Der Regierungswechsel in den USA zwingt zu einer Neubewertung der Sicherheitslage in Europa und damit auch der Lage Deutschlands. Der neue amerikanische Präsident legt offensichtlich deutlich weniger Wert auf die Bündnisverpflichtungen seines Landes in der NATO, als das seit Bestehen der NATO amerikanische Politik war. Seine Parole „America first“ muß ernst genommen werden. Das bedeutet für ihn aber in jeder Hinsicht erst einmal festzustellen, was den USA nutzt. Das Verhältnis zu anderen Staaten wird offensichtlich alleine nach Nützlichkeitsgesichtspunkten beurteilt. Dazu zählt sicherlich, welchen Nutzen die US-amerikanische Wirtschaft aus den Beziehungen zu einzelnen Staaten haben kann. Für die eigene Sicherheit gegen Angriffe von dritter Seite brauchen die Amerikaner Europa bzw. die europäischen Staaten wie Deutschland nicht. Indessen ist Europa und damit auch Deutschland ein großer Markt für die amerikanische Industrie. Es ist also im amerikanischen Interesse, daß die europäischen Länder wirtschaftlich prosperieren. Länder unter dem Einfluss Russlands, vor allem mit einem ähnlichen staatlich regulierten Wirtschaftssystem, sind für die amerikanische Wirtschaft nicht von Interesse. Somit kann als Zwischenschritt unserer Überlegungen festgehalten werden, daß die USA ein vitales Interesse daran haben, daß Europa nicht in den Einflussbereich Russlands gerät, jedenfalls nicht die Staaten der Europäischen Union. Dazu gehört die Ukraine nicht.
Verantwortung und Kosten werden neu verteilt
Die neue US-Administration hat deutlich gemacht, daß sie künftig nicht mehr gewillt ist, die Hauptlast der Verteidigung gegen Russland oder wen auch immer zu tragen. Das sollen die Europäer gefälligst selbst tun. Vor diesem Hintergrund sind die Äußerungen auch deutscher Politiker zur Höhe des Verteidigungsetats zu bewerten. Das von den USA seit Jahrzehnten propagierte 2 % Ziel gehört offenbar bereits der Vergangenheit an. Von 3,5 % bis 5 % schwanken die jeweiligen Forderungen auch einheimischer Politiker, sogar von den in ihrer DNA pazifistischen Grünen. Zwar verpflichtet Art. 5 des NATO-Vertrages jeden Mitgliedstaat, im Falle eines Angriffs auf ein anderes Mitglied militärischen Beistand zu leisten. Das war seit Gründung der NATO 1949 allgemeiner Konsens. Indessen muß heute angesichts der America-first-Ideologie des Präsidenten Trump in Zweifel gezogen werden, ob das in jedem Falle Gültigkeit hätte. Ein militärischer Angriff Russlands etwa auf das Baltikum dürfte wohl nicht mehr automatisch das militärische Einschreiten der NATO mit allen ihren Mitgliedsländern, insbesondere der USA auslösen.
Das Kräfteverhältnis
Somit ist zunächst einmal von Interesse, welche militärische Stärke die NATO im Vergleich zu Russland hat, und zwar auch dann, wenn man die USA herausrechnet. Dazu erst einmal ein Blick auf die nachstehende Tabelle (Quelle: statista):
Kräftevergleich
Vergleich der Militärstärke von NATO und Russland im Jahr 2025
Merkmal | NATO | Russland |
---|---|---|
Personal | ||
Militärisches Personal insgesamt | 8.658.882 | 3.570.000 |
aktive Soldaten | 3.439.197 | 1.320.000 |
Reserve | 4.343.065 | 2.000.000 |
Paramilitärische Einheiten | 876.620 | 250.000 |
Luftstreitkräfte | ||
Luftwaffe insgesamt | 22.377 | 4.957 |
Jagdflugzeuge/ Abfangjäger | 3.312 | 833 |
Flugzeuge für Bodenangriffe | 1.163 | 689 |
Transportflugzeuge | 1.479 | 456 |
Spezialflugzeuge (z.B. Aufklärung) | 889 | 141 |
Tankflugzeuge | 658 | 19 |
Hubschrauber insgesamt | 9.141 | 1.651 |
Kampfhubschrauber | 1.416 | 557 |
Landstreitkräfte | ||
Kampfpanzer | 11.495 | 5.750 |
gepanzerte Fahrzeuge | 971.280 | 131.527 |
selbstfahrende Artillerie | 3.985 | 5.168 |
geschleppte Artillerie | 6.325 | 8.505 |
MLRS-Systeme² | 1.977 | 3.005 |
Seestreitkräfte | ||
Militärschiffe insgesamt | 1.143 | 339 |
Flugzeugträger | 16 | 1 |
Helikopterträger | 14 | 0 |
Zerstörer | 101 | 10 |
Fregatten | 128 | 12 |
Korvetten | 67 | 83 |
U-Boote | 148 | 63 |
Patrouillenboote | 488 | 123 |
Minenboote | 181 | 47 |
Nuklearwaffen | ||
nukleare Sprengköpfe¹ | 5.559 | 5.580 |
Die Streitkräfte der NATO sind denen Russlands um mehr als das Doppelte überlegen. Berücksichtigt man dazu noch die militärische Faustformel, daß der Angreifer eine zahlenmäßige Überlegenheit von 3-4 zu 1 benötigt, um erfolgreich sein zu können, dann wird ganz deutlich, daß Russland in einem Krieg gegen die NATO schlicht und einfach nicht obsiegen könnte. Etwas anderes wäre allerdings zu besorgen, wenn Russland sich damit begnügen würde, etwa ein kleines Land wie Moldawien oder Estland handstreichartig zu besetzen. Es wäre also zu prüfen, ob die NATO ohne die USA genügend Kampfkraft aufbringen könnte, um Russland an solchen Abenteuern zu hindern. Wir sehen, daß die Zahl der Kampfpanzer in der NATO bei 11.495 liegt. Die USA verfügen allein über 4640 Kampfpanzer. Mithin kann die NATO ohne die USA immerhin 6855 Kampfpanzer aufbieten. Dieser Vergleich des Hauptwaffensystems der Landstreitkräfte mag erst einmal genügen. Denn es bleibt ja bei dem alten militärischen Grundsatz, daß man aus der Luft zwar gewaltige Zerstörungen beim Feind anrichten kann, damit aber nicht sein Gebiet besetzt. Oder, wie es bei unseren US-Kameraden so schön heißt: You need boots on the ground. Russland verfügt nach aktuellen Schätzungen (Quelle: Redaktionsnetzwerk Deutschland) über 3417 Kampfpanzer. Ähnliche Größenordnungen gelten auch für die Hauptwaffensysteme auch bezüglich Luftwaffe und Marine. Fazit: auch ohne die USA ist die NATO für Russland ein unüberwindlicher Gegner.
Das deutsche Defizit
Was Deutschland angeht, so besteht hier durchaus erheblicher Nachholbedarf. Denn auch wenn wir hier wieder auf das Hauptwaffensystem Kampfpanzer schauen, dann sehen wir im Bestand der Bundeswehr lediglich 296 davon, bei den türkischen Streitkräften indessen 2238, in Griechenland 1344 und in Polen 614. Selbst Länder wie Rumänien mit 328 und Spanien mit 317 Kampfpanzern liegen vor Deutschland. Wenig tröstlich ist dabei, daß auch Großbritannien mit 277 Kampfpanzern und Frankreich mit deren 215 nicht sonderlich gut aufgestellt sind. Mit Blick auf den inzwischen unsicher gewordenen Beistand der USA im Rahmen der NATO ist hier erheblicher Nachholbedarf in Deutschland, aber auch in Großbritannien und Frankreich festzustellen.
Kriegstüchtigkeit ist ohne Wehrpflicht nicht zu haben
Verteidigungsminister Pistorius hat zu Recht verlangt, daß die Bundeswehr (wieder) kriegstüchtig werden muß. Die Forderung, nun auch die Wehrpflicht wieder in Kraft zu setzen, erscheint vor diesem Hintergrund ohnehin begründet. Die insoweit offensichtlich militärisch gut beratene AfD-Vorsitzende Weidel liegt auch mit ihrer Forderung nach einer Dauer der wieder auflebenden Wehrpflicht von zwei Jahren durchaus richtig. Denn wenn die Bundeswehr als Teil einer schlagkräftigen präsenten NATO Streitmacht den russischen Streitkräften Paroli bieten soll, dann müssen natürlich ihre Soldaten möglichst noch beser ausgebildet sein, als die auf der Gegenseite. Ich habe noch die Erzählungen meines Vaters im Ohr, der den gesamten Zweiten Weltkrieg als Frontsoldat erlebt hat. Seit etwa Mitte des Krieges bis zum Ende seien vermehrt nur kurz und deswegen schlecht ausgebildete Soldaten an die Front gekommen. Deren Lebenserwartung war dann auch proportional zur Dauer ihrer Ausbildung. Als die Bundeswehr noch eine Präsenzarmee im kalten Krieg war, dauerte die Ausbildung eines Mannschaftssoldaten auf jeden Fall ein ganzes Jahr, bis er wirklich einsatzfähig war. Die restlichen damals noch 6 Monate von 18 war er einsatzbereit und wurde in Übung gehalten. Angesichts dessen, daß selbst die Waffensysteme der Infanterie immer komplizierter werden, und auch die Anforderungen des Gefechts der verbundenen Waffen auf dem Gefechtsfeld immer weiter steigen, wäre es ein fataler Irrtum zu glauben, es genüge, einem Soldaten das Schießen beizubringen. Vielmehr erfordert der Einsatz auch des einfachen Soldaten auf dem Gefechtsfeld eine gründliche Ausbildung und auch nicht geringe intellektuelle und kognitive Fähigkeiten.
Was uns der Krieg um die Ukraine lehrt
Weil wir nun auch im Hinblick auf den Ukraine-Krieg lernen müssen, diesen als unsere Angelegenheit zu betrachten, wenn wir nicht eines Morgens statt des Zeitungszustellers russische Soldaten an der Haustür begrüßen wollen, müssen wir wohl oder übel auch nüchtern beurteilen, was dieser Krieg bedeutet, und wie wir ihn, natürlich im Zusammenwirken mit den Ukrainern, möglichst rasch beenden können. Betrachte ich mir indessen die Debatte in Deutschland darüber, so löst das doch schon heftiges Kopfschütteln aus.
Nicht nur der amerikanische Präsident, sondern auch ein beträchtlicher Teil des politischen Spektrums in Deutschland geht mit der Behauptung hausieren, die Ukraine sei selbst schuld an diesem Krieg, denn sie habe durch ihre Hinwendung zu Europa und dem Wunsch, NATO Mitglied zu werden, den Russen keine andere Wahl gelassen, als ihr Land zu besetzen. Das ist, um es klar und deutlich zu sagen, Quatsch. Sicherlich läuft es denn russischen strategischen Interessen zuwider, daß ein großes Nachbarland wie die Ukraine Bestandteil des westlichen Lagers, insbesondere auch der NATO wird. Indessen ist das hinzunehmen. Das Völkerrecht verbietet eben absolut den Angriffskrieg. Darüber muß eigentlich kein Wort verloren werden. Auch wenn der Angreifer noch so gewichtige strategische Interessen an der Besetzung des Nachbarlandes haben mag, es ist absolut unzulässig, dies militärisch durchzusetzen, wenn man weder selbst angegriffen wird, noch ein solcher Angriff unmittelbar bevorsteht. Mithin erübrigen sich alle Diskussionen über die Berechtigung dieses Angriffs. Er ist eben ein Verbrechen gegen den Frieden im Sinne der Charta der Vereinten Nationen und des Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof. Allerdings muß auch gesagt werden, daß Russland mit dieser Verachtung des Völkerrechts nicht alleine steht. Ebenso wie Russland haben die USA, China und auch Israel den Vertrag über die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs nicht unterzeichnet. Ebenso wie die USA haben auch Russland und China in der Vergangenheit gezeigt, daß sie ihre Interessen gegebenenfalls auch militärisch durchsetzen, ob das völkerrechtlich erlaubt ist oder nicht. Der amerikanische Präsident denkt auch öffentlich darüber nach, ob er nicht auch militärisch die Interessen der USA etwa an der Panama-Kanalzone oder Grönland durchsetzt. Letztendlich gilt das Völkerrecht für die Großmächte nicht wirklich, denn der Internationale Strafgerichtshof hat bekanntlich keinen Gerichtsvollzieher. Die Ukraine verteidigt sich zu Recht gegen den russischen Angriff. Länder der NATO einschließlich der USA und Deutschlands unterstützen die Ukraine bei der Abwehr dieses Angriffs mit Waffenlieferungen und finanziellen Hilfen. Das ist nach Art. 51 der UN-Charta auch ihr gutes Recht. Wer das indessen für „Kriegstreiberei“ hält, wie das nicht selten zu lesen ist, liegt völlig falsch und muß sich bescheinigen lassen, weder von Sicherheitspolitik noch vom Völkerrecht eine blasse Ahnung zu haben.
Auf die Integrität der beteiligten Politiker kommt es nicht an
Man hört nicht selten, der ukrainische Präsident Selenskij und seine Entourage bereicherten sich schamlos an diesem Kriege und leiteten einen Großteil der internationalen Finanzhilfe auf ihre Konten. Nun ist die Ukraine zwar eines der korruptesten Länder in Europa. Im „Corruption Perception Index“ von Transpirancy International belegt sie Platz 105 von 180 Staaten dieser Welt. Deutschland hingegen belegt Platz 15 von 180, auf Platz 1 liegt Dänemark. Es wäre naiv anzunehmen, daß der Präsident und die Minister in diesem Lande sich wie unbestechliche preußische Beamte seligen Angedenkens verhalten. Das ändert indessen nichts daran, daß ihr Land überfallen worden ist, und sie die Verantwortung dafür tragen, diesen Angriff möglichst abzuwehren. Der Angreifer selbst, Russland, belegt im Übrigen in diesem Index Platz 154 von 180. Die Welt ist eben so, wie sie ist. Zu den Vorwürfen gegen den ukrainischen Präsidenten gehört inzwischen auch, daß er angeblich nicht (mehr) demokratisch legitimiert sei. Denn er weigere sich, Wahlen auszuschreiben. Auch das ist Quatsch. Die Verfassung des Landes verbietet Wahlen in Kriegszeiten. Das ist im Übrigen nichts außergewöhnliches. Auch bei uns wäre das im Falle eines Krieges nicht möglich, was Art. 115 h des Grundgesetzes ausdrücklich vorschreibt.
Wir wollen den Frieden, aber nicht um den Preis der Selbstaufgabe
Der Ruf nach Waffenstillstandsverhandlungen und einem Friedensschluss wird in Deutschland immer lauter. Natürlich zu Recht. Abgesehen davon, daß der Krieg stets die schlechteste Möglichkeit zur Lösung eines Konflikts ist, auch wenn der Angegriffene keine andere Möglichkeit hat, als sich zu verteidigen, muß inzwischen auch die Sinnhaftigkeit des militärischen Widerstandes gegen den Angreifer kritisch beleuchtet werden. Hatte man zu Beginn des Krieges in den ersten Wochen nach dem 22. Februar 2022 angesichts des stümperhaft vorgetragenen Angriffs der russischen Streitkräfte noch erwarten können, daß es der Ukraine gelingen werde, den Angreifer aus dem Lande zu werfen, so kann das heute nicht mehr ernsthaft angenommen werden. Vielmehr ist es völlig illusorisch zu erwarten, daß es der Ukraine auch mit verstärkter Hilfe des Westens gelingen könnte, die vom Feind besetzten Gebiete zurück zu erobern. Ganz zu schweigen von der seit 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim. Hier gilt einfach die alte Weisheit der Dakota-Indianer: „Wenn du merkst, daß du ein totes Pferd reitest, dann steig ab.“ Das heißt indessen nicht, daß die Ukraine nun einfach die Waffen strecken sollte. Denn damit würde sie aufhören als Staat zu existieren und der Aggressor hätte sein Ziel erreicht. Nein, auch insoweit gilt, daß aussichtsreiche Friedensverhandlungen nur aus einer Position der Stärke heraus geführt werden können. Nur wenn der Aggressor einen Friedensschluss attraktiver finden muß, als die Fortsetzung des Krieges, wird er bereit sein, zu verhandeln. Bekanntlich erleidet Russland erhebliche Verluste in diesem Krieg. Man spricht von mindestens 100.000 gefallenen Soldaten und ca. 3000 zerstörten Kampfpanzern, um nur zwei wichtige Kennzahlen zu nennen. Nur mit ausreichender Waffenhilfe kann es den Ukrainern gelingen, zumindest den status quo zu halten. Das wiederum macht es für Russland jeden Tag weniger attraktiv, gegen die Stellungen der Verteidiger anzurennen. Somit ergibt sich für den Angreifer durchaus wenn nicht der Zwang, so doch die Notwendigkeit zu überlegen, ob man sich nicht vielleicht mit dem zufrieden geben sollte, was man hat, weil mehr wohl mindestens mittelfristig nicht zu erreichen ist. Und auf Seiten des Angegriffenen muß man einfach sehen, daß die Rückeroberung der verlorenen Gebiete völlig aussichtslos ist, auch dann, wenn man noch mehr Waffen von den NATO-Ländern bekommt, als bisher. Wer das für „Kriegstreiberei“ hält, kann nicht ernst genommen werden.
Womit zu rechnen ist
Das ist alles nicht schön. Es ist jedoch zu erwarten, daß es genau darauf hinausläuft, wenn die USA und Russland das Thema nun in Saudi-Arabien miteinander verhandeln. Die Ukraine wird man zu den Verhandlungen hinzu bitten, sobald die Grundzüge der neuen Ordnung im Bereich Russland/Ukraine feststehen. Alles andere wäre schlicht naiv. Deutschland und die übrigen Europäer werden sich dann sicher am Wiederaufbau des Landes beteiligen, und zwar auch mit erheblichen Finanzhilfen. Auf diese Rolle werden sie aber auch beschränkt werden. Die großen Entscheidungen fallen eben in Vier-Augen-Gesprächen der Großmächte.