70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird naturgemäß sehr viel über diesen Krieg und seine Ursachen geschrieben. Erstaunlich wenig liest man in diesen Tagen über den Mann, der für den Ausbruch dieses Krieges nach verbreiteter Ansicht allein Verantwortung trägt, auf jeden Fall jedoch zu einem erheblichen Teil. Wer sich mit einem ausdrücklich als programmatisch bezeichneten Buch an die Öffentlichkeit wendet und sich mit gleichlautenden Reden und Programmen zur Wahl stellt, der muß sich daran auch messen lassen. Somit muß als authentische Formulierung der nationalsozialistischen Ideologie Hitlers „Mein Kampf“ angesehen werden.
Angesichts des politischen Erfolges seines Autors verblüfft den Leser das intellektuelle Niveau dieses Buches. Abgesehen davon, daß es nicht entfernt die Anforderungen erfüllt, die an ein Sachbuch, geschweige denn an ein Werk auf wissenschaftlichem Niveau gestellt werden müssen, überrascht auch die Vielzahl von offensichtlichen Unrichtigkeiten, die selbst dem akademisch nicht gebildeten Leser ins Auge springen. Stilistisch handelt es sich im Grunde genommen um eine Aneinanderreihung von Redemanuskripten, besser: Redemitschriften. Belegstellen für Tatsachenbehauptungen oder einen wissenschaftlichen Meinungsstand findet man an keiner Stelle. Demgemäß fehlt auch ein Literaturverzeichnis. Auf welche Forschungsergebnisse, Statistiken und Literaturmeinungen sich der Verfasser stützt, erfährt der Leser mit keiner Silbe. Die Vielzahl von offensichtlich sachlich unzutreffenden Behauptungen, an die jedoch ganz grundsätzliche Schlussfolgerungen geknüpft werden, ist mehr als erstaunlich.
Ich will das am Beispiel des aus der Sicht des Verfassers wohl zentralen Kapitels, übertitelt: „Volk und Rasse“, kurz belegen. In diesem Kapitel will der Verfasser seinen Lesern seine Überzeugung vermitteln, daß die Arier die edle und lebenswerte Rasse sind, die Juden hingegen minderwertig und alleine von dem Gedanken besessen sind, sich die übrigen Rassen zu unterjochen. Die angebliche Minderwertigkeit der jüdischen Rasse will Hitler unter anderem daran festmachen, daß das jüdische Volk niemals über ein eigenes Staatswesen auf einem Staatsgebiet verfügt habe. Nun müßte er eigentlich beim Niederschreiben dieser Behauptung darüber gestolpert sein, daß im Alten Testament eben die Geschichte des jüdischen Staates erzählt wird, dessen Ende bekanntlich auf die Vertreibung der Juden durch die Römer im Jahre 70 nach Christus zu datieren ist. Und deswegen müßte es ihm klar gewesen sein, daß alle seine Leser, auch die mit keinem größeren Bildungshorizont als ihrem Volksschulabschluß, genau das ebenso gut wußten wie er selbst. Die Minderwertigkeit der jüdischen Rasse macht er im gleichen Kapitel daran fest, daß Juden etwa im Bereich der Kunst allenfalls als Schauspieler hervorgetreten seien, keinesfalls jedoch als Komponisten oder Dichter. Auch das verblüfft vor dem Hintergrund, daß es damals praktisch jedem Deutschen geläufig war, welche großen und bekannten Komponisten und Dichter jüdischer Herkunft waren. Aus dem Bereich Musik wären etwa Felix Mendelssohn-Bartholdy, Jacques Offenbach, Gustav Mahler und Max Bruch zu nennen, aus dem Bereich der Literatur Heinrich Heine, Franz Kafka und Stefan Zweig. Hitler behauptet weiter, das Judentum kenne keinen Glauben an ein Leben nach dem Tode wie etwa das Christentum. Auch dies ist mit Blick auf das Alte Testament, das damals noch mehr als heute zum Allgemeinwissen gehörte, schlicht abwegig.
Um so mehr erstaunt, daß ein Mann mit derartigen Ansichten in freien Wahlen immerhin ca. ein Drittel der Wähler hinter sich bringen konnte. Es erstaunt auch, daß seine wichtigsten Paladine allesamt über einen akademischen Hintergrund verfügten. Zwar hatten nur Goebbels (promovierter Germanist) und Himmler (abgeschlossenes Studium der Landwirtschaft) einen regulären Hochschulabschluß. Doch auch Göring und Heß hatten jeweils mehrere Semester eines Hochschulstudiums absolviert, allerdings jeweils das Studium abgebrochen. Auch wenn man die Liste der 16 Parteigenossen, die beim Marsch auf die Feldherrenhalle am 09.11.1923 von der bayerischen Polizei erschossen worden sind näher betrachtet, so findet man darin auf jeden Fall vier Akademiker, darunter einen Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht sowie eine Reihe von Berufsbezeichnungen wie Kaufmann und Bankbeamter, hinter denen sich der ein oder andere akademische Abschluss verbergen mag.
Daß ein Mensch mit derartig wirren, buchstäblich bodenlosen Auslassungen (von Theorien möchte man wirklich nicht sprechen) Menschen mit Hochschulbildung und Lebenserfahrung derartig beeindrucken konnte, daß sie unter seiner Führung zu jedem Verbrechen bereit waren, gehört zu den bis jetzt ungelösten Rätseln der Menschheit. Dieses Urteil ist ausdrücklich nicht auf die Kenntnis vom Verlauf der Geschichte nach 1933 gegründet, und es gründet auch nicht auf dem Wissensstand unserer Zeit. Nein, auch bei Anlegung der Maßstäbe jener Zeit ist es schlicht nicht nachvollziehbar, wie man mit derartigem Unsinn reüssieren konnte. Denn an und für sich muß damals wie heute gelten, daß der Verfasser von solch wirrem Zeug dringend zum Arzt muß, und zwar zum Facharzt für Psychiatrie.