Man sollte eigentlich meinen, Musik und Politik hätten nichts miteinander zu tun. In diesen Tagen werden wir eines schlechteren belehrt. Die Türkei hat auf EU-Ebene gegen das Konzertprojekt „Aghet“ der Dresdner Sinfoniker zum Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren interveniert. Der türkische Botschafter soll verlangt haben, daß die Europäische Union die finanzielle Förderung für die internationale Produktion einstellt, so der Intendant der Dresdner Sinfoniker. Die Werbung für das Konzert wurde dann auch von der einschlägigen EU-Website gelöscht. In diesem Zusammenhang fällt mir natürlich unwillkürlich ein, daß die EU sich in der Flüchtlingsfrage vom Wohlwollen der Türkei abhängig gemacht hat, was unsere famose Bundeskanzlerin durchgesetzt hat.
Der Umgang der Türkei mit dem Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren ist in der Tat bemerkenswert. Es dürfte in der historischen Wissenschaft inzwischen nahezu nicht mehr streitig sein, daß der Tod von über 1 Million Armeniern im Zuge ihrer Vertreibung aus dem osmanischen Reich als Völkermord im Sinne der einschlägigen Konvention der Vereinten Nationen anzusehen ist. Die Leugnung dieses Völkermordes ist sogar in einigen Staaten Europas strafbar (Schweiz, Griechenland, Slowakei etc.). Umgekehrt ist es in der Türkei strafbar, diesen Völkermord bei seinem Namen zu nennen. Die Handhabe dafür ist der im internationalen Vergleich sicherlich einzigartige Art. 301 des türkischen Strafgesetzbuches („Beleidigung des Türkentums“). Diese Vorschrift dient Herrn Erdogan und seinen Hofschranzen in erster Linie dazu, mißliebige Journalisten und Schriftsteller aburteilen zu lassen. Von einer unabhängigen Justiz kann in diesem Lande ja keine Rede sein.
Welche Maßstäbe indessen in der Europäischen Union herrschen, in die Erdogan sein Land so rasch wie möglich führen will, sollte er sich vielleicht einmal näher ansehen. So hat der Europäische Gerichtshof für die Menschenrechte im Jahre 2013 entschieden, daß die Meinungsfreiheit auch für die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern gilt. Auf der anderen Seite existiert seit 2007 eine EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, die ausdrücklich auch die Leugnung und Trivialisierung von Völkermorden verbietet. Die europäische Rechtslage läßt sich somit dahingehend zusammenfassen, daß man den Völkermord an den Armeniern nicht leugnen darf, aber auch nicht bestraft werden darf, wenn man es trotzdem tut.
Man stelle sich nur einen Augenblick lang vor, die Regierung eines europäischen Landes, etwa Deutschlands, stelle den Völkermord an den europäischen Juden (Holocaust) in Abrede und verfolge jeden strafrechtlich, der ihn beim Namen nennt. Abgesehen davon, daß dem in Deutschland natürlich § 130 Abs. 3 StGB entgegensteht, wie das auch in vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist, zeigt dieser Vergleich die Unhaltbarkeit der türkischen Position zum Völkermord an den Armeniern auf. Damit wird auch an diesem Detail der türkischen Politik deutlich, daß dieses Land in der Europäischen Union nichts, aber auch gar nichts verloren hat. Nicht nur, daß die Meinungsfreiheit dort mit stiefelbewehrten Füßen getreten wird, nein, selbst die Benennung historischer Tatsachen steht unter Strafe. Man gehört eben zum orientalisch-islamischen Kulturkreis. Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit sind dort unbekannt. Unsere Beziehungen zu diesem Kulturkreis sollten wir daher auf Geschäftsbeziehungen beschränken.