Es gibt in Deutschland Leute, die von den tragenden Rechtsgrundlagen unseres Landes merkwürdige Vorstellungen haben. Das reicht von der Vorstellung, die Bundesrepublik Deutschland existiere von Rechts wegen nicht, weil nun einmal das Deutsche Reich bestehe und/oder die Bundesrepublik Deutschland ja gar keine Verfassung, sondern nur ein Grundgesetz habe. Diese Organisation könne daher allenfalls als GmbH oder AG betrachtet werden. Nun finden sich derartige Rechtsauffassungen im juristischen Schrifttum nirgends. Allein das sollte neutralen und verständigen Betrachtern des Zeitgeschehens genügend Anlass geben, die Rechtsauffassung dieser Zeitgenossen mit größter Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen. Etwa so, wie man die von der Schulmedizin weit abweichenden Vorstellungen von sogenannten „Heilern“ ohne irgendwelche medizinische Ausbildung, geschweige denn ein erfolgreich absolviertes Medizinstudium mit Approbation, als merkwürdige Vorstellungen von Außenseitern zur Kenntnis nimmt, denen man selbst wohl kaum zu folgen geneigt ist. Soweit ersichtlich, wird auch kaum jemand physikalische „Erkenntnisse“ von Menschen ohne abgeschlossenes Studium der Physik wirklich ernst nehmen. Indessen scheint generell die Bereitschaft mancher Menschen, auf dem Gebiet des Rechts eigenen Vorstellungen den Vorzug vor den Erkenntnissen der Rechtswissenschaft und den Urteilen der Gerichte zu geben, durchaus nicht ganz ungewöhnlich zu sein. Woran das liegt, ist mir schleierhaft. Vielleicht liegt es auch nur daran, daß Gesetze zwar jedermann lesen kann, was aber noch lange nicht heißt, daß er ihren Sinn auch verstehen kann. Deutsch zu können ist das eine, Jurist zu sein das andere. Im nachfolgenden wollen wir uns also mit einigen der populären Irrtümer auf diesem Gebiet befassen.
Grundgesetz versus Verfassung
Eine verbreitete Vorstellung geht dahin, daß die Bezeichnung unserer Verfassung als Grundgesetz klarstellen soll, daß es sich bei dem Grundgesetz eben nicht um eine Verfassung handele. Diese Leute argumentieren denn auch mit dem Text von Art. 146 des Grundgesetzes, der bis zur Wiedervereinigung lautete: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Nach der Wiedervereinigung ist diesem Satz nach dem Wort „Grundgesetz“ der Halbsatz eingefügt worden „das nach der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt,“. In der Tat ergibt sich aus der Präambel des Grundgesetzes, die nach einhelliger Meinung aller Juristen wie die der anderen auch anderer Verfassungen der Staaten dieser Erde Teil des Verfassungstextes ist, daß dieses Grundgesetz (zunächst) für eine Übergangszeit gelten soll. Diese Übergangszeit sollte nach dem Verfassungsauftrag in Art. 23, 146 auch mit der Wiedervereinigung enden.
Ein weiterer Makel des Grundgesetzes, der die fehlende Verfassungsqualität begründen soll, soll dann der Umstand sein, daß es nicht vom deutschen Volk beschlossen worden ist, auch nicht nach der Wiedervereinigung. Nun heißt es ausdrücklich in der ursprünglichen Präambel bereits, daß sich das deutsche Volk in den dort aufgezählten (alten) Bundesländern kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben hat. Ein rechtsvergleichender Blick in die Verfassungsgeschichte anderer Staaten zeigt, daß auch deren Verfassungen jeweils von verfassunggebenden Versammlungen beschlossen worden sind, die aus den Parlamenten von Gliedstaaten oder einer Parlamentskammer entstanden sind, bzw. von Parlamenten, die sich eben zur verfassungsgebenden Versammlung erklärt haben. Die Vorstellung, eine Verfassung könne nur zustande kommen, indem sie vom gesamten Volk etwa in einer Volksabstimmung angenommen würde, findet jedenfalls in der Verfassungsgeschichte nirgendwo eine Bestätigung
Ein weiteres Argument dafür, daß das Grundgesetz keine Verfassung im eigentliche Sinne sein könne, ist eben die Bezeichnung als Grundgesetz und nicht als Verfassung. Indessen ist die Bezeichnung zweitrangig, entscheidend ist, was dieser Gesetzestext denn nun bewirken soll. Wenn er die Grundlagen der staatlichen Ordnung beschreibt und festlegt, dann kann dieser Text übertitelt sein wie er will. Er ist eben, wie die Juristen sagen: materiellrechtlich, die Verfassung. Das zeigt auch ein Blick in die Verfassungen anderer Länder. Die Verfassung der Niederlande heißt Niederländisch eben „Grondwet“, was eben Grundgesetz bedeutet, ebenso wie die Verfassung Finnlands in der Landessprache „Perstuslaki“ heißt, was wörtlich übersetzt eben auch Grundgesetz heißt.
Deutsches Reich versus Bundesrepublik Deutschland
Wer die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland als Staat der Deutschen in Abrede stellt, beruft sich regelmäßig auf das Argument, das Deutsche Reich sei doch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht untergegangen, sondern existiere mangels Friedensvertrag weiter. Nur dieses deutsche Reich könne doch der legitime Staat der Deutschen sein. Die Bundesrepublik Deutschland hingegen sei ein fragwürdiges Rechtskonstrukt. Eigentlich nur eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft. Um bei letzterem zu beginnen: Gesellschaften des Handelsrechts wie die Aktiengesellschaft und die Gesellschaft mit beschränkter Haftung entstehen durch Eintragung in das Handelsregister. Mir konnte bisher noch kein Vertreter dieser Rechtsauffassung sagen, in welchem Handelsregister nun die Bundesrepublik Deutschland GmbH bzw. AG eingetragen ist.
Aber nun ernsthaft zum Argument, das Fortbestehen des Deutschen Reiches stehe der Existenz einer Bundesrepublik Deutschland entgegen. Das deutsche Reich ist in der Tat 1945 nicht untergegangen, sondern existiert fort. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 31.07.1973 zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 21.12.1972 ausdrücklich festgestellt. Die Bundesrepublik Deutschland ist demnach das Deutsche Reich, allerdings räumlich verkleinert auf ein Teilgebiet des ursprünglichen Staatsgebietes. Daraus folgt auch, daß der Beitritt der DDR im Jahr 1990 auf der Grundlage des damals geltenden Artikels 23 GG am Rechtsstatus Deutschlands nichts geändert hat. Lediglich das Staatsgebiet hat sich vergrößert, indem das Gebiet der DDR, über das die Bundesrepublik Deutschland bis dahin keine Souveränität besaß, dem allein existierenden deutschen Staat beigetreten ist, und auch auf diesem Gebiet das Grundgesetz in Kraft gesetzt worden ist. Damit ist im übrigen auch dieser Artikel des Grundgesetzes in seinem damaligen Wortlaut gegenstandslos geworden. Der Verfassungsesetzgeber – die beiden Kammern unseres Parlaments Bundestag und Bundesrat mit verfassungsändernder Mehrheit – hat den Text dieses Artikels dann ersetzt durch den Verfassungsauftrag, die europäische Einigung zu fördern.
Auch wenn das für Menschen ohne juristisches Studium schwer verständlich ist: Namen sind Schall und Rauch. Das Völkerrechtssubjekt, welches bis 1949 „Deutsches Reich“ geheißen hat und seit dem 23.05.1949 „Bundesrepublik Deutschland“ heißt, besteht eben unverändert fort, heißt eben anders. Das ist in der Rechtsordnung auch nichts ungewöhnliches. Wenn Maria Müller die Eheschließung mit Franz Meyer zum Anlass nimmt, ihren Geburtsnamen Müller abzulegen und künftig den Ehenamen Meyer zu führen, dann ist eben die frühere Maria Müller und heutige Maria Meyer ganz zweifellos dieselbe Person. Sie heißt nur anders. Warum das bei einem Rechtsakt, in welchem ein Staat seinen Namen geändert hat, anders sein soll, erschließt sich nicht. Das ist auch nichts ungewöhnliches. Bisweilen ändern Staaten sogar ihren Namen nicht nur hinsichtlich der Beschreibung „Reich“ oder „Republik“, sondern überhaupt. So wurde bekanntlich aus „Ceylon“ „Sri Lanka“ und aus „Burma“ „Myanmar“, ohne daß irgendjemand anzweifeln würde, daß es sich dabei jeweils um das selbe Völkerrechtssubjekt wie zuvor handelt.
Daraus folgt im übrigen auch, daß alle völkerrechtlichen Verträge, welche die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat, in der rechtlichen Kontinuität sämtlicher seit 1871 vom deutschen Staat geschlossenen Verträge stehen. Somit sind zum Beispiel die Regelungen im sogenannten 2 + 4 Vertrag völkerrechtlich bindend, auch was zum Beispiel die endgültige Anerkennung der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen angeht. Zwar ist Polen nicht Vertragspartner, doch gilt insoweit der allgemeine Rechtsgrundsatz des Vertrages zugunsten eines Dritten. Die Bundesrepublik Deutschland und die ehemaligen Siegermächte USA, Russland, Großbritannien und Frankreich haben die in diesem Vertrag enthaltenen Grenzregelungen auch mit Wirkung zugunsten dritter Staaten, in Sonderheit Polens, geschlossen. Das Rechtsinstitut des Vertrages zugunsten Dritter ist auch sonst in der Rechtsordnung zu finden. So wird niemand bezweifeln, daß der Vertrag zwischen meiner Bank und mir, in welchem ich zugunsten meines Enkelkindes ein Sparkonto eröffne, meinem Enkelkind Rechte gegen diese Bank einräumt. Zur Klarstellung muß weiter angefügt werden, daß die Bezeichnung dieses Vertrages nichts daran ändert, daß er materiell-rechtlich die Folgen des Zweiten Weltkrieges endgültig festgelegt. Ob ein solches Vertragswerk nun mit dem Terminus „Friedensvertrag“ übertitelt ist oder nicht, spielt für seine Rechtswirksamkeit keine Rolle. Entscheidend ist bei Verträgen wie auch Gesetzen stets der Regelungsgehalt, nicht die Überschrift. Auch das ist für Juristen eine Binsenweisheit, für juristische Laien indessen wohl Arkanwissen der Juristen und damit so eine Art Hexenwerk.
Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsverfassung
Ein besonders apartes Argument gegen die Geltung des Grundgesetzes für das gesamte Staatsgebiet des ehemals „Deutsches Reich“ genannten Deutschland ist auch der Hinweis darauf, die nunmehr zu Polen bzw. Russland gehörenden Gebiete seien in dem Grundgesetz ja gar nicht namentlich genannt. Eine richtige Verfassung indessen beschreibe doch das Staatsgebiet, in welchem sie Geltung hat. Auch das ist falsch. Es ist keineswegs Vorbedingung einer gültigen Verfassung, daß das jeweilige Staatsgebiet in ihr exakt beschrieben wird. Unser Grundgesetz spricht vom deutschen Volk als dem Verfassungsgeber, in seiner Präambel werden sowohl in seiner Urfassung als auch heute die Bundesländer genannt, in denen dieses deutsche Volk lebt, das sich diese Verfassung gegeben hat. Das ist international nicht zwingend so. In der spanischen Verfassung heißt es eingangs: „Das spanische Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, ist Träger der nationalen Souveränität.“ Die Verfassung der französischen Republik spricht in ihrer Präambel vom französischen Volk und in Art. 1 legt sie fest, daß die Republik und die Völker der überseeischen Gebiete, die in freier Entscheidung diese Verfassung annehmen, sich diese Verfassung geben. Maßgeblich ist das jeweilige Volk als Souverän, der sich seine Verfassung als Rechtsgrundlage des Zusammenlebens gibt. Die Staatsgrenzen können variieren. Das Volk ist auch grundsätzlich vor der Verfassung da. Ein Volk gibt sich eben beizeiten einen Rechtsrahmen, auf welchem Wege auch immer, letztendlich aber die Rechtsgrundlage des geordneten Zusammenlebens. Das gilt auch für solche Völker und Staaten, die keine geschriebene Verfassung haben. Daß auch diese Staaten über eine „Verfasstheit“ verfügen, also eine grundlegende Rechtsordnung, steht außer Zweifel. Das beste Beispiel dafür ist England, dessen Verfassung niemals kodifiziert wurde, sondern ausschließlich in geschriebenen und ungeschriebenen Rechtstraditionen besteht.
Fazit
Deutschland existiert. Es hat sogar eine Verfassung. Im Handelsregister steht es nicht. Da gehört es auch nicht hin.
Ein Wort noch zum Verfassungsschutz:
Deutschland leistet sich, wie im übrigen wohl nur Österreich – beide Länder aus dem gleichen Grund, nämlich dem tiefgehenden Mißtrauen der Amerikaner bezüglich der demokratischen Gesinnung der Deutschen und Österreicher – einen Inlandsgeheimdienst namens Verfassungsschutz. Er soll darüber wachen, daß die verfassungsmäßige Ordnung nicht von innen unterminiert und zum Einsturz gebracht wird. Andere gefestigte Demokratien weltweit benötigen derartiges nicht. Zu der Ressourcenverschwendung, welche aus der Vorhaltung eines solchen gewaltigen Beamtenapparates mit Parallelstrukturen im Bund und 16 Bundesländern gehören, zählen auch die Abteilungen, welche sich mit den sogenannten Reichsbürgern befassen, also den Leuten, die solch krude Theorien vertreten, wie oben dargelegt. Das seien ja nun Bestrebungen zur Beseitigung unserer Verfassung, und die müsse man nun pflichtgemäß beobachten und dies in den jeweiligen viele 100 Seiten starken Verfassungsschutzberichten ausführlich beschreiben, damit die Bevölkerung ausreichend gewarnt werde. Abgesehen davon, daß die Zahl der Leser dieser amtlichen Werke außerhalb der professionellen Kreise in Politik, Verwaltung und Medien sehr überschaubar sein dürfte: der Nutzen dieses Tuns scheint mir ebenfalls sehr überschaubar zu sein. Der Aufwand indessen für den Steuerzahler leider nicht. Da sollte man doch mit der gleichen Gelassenheit an diese Dinge herangehen, mit der das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten NPD II Entscheidung vom 17.01.2017 zwar zutreffend festgestellt hat, daß diese Partei verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, indessen von einem Verbot abgesehen hat, weil die politische Bedeutung dieser Partei allenfalls als marginal bezeichnet werden könne, mit anderen Worten, von diesem Häuflein Verirrter keine Gefahr für den Bestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes ausgehen könne. Gleiches gilt wohl vermehrt für die sogenannte Reichsbürger-Szene, die ja nicht einmal organisiert ist, und deren Anhängerschaft sich in der Größenordnung der homöopathischen Dosis bewegt.
So klar formuliert & argumentiert, daß ich es mir hinter die Ohren schreiben werde. Danke!