Als Deutscher, der das Zeitgeschehen mit dem Wissen um die Tragik der deutschen Geschichte beobachtet, hätte man gern von seinem Präsidenten zum 75. Jahrestag der Kapitulation und damit des Kriegsendes in Europa eine Ansprache gehört, die der historischen Dimension des Jahrestages gerecht wird. An dieser Aufgabe ist Herr Steinmeier gescheitert.
Die falsche Gewichtung
Nicht daß der Bundespräsident in seiner Ansprache am 8. Mai 2020 wesentliche Aspekte völlig unterschlagen hätte. Nein, er wies zutreffend darauf hin, daß dieses Datum für die Deutschen das Ende von Bombennächten und Todesmärschen markierte. Was die Todesmärsche angeht, so gab es solche sowohl für die letzten Insassen der KZs, als auch für die Vertriebenen, etwa den berüchtigten Todesmarsch von Brünn. Wir wollen einmal unterstellen, daß Herr Steinmeier auch diese Todesmärsche gemeint hat. „Wir wollten erinnern“, so fuhr der Bundespräsident fort, – „auch mit den Älteren in unserem Land, die jene Zeit selbst erlebt haben. Hunger, Flucht, Gewalt, Vertreibung – alles das haben sie als Kinder durchlitten. Nach dem Krieg haben sie dieses Land aufgebaut, im Osten wie im Westen.“ Nun klingt darin wenigstens an, was den Deutschen widerfahren ist. Doch hätte man gerade im Hinblick auf die ausführliche Beschreibung des Leides, das anderen angetan worden ist, hier eine ausführlichere Darstellung erwartet.
Was den Deutschen widerfahren ist
Denn der 8. Mai 1945 steht auch für
ca. 1,5 Millionen deutsche Zivilisten, die durch die völkerrechtswidrige Bombardierung der deutschen Städte und den Beschuß von Tieffliegern ums Leben gekommen sind,
für ca. 3 Millionen deutsche Kriegsgefangene, die diese Gefangenschaft nicht überlebt haben, um das einmal ohne juristische Bewertung zu sagen,
für ca. 14 Millionen Vertriebene, die unter grausamsten Bedingungen davongejagt wurden, ihr Hab und Gut zurücklassen mußten und von denen ca. 2 Millionen Menschen Opfer des entmenschten Pöbels wurden, den gewissenlose Politikverbrecher wie Eduard Benesch aufgehetzt hatten,
ca. 2,5 Millionen deutsche Frauen, die von alliierten Soldaten vergewaltigt wurden, wobei sich unter den Tätern auch hunderttausende von Soldaten der Westalliierten befanden,
den Verlust von ca. 24 % des deutschen Staatsgebietes ohne Berücksichtigung von Elsass-Lothringen,
die Demontage, genauer gesagt, den Raub von Maschinen und Wirtschaftsgütern im Wert von rund 500 Milliarden $,
den Raub von Patenten und Rechten im Wert von ca. 5 Billionen $,
den Raub sämtlicher Goldreserven Deutschlands.
Von alledem sagte er nichts, außer der bereits zitierten blassen Andeutung. Statt dessen halluzinierte er eine Gefahr der Wiederkunft des Bösen, die sich in aufkommendem Nationalismus und virulenter Fremdenfeindlichkeit ankündige. Dagegen helfe, na was denn, Europa. Als ob irgend jemand in Deutschland ernsthaft die Wiederkehr der NS-Zeit herbeiwünschte! Thema verfehlt, aber die politischen Oberlehrer zufrieden gestellt.
Betrachtungen zu Schuldfragen sind an einem solchen Tag deplaziert
An einem solchen Gedenktag sollte auch nicht darüber gerichtet werden, ob und in welchem Ausmaß Deutschland sich schuldig gemacht hat. Schuldig machen können sich Völker ohnehin nicht. Schuldig machen können sich wenn überhaupt nur ihre Unterdrücker. Unter ihnen leiden in erster Linie ihre eigenen Völker. Natürlich auch die, auf die sich ihre Wut richtet. Im Falle Deutschlands eben in erster Linie die Juden, welcher Nationalität auch immer. Daß in ihrer Wahrnehmung der Holocaust formatfüllend die historische Szene beherrscht, ist verständlich. Denn für die Familie des Ermordeten ist kein Mord diesem gleich. Dies gilt dann aber auch für die anderen Familien, um im Bilde zu bleiben. Zum Beispiel für die Sudetendeutschen und ihr Leid. Im Falle der Sowjetunion eben alle, die als Klassenfeinde eingestuft wurden. Im Falle Chinas ebenso. Was Deutschland im speziellen angeht, so ist heute wohl nicht mehr strittig, daß von den ca. 80 Millionen Deutschen nur etwa 200.000 aktiv in die Mordmaschinerie der Nazis eingebunden waren. Hier von einer Schuld „der Deutschen“ schlechthin zu sprechen, ist einfach abwegig. Benedikt XVI. hat das seinerzeit in Auschwitz auf den Punkt gebracht : „Ich komme als Sohn des Volkes, über das eine Schar von Verbrechern mit lügenhaften Versprechungen, mit der Verheißung der Größe, des Wiedererstehens der Ehre der Nation und ihrer Bedeutung, mit der Verheißung des Wohlergehens und auch mit Terror und Einschüchterung Macht gewonnen hatte, sodaß unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und missbraucht werden konnte.“
Das historische Vorbild
Der erste Bundespräsident Theodor Heuss, ein wirklicher Staatsmann und Gelehrter und nicht bloßer Parteipolitiker, ein Mann, der den Aufstieg der Nationalsozialisten, ihre verbrecherische Herrschaft und ihr Ende mit wachen Augen beobachtet hatte, formulierte am 8. Mai 1949: “ Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ Mit diesen wenigen Worten ist Theodor Heuss eindrucksvoll gelungen, woran Frank-Walter Steinmeier kläglich gescheitert ist. Theodor Heuss verstand sich jedoch auch noch als Deutscher in der Kontinuität der Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen. Vom verdrucksten Wesen der political correctness, die in den Deutschen auf ewig das Volk mit dem Tätergen sehen will, konnte Heuss noch nichts wissen. Das ist auch mehr was für Zwerge.