuliert und so einen Ein- bzw. Ausgrenzungsanspruch formuliert. Das Tragen des Kopftuchs definiert also eine Gruppenzugehörigkeit. Sicher ist zudem, daß es sich um eine Bekleidung handelt, welche die Gleichheit von Mann und Frau aufhebt. Genau deswegen ist der Streit darüber ja so politisch und so emotional. 

Kopftuchverbot in der Grundschule

Besonders bizarr erscheint die Diskussion darüber, ob auch in Deutschland, wie jüngst in Österreich geschehen, der Staat verbieten kann, daß minderjährige Schülerinnen das Kopftuch oder auch weitergehende Verhüllungen wie etwa Burka oder Niqab während des Schulbesuchs tragen. Mit dieser Frage wollen wir uns nun etwas näher befassen. Dazu hat kürzlich ein namhafter Verfassungsrechtler, Prof. Dr. Martin Nettesheim, ein Gutachten erstattet, in dem er zu dem Ergebnis kommt, daß der Staat selbstverständlich jedenfalls für Kinder bis zum Alter von 14 Jahren ein solches Verbot statuieren kann. Ab diesem Alter setzt nach deutschem Recht die sogenannte Religionsmündigkeit ein, womit Jugendliche nun selbst entscheiden können, ob und welcher Religionsgemeinschaft sie angehören wollen, oder ob sie überhaupt ohne religiöse Bindung leben wollen.

Tatsächlich sehen wir in der Öffentlichkeit immer mehr Mädchen, die offensichtlich noch längst keine 14 Jahre alt sind, und doch dieses islamische Kopftuch tragen, das nach Auffassung wohl der meisten islamischen Geistlichen und Religionsgelehrten gemäß Koran von den muslimischen Frauen getragen werden soll. Daß dem dann jeweils eine eigenverantwortliche, auf einer ethisch-religiösen Reflexion beruhende Entscheidung zum Beispiel eines zehnjährigen Mädchens zu Grunde liegen soll, wie es uns Islamfunktionäre, aber auch linksgrüne Islamversteher weismachen wollen, wird wohl nur der glauben, der auch glaubt, daß Zitronenfalter Zitronen falten. Auch Politiker und Religionsfunktionäre sind gut beraten, wenn sie ihre Zeitgenossen nicht für naiv und ungebildet halten.

Europarecht und Religionsfreiheit

Wir können uns auf die Prüfung der Rechtslage in Deutschland konzentrieren. Denn das europäische Recht, hier die Europäische Menschenrechtskonvention, läßt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung, wie mit Religion in staatlichen Institutionen und dem öffentlichen Raum umgegangen werden soll, grundsätzlich einen weiten Beurteilungsspielraum. Das gilt gerade für das Spannungsfeld zwischen liberaler Gesellschaft, Schule und Islam. Das hat der Europäische Gerichtshof für die Menschenrechte in mehreren Entscheidungen, auch zum Thema Kopftuch, klargestellt. Es ist somit auch eine Frage der nationalen Souveränität, wie die Staaten damit umgehen. Österreich etwa hat vor wenigen Monaten ein Kopftuchverbot in Grundschulen verfügt. In Frankreich gilt wegen seiner Verfassungstradition der Trennung von Kirche und Staat ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst. Es ist somit eine Frage der Verfassungskultur, wie ein Staat mit der öffentlichen Manifestation abweichender gesellschaftlicher und/oder religiöser Überzeugungen umgeht.

Religion, Elternrecht, Schule und Grundgesetz

Die Diskussion um dieses Thema kreist naturgemäß um die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 3 GG – Religionsfreiheit in der Form der Religionsausübungsfreiheit – und aus Art. 6 Abs. 2 GG – das Grundrecht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder. Beides steht in einem Spannungsverhältnis zu Art. 7 Abs. 1 des Grundgesetzes, wonach das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht. Doch ist eine Betrachtung der Fragestellung nur aus dem Blickwinkel der zitierten Verfassungsbestimmungen nicht ausreichend, ihre Problematik hinreichend zu erkennen. Denn wie bei allen Gesetzen gilt gerade für die Verfassung in ihrem Grundrechtsbereich, daß ihr ein Vorverständnis und eine Zielrichtung zu Grunde liegt, die man erkennen muß, wenn man diese Bestimmungen zutreffend erfassen will.

Welches Menschenbild liegt unserer Verfassung zugrunde?

Unser Grundgesetz ist eine freiheitliche Verfassung. Ihr liegt ein Menschenbild zugrunde, das schon aufgrund der christlich-abendländischen Tradition das Individuum und nicht das Kollektiv in den Blick nimmt. Vor allem aber durch die seit dem 16. Jahrhundert immer stärker das abendländische Geistesleben prägende, Gesellschaft und Staat durchdringende Aufklärung, ist es die Grundüberzeugung der europäischen wie auch der aus ihnen hervorgegangenen Völker, daß der freie, selbstbestimmte Mensch das Maß aller Dinge ist. Dies ist das Vorverständnis, das der Formulierung der Grundrechte zu Grunde liegt, was sich besonders deutlich an der überragenden Bedeutung der Menschenwürde in Art. 1 des Grundgesetzes, aber auch der Begründung wesentlicher Freiheitsrechte wie des Rechts auf freie Meinungsäußerung in Art. 5 Abs. 1, oder dem Versammlungsrecht in Art. 8 unmissverständlich zeigt.

Erziehung zur Freiheit

Wenn das Grundgesetz in Art. 7 Abs. 1 das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates stellt, dann begründet dies die Verpflichtung, für eine Erziehung der Kinder im Sinne der Verfassung, also ihrer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu sorgen, den Kindern das nötige Rüstzeug für ein eigenverantwortliches, selbstbestimmtes Leben ebenso wie die grundlegenden Kenntnisse und Fertigkeiten, die zur Teilnahme am Erwerbsleben befähigen, zu vermitteln. Spiegelbildlich ergibt sich daraus auch das Recht des Staates, dies zu tun, ein Recht, das eben neben das Elternrecht zur Erziehung und das Menschenrecht auf Religionsfreiheit tritt. Denn die Verfassungsordnung des Grundgesetzes zielt auf die Errichtung und rechtliche Ordnung eines Gemeinwesens ab, in dem Menschen ein freies Leben in selbstbestimmter Autonomie führen. Das Grundgesetz schreibt einer unter staatlicher Verantwortung stehenden Schule zentrale Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung, Erziehung und Bildung junger Menschen zu. Das Elternrecht zur Erziehung der Kinder aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes verleiht einem erzieherischen Programm, das dem grundgesetzlichen Ziel widerspricht, eigenständige und autonome, beziehungs- und gemeinschaftsfähige Personalität zu entwickeln, keinen Schutz. Denn nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG wacht die staatliche Gemeinschaft über die Betätigung des Erziehungsrechts der Eltern.

Staatliche Erziehung schützt die Grundlagen des Staates im gesamtgesellschaftlichen Interesse

Das Bundesverwaltungsgericht läßt sich in seinen Entscheidungen zum Spannungsfeld von elterlichem Erziehungsrecht und staatlichem Erziehungsauftrag eben von diesen Grundsätzen leiten. Art. 7 Abs. 1 GG vermittelt dem Staat Befugnisse zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung des öffentlichen Schulwesens, seiner Ausbildungsgänge sowie des dort erteilten Unterrichts. Der Staat verfügt demnach über eine umfassende Schulgestaltungsmacht in organisatorischer wie inhaltlicher Hinsicht. Bei der Festlegung des schulischen Bildungs-und Erziehungsprogramms – dem Kernbereich seiner Schulgestaltungsmacht – verbleibt ihm Gestaltungsfreiheit. Diese Bestimmungsbefugnis muß beim Staat schon deshalb konzentriert sein, weil die diesbezüglichen Wünsche der Eltern regelmäßig voneinander abweichen werden. Dieser Bestimmungsbefugnis bedarf es aber auch, weil der Kanon der Schulfächer nicht ausschließlich Belange der Eltern und Schüler berührt. Ihre Auswahl kann Ordnungsvorstellungen sowie Qualifikationsmuster der nachwachsenden Generation beeinflussen. Sie ist insofern von gesamtgesellschaftlichem Interesse. Der herausragenden Bedeutung der Schule für die Gesellschaft wird nur ein solches Verständnis des Zusammenspiels von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 7 Abs. 1 GG gerecht, das von einer grundsätzlich ungeschmälerten, ausschließlich demokratisch gebundenen Gestaltungsfreiheit des Staates im Hinblick auf die Zusammensetzung des Fächerkanons ausgeht. Auch unabhängig vom jeweiligen Unterrichtsstoff ist davon auszugehen, daß die Schüler im Schulalltag, unter den Zwängen des schulischen Gemeinschaftslebens, auf vielfältige Weise mit ethisch fundierten Verhaltens- und Einstellungsgeboten konfrontiert werden und sie auf diese Weise verinnerlichen.

Historisches Verfassungsverständnis

Diese Vorschrift des Grundgesetzes muß auch geschichtlich verstanden werden. Schon in der Weimarer Reichsverfassung waren in Art. 148 die Grundsätze festgeschrieben, welche die Schulen zu vermitteln hatten. Dort war festgelegt, daß in allen Schulen sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tätigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben seien. Gemäß Art. 136 Abs. 1 der Weimarer Verfassung sollten die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden, sie standen also außerhalb des Einflusses der Religionsgemeinschaften. Die Vorschrift gilt über Art. 140 GG bis heute fort.

Eine freie Gesellschaft kann nur existieren, wenn ihre Grundlagen schon in der Schule vermittelt werden

Im Ergebnis ist also festzuhalten, daß der Staat von Verfassungs wegen in der Pflicht ist, die Kinder in der Schule im Geiste eben dieser freiheitlichen Verfassung zu erziehen. Sie sollen zur Freiheit erzogen werden, zu einer Freiheit, durch die sie zur Entwicklung einer selbstbestimmten, aber auch sozial integrierten und verantwortlichen Persönlichkeit angeleitet werden. Dem steht eine frühkindliche Prägung im Sinne des gegenteiligen Gesellschaftsentwurfs, wie er nun einmal im Islam angelegt ist, diametral entgegen. In diesem Konflikt zwischen der freiheitlichen Gesellschaft, die sich eben eine solche Verfassung gegeben hat und einem archaischen, religiösen Gesetzen unterworfenen Gesellschaftsbild, muß die staatliche Erziehung dafür Sorge tragen, daß die jungen Menschen so erzogen werden, daß sie später in der Lage sind, aufgrund eigener Kenntnis, Erkenntnis und Willensbildung selbst zu entscheiden, ob und welcher Religion oder Weltanschauung sie künftig folgen wollen. Wenn der Staat es jedoch duldet, daß dieses von der Verfassung vorgegebene Erziehungsziel dadurch gefährdet wird, daß Mädchen nicht nur im außerschulischen Bereich, sondern auch in der Grundschule ein islamisches Kopftuch als äußeres Zeichen des Glaubens tragen, zu dem ihre Eltern sie erziehen wollen, und der inhaltlich in weiten Teilen den Grundentscheidungen unserer Verfassung, etwa der Gleichheit von Mann und Frau, widerspricht, dann verfehlt er seinen Erziehungsauftrag.

Das Kopftuch ist nicht nur ein äußeres Zeichen

Es handelt sich eben nicht nur um ein äußeres Zeichen, sondern diese Bekundung der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wirkt auch nach innen, weil es seine kindliche Trägerin auf Schritt und Tritt daran erinnert, dieser Gemeinschaft anzugehören und sich damit von ihren Mitschülerinnen nicht nur äußerlich zu unterscheiden. Wenn dies, wie vielfach in Wirklichkeit, mit der Vermittlung eines Überlegenheitsgefühls gegenüber den sogenannten Ungläubigen einhergeht, dann verhindert dies tendenziell die Verinnerlichung eben der Freiheitsvorstellungen, zu denen die Schule doch erziehen soll. Daß dies alles natürlich auch auf die männlichen muslimischen Grundschüler durchschlägt, ist offensichtlich.

Mit dem Kopftuchverbot allein ist es nicht getan

Weil nun dieser Erziehungsauftrag dahin geht, die Kinder im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu eigenständig denkenden jungen Menschen zu erziehen, ist es natürlich nicht damit getan, ein äußeres Zeichen der Unterdrückung wie eben dieses islamische  Kopftuch aus der Grundschule zu verbannen. Vielmehr schließt die Erziehung zur individuellen Freiheit auch ein, religiös-gesellschaftliche Vorstellungen wie Speiseverbote, Ungleichheit von Mann und Frau, Ungleichheit von Gläubigen und „Ungläubigen“ in rechtlicher Hinsicht sowie den Vorrang der Religion vor dem Staat im Unterricht zu behandeln und den Schülern zu vermitteln, daß dies alles den Grundentscheidungen unserer Verfassung widerspricht. Dabei muß der Wert des Lebens in Freiheit herausgestellt und auch mit Beispielen des krassen Gegenteils, wie etwa des Lebens in einer streng islamischen Gesellschaft zum Beispiel in Saudi-Arabien, erläutert werden. Denn eine eigenverantwortliche Entscheidung, wie sie leben wollen, können nur solche Menschen treffen, die sich über die Alternativen im klaren sind.

Die wehrhafte Demokratie

Die Politik in Deutschland hat jahrzehntelang den Begriff der wehrhaften Demokratie wie ein Mantra vor sich her getragen, als es darum ging, dem Kommunismus den Einzug in die Beamtenschaft zu verwehren. Warum dies nicht auch im Hinblick auf freiheitsfeindliche religiöse Vorstellungen Geltung haben soll, erschließt sich jedenfalls unter Anlegung logischer Maßstäbe nicht. Gerade in unserer Zeit, in der ein freiheitsfeindlicher Islam – einen anderen kenne ich nicht – allenthalben versucht, die Gesellschaft zu verändern und in seinem Sinne Einfluß zu nehmen – von den Speiseplänen im Kindergarten bis zur Nichtteilnahme von Schülerinnen am Schwimmunterricht – erscheint es mir notwendig zu sein, daß schon in der Grundschule, aber auch darüber hinaus, die Freiheit gelehrt und verteidigt wird. Denn, so sagt das schöne alte deutsche Sprichwort: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“


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