Zu den Aufregern in der politischen Debatte unserer Tage gehört die Diskussion um die Wehrpflicht. Das erstaunliche daran ist vor allem, daß diese Diskussion nicht entlang der bekannten politischen Linien verläuft. Die Ablehnung des verpflichtenden Wehrdienstes, ja der Bundeswehr überhaupt, war jahrzehntelang eine Domäne der Linken unter dem Segen der christlichen Kirchen. Das hat sich geändert. Inzwischen geht der Riss sogar durch die AfD. Eine Fraktion um den Kyffhäuser-Romantiker Björn Höcke, wenig überraschend mit dem Segen des mit seinem Amt erkennbar intellektuell überforderten Co-Parteivorsitzenden Tino Chrupalla, wendet sich mit unfassbar blödsinnigen Argumenten gegen die Wehrpflicht. O-Ton Höcke aus dem Thüringer Landtag:
„Bevor auch ein einziger junger Mensch in diesem Land zwangsweise wieder in Uniform antreten soll, muß dieser Staat endlich wieder ein Staat für die Deutschen werden.“ Er warf den Parteien „von CDU bis Linke“ vor, den Patriotismus zu verachten, den es dafür benötige. „Die Menschen draußen spüren, daß es eben nicht um die Verteidigung der eigenen Lebensart geht.“ Neben „Drag-Queen-Auftritten in Kindergärten“ zählte er in diesem Zusammenhang unter anderem die „Deindustrialisierung“, die „Plünderung der Sozialversicherungssysteme“, den „Schuldstolz“ und die Einwanderungspolitik auf.
Die notwendige Entgegnung
Diesem Schwachsinn ist in der heutigen Debatte des Deutschen Bundestages zum Wehrpflichtgesetz der AfD-Abgeordnete Rüdiger Lucassen mit einer stringenten Argumentation entgegengetreten. Es lohnt sich, diesen kurzen Redebeitrag anzuhören. Er ist natürlich wie alle im Bundestag gehaltenen Reden dokumentiert. Unter anderem führte er aus: „Was hätten wohl die Männer und Frauen der Befreiungskriege dazu gesagt? Sie wären diesem Befund niemals gefolgt.“ Herr Lucassen versteht im Gegensatz zu Herrn Höcke auch etwas von der Materie, und offensichtlich auch mehr von der deutschen Geschichte als dieser romantische Träumer. Er war Berufssoldat, zuletzt Oberst im Generalstab und hat in der Folgezeit erfolgreich ein Unternehmen geführt. Der Thüringer AfD-Chef beklagte daraufhin, er habe sich in den vergangenen zwölf Jahren „viele Anwürfe“ gefallen lassen. „Der Vorwurf mangelnder Vaterlandsliebe war allerdings nicht darunter.“ Gleichwohl müsse klar sein, Deutschland werde nicht von außen existentiell bedroht, sondern von innen. Dazu kann ich nur sagen, daß es möglicherweise in der Tat Herrn Höcke nicht an Vaterlandsliebe mangelt, indessen jedoch an Intelligenz. Gerade als studierter Historiker, dem jahrelang die Bildung von Gymnasiasten im Schulfach Geschichte anvertraut war, sollte er eigentlich wissen, was der Urgrund der Wehrpflicht in einem demokratischen Staat ist.
Was immer gilt
Die allgemeine Wehrpflicht ist in gesellschafts- und staatspolitischer Hinsicht ein Wert an sich. Das gilt ganz besonders in einer Demokratie. Historisch hat sie ihr Vorbild in der Antike. Das Bürgerrecht des griechischen polites wie des civis romanus war untrennbar mit der persönlichen, nicht einmal delegierbaren Pflicht verbunden, Dienst in Heer und Flotte zu leisten. Der civis atque miles in der römischen Republik konnte ebenso wie in der griechischen Polis nur der freie Bürger sein. Das galt für alle Gesellschaftsschichten, auch und gerade den Patrizier. Zum cursus honorum, der staatlichen Ämterlaufbahn, gehörte der Dienst in der Armee, in jüngeren Jahren als tribunus militaris, als Krönung der Ämterlaufbahn der Befehl über eine Legion (legatus), als Konsul sodann der Oberbefehl über die römische Streitmacht. Noch die Heere des Mittelalters in Europa sahen in ihren Reihen vorwiegend zum Dienst verpflichtete Bürger, die eben in Kriegszeiten zu den Waffen eilen mußten, daneben den Ritterstand, der im Gegenzug zur Belehnung mit Land und Leibeigenen Kriegsdienst leistete. Erst die heraufziehende Neuzeit sah Heere von besoldeten Kriegern, Söldner oder Landsknechte geheißen. In den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts kämpften in der Tat vorwiegend bisweilen nicht ganz freiwillig dienende Söldner. Erst die sich immer mehr zu Demokratien entwickelnden Nationalstaaten stellten dann Armeen aus wehrpflichtigen Bürgern auf. Der demokratische Staat, ideell und materiell auf den Schultern seiner freien Bürger ruhend, gab ihnen als Pendant zu ihrer bürgerlichen Freiheit auf, das Gemeinwesen wirtschaftlich durch Steuern und militärisch durch Dienst in den Streitkräften zu sichern. Das war der Grund für das Diktum Scharnhorsts, der Bürger sei der geborene Verteidiger des Vaterlandes.
Die derzeitige Diskussion um das Wiederaufleben der Wehrpflicht, soweit das rechte politische Spektrum – dazu gehört selbstverständlich die AfD – sie führt, krankt an einer fatalen Blickverengung. Unbeschadet der sachlichen Einwände gegen die derzeitige globale und deutsche Politik ist allein zu prüfen, ob ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich Streitkräfte benötigt, und ob diese Streitkräfte im wesentlichen die Bürger des Landes oder professionelle Krieger sein sollen, wobei selbstverständlich wie auch in allen voraufgegangenen Jahrhunderten mit Wehrpflichtarmeen, die Offiziere und älteren Unteroffiziere schon wegen der notwendigen Professionalität Berufssoldaten sein müssen. Allerdings, und dafür spricht ja unsere Erfahrung in der Bundeswehr wie auch anderswo, ergänzt um entsprechend ausgebildete Offiziere und Unteroffiziere der Reserve. In diesem Zusammenhang hat die Tagespolitik grundsätzlich keine Rolle zu spielen. Zunächst einmal kann nicht übersehen werden, daß es für eine notwendige Vermehrung der Armee deutlich zu spät ist, wenn diese erst in Angriff genommen wird, nachdem eine Krise heraufzieht, die eine militärische Auseinandersetzung in Kürze erwarten läßt. Ich muß wohl gerade den Mitgliedern und Wählern der AfD nicht erläutern, daß etwa die Ausbildung eines Abiturienten zum Kompaniechef gut und gerne mindestens sechs Jahre in Anspruch nimmt, einschließlich der notwendigen Erfahrungen in den Vorverwendungen als Gruppen- und Zugführer. Als Bataillonskommandeur wurde ich erst 23 Jahre nach meinem Abitur verwendet. Daraus folgt, daß die notwendige Größe der Bundeswehr ausschließlich mit Blick auf die geostrategische Lage des Landes, und zwar langfristig, festgelegt werden kann. Dabei sind die militärischen und wirtschaftlichen Kapazitäten in Frage kommender Gegner in Rechnung zu ziehen. Auch hier wäre es fatal, tagespolitisch zu denken. Vielmehr muß, etwa mit Blick auf Russland, geprüft werden, welche politischen und militärischen Entwicklungen mittel- und langfristig, also in den nächsten 20, 30, 40 Jahren möglich sein könnten, nicht notwendigerweise mit Sicherheit eintreten werden.
Tagespolitik kann für langfristige Aufgaben keine Rolle spielen
Noch viel weniger kann es eine Rolle spielen, ob zum Beispiel der Krieg in der Ukraine auch oder ganz im Interesse der USA geführt wird. Nicht nur, daß dies ein bloß tagespolitisches Thema ist, das Argument läßt völlig außer acht, daß die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes ein Wert an sich ist, der stets und dauerhaft gewährleistet werden muß. Deswegen ist es auch völlig unerheblich, ob Russland aktuell beabsichtigt, Deutschland anzugreifen oder nicht. Die abstrakte Bedrohungslage ist maßgeblich. Es kommt also allein darauf an, ob Russland möglicherweise über kurz oder lang Deutschland angreifen könnte. Ob das nach Sachlage erfolgversprechend sein kann oder nicht, spielt schon deswegen keine Rolle, weil auch eine Niederlage Russlands in einem solchen Krieg gegen Deutschland und seine Verbündeten das unermessliche Leid eines jeden Krieges auch über unser Land bringen würde. Auch wenn derzeit angesichts der militärischen Stärkeverhältnisse ein Angriff Russlands auf die Verbündeten in unserem östlichen Glacis und unser Land mit größter Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben müßte, so lehrt uns die Geschichte, daß nicht selten ein an Zahl unterlegener Angreifer erfolgreich war. Schauen wir auf Alexanders Feldzüge gegen die personell weit überlegenen Perser und die glänzenden Siege Friedrichs des Großen im Siebenjährigen Krieg. Der Russlandfeldzug im Zweiten Weltkrieg ist nur ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte, auch wenn er dann letztendlich gescheitert ist. Die Anfangserfolge waren überwältigend, Tod und Zerstörung zuerst im Land des Feindes und dann in unserem Lande aber auch. Es kann eben leider nicht ausgeschlossen werden, daß ein wenig rational denkender Diktator derartige militärische Abenteuer unternimmt. Deswegen bleibt es bei der alten Weisheit: si vis pacem para bellum.
Ich halte es auch im Übrigen für unhistorisch, Russland grundsätzlich lautere Absichten gegenüber Deutschland zuzubilligen. Mit Ausnahme des sprichwörtlich gewordenen Mirakels des Hauses Brandenburg am 5. Mai 1762 im Frieden von St. Petersburg, als Russlands Zar Peter III. die Seiten wechselte und statt Österreich Preußen unterstützte, hatte Deutschland von Russland noch nie etwas Gutes zu erwarten. Für Bismarck war in seinem außenpolitischen „Spiel mit fünf Kugeln“ die russische die heikelste. In der Juli-Krise 1914 war nach heute in der seriösen Geschichtswissenschaft herrschenden Meinung Russland neben Frankreich der ärgste Kriegstreiber gegen Deutschland. Über die Rolle des zur Sowjetunion gewordenen Russland im Zweiten Weltkrieg, insbesondere im Jahre 1945, zum Nachteil Deutschlands muß kein Wort mehr verloren werden.
Angesichts der im rechten politischen Spektrum überproportional vorhandenen militärischen Sachkunde überrascht mich das Argument, unsere wehrpflichtige Jugend sollte nicht für sogenannte fremde Kriege zur Verfügung stehen, also etwa in der Ukraine eingesetzt werden. Gerade das genannte Beispiel der Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan zeigt doch überdeutlich, daß wehrpflichtige Soldaten der Bundeswehr niemals in solche Einsätze geschickt worden sind. Die Rechtslage war insoweit eindeutig, was ja jeder wissen sollte, der in den letzten 25 Jahren als Soldat oder Reservist in der Bundeswehr gedient hat. Selbstverständlich gilt dies weiterhin, wenn die Wehrpflicht wieder auflebt. Dieses Argument muß ich also als unsachlich und bloß polemisch zurückweisen.
Noch viel weniger können innenpolitische Entwicklungen, und seien sie noch so sehr abzulehnen, einen Einfluß auf die Wehrverfassung des Landes haben. Denn die Reaktion darauf kann in einer Demokratie nur die Abwahl der schlechten Politiker sein, in der Diktatur der Umsturz. Rüdiger Lucassen hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Bundeswehr nicht die Auftritte von Drag Queens in Kindergärten schützt, sondern die Kinder unseres Landes. Man kann ja auch nicht die Zahlung seiner Steuern ganz oder teilweise einstellen, weil man mit der Politik der Regierung nicht zufrieden ist. Man stelle sich vor, jemand behalte den Betrag seiner Steuer ein, der dem Prozentsatz des, sagen wir einmal Entwicklungshilfe-Etats am Gesamthaushalt von Bund, Ländern und Gemeinden entspricht. Und nicht zuletzt ist eine solche Argumentation kurzatmig. Wer der schlechten Regierung von heute die Steuereinnahmen oder Soldaten wegnimmt, nimmt sie auch der guten Regierung von morgen. Das ist derartig banal, daß man am hinreichenden intellektuellen Leistungsvermögen von Politikern wie Björn Höcke zweifeln muss, die mit solch kruder Argumentation die vornehmste Pflicht des Bürgers gegenüber seinem Staat, und damit seinen Mitmenschen, davon abhängig machen, ob die Regierung aktuell kluge oder dumme Politik macht. Gerade von Menschen mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium erwartet man einen solchen Schwachsinn, wie ihn Herr Höcke und seine Anhänger derzeit propagieren, auf keinen Fall.
Man mag zwar angesichts der US-amerikanischen Außenpolitik, vor allem unter den letzten von den Demokraten gestellten Präsidenten gut beraten sein, auch einmal auf die deutschen Interessen zu schauen. Diese schließen es allerdings nicht aus, sondern erfordern sogar eine aktive Außenpolitik einschließlich der notwendigen militärischen Komponente, ohne die ein Staat so wenig ernst genommen werden kann, wie ein Liebhaber mit fehlender Potenz. Der platte rechte Pazifismus ist eben nicht nur in seiner Begründung unterkomplex, sondern auch grundfalsch, so falsch wie das Einfüllen von Dieselkraftstoff in den Tank eines Fahrzeuges mit Ottomotor. Denn er negiert die Grundlage jeder Staatlichkeit, nämlich die Rechtstreue seiner Bürger, im Falle einer Demokratie das konsensuale Mehrheitsprinzip. Und damit auch eine tragende Säule der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Herr, schmeiß Hirn runter!
Wer die Wählbarkeit seiner Partei über einen überschaubaren Kreis von esoterischen Träumern von der „teutschen“ Nation hinaus sicherstellen will, muss solche Spinner wie Höcke und Co. erst einmal an die frische Luft setzen.