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Die verspäteten Suffragetten

In diesen Tagen wird allenthalben daran erinnert, daß vor 100 Jahren, am 19. Februar 1919, erstmals eine Frau im Reichstag das Wort ergreifen durfte, die Abgeordnete Marie Juchacz. In der Tat, ein demokratischer Fortschritt, der auch wie vieles andere den Umwälzungen geschuldet war, welche das Ende des Ersten Weltkrieges nicht nur in Deutschland mit sich gebracht hatte. Mit Fug und Recht sagen viele, mit dem Ende des Ersten Weltkrieges sei eigentlich erst das 19. Jahrhundert beendet worden. Und damit ist auch die alte Gesellschaftsordnung untergegangen. Nicht, daß in Deutschland erst mit diesem Tage die Demokratie in die Welt getreten wäre. Demokratische Bestrebungen gab es ja schon seit langem, erinnert sei nur an das Hambacher Fest 1848 und die Paulskirchenversammlung 1849, in der erstmals eine Verfassung für Deutschland beschlossen wurde. Doch in der Tat nahm die Demokratie in Deutschland ab 1919 gewissermaßen Fahrt auf. Dazu gehörte selbstverständlich, daß auch die Frauen an der demokratischen Willensbildung wie auch an der parlamentarischen Repräsentation des Volkes Anteil nahmen. Ich sage Anteil nahmen, und nicht lediglich hatten. Denn ein Recht, das einem zusteht, muß man auch nutzen, wenn man davon etwas haben will. Nutzt man es nicht, so gibt man damit auch zu verstehen, daß dieses Recht einem vielleicht nicht ganz so wichtig ist.

Der 100. Jahrestag des Auftretens der Abgeordneten Marie Juchacz am Rednerpult des Reichstages zu Berlin treibt nun auch die Vorsitzende der Partei um, welcher Frau Juchacz angehörte. Andrea Nahles, im allgemeinen nicht vom politischen Glück begünstigte aktuelle Vorsitzende der SPD, hält die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, wie sie sich in Deutschland nicht nur von Verfassungs wegen seit langem durchgesetzt hat, für unvollkommen. Denn die Bevölkerung Deutschlands (gemeint ist wohl das deutsche Volk, denn nur deutsche Staatsbürger sind in Deutschland wahlberechtigt), bestehe doch zu rund 52 % aus Frauen. Der Frauenanteil im Deutschen Bundestag liege jedoch bei nur knapp 31 %. Das müsse, so die versätete Suffragette des 21. Jahrhunderts, dringend geändert werden. Und weil das Wahlverhalten wie auch die Neigung, sich überhaupt für politische Ämter zur Verfügung zu stellen, bisher eben nicht zu einer Frauenquote im Parlament geführt habe, die der Frauenquote in der Gesamtbevölkerung entspreche, müsse da der Gesetzgeber ran.

Diese Forderung kommt also inzwischen nicht mehr nur vom politischen Narrensaum der Gesellschaft, der sich bei den Linken und den Grünen breitgemacht hat, sondern auch von der ältesten deutschen Partei. Anlaß, der Sache auf den Grund zu gehen. Natürlich fragt sich zu allererst, woher diese Differenz zwischen Frauenanteil in der Bevölkerung bzw. dem Wahlvolk und deren Repräsentanz in den Parlamenten eigentlich kommt. Es steht doch jedermann und natürlich auch jederfrau frei, sich politisch zu betätigen, in eine politische Partei einzutreten und sich dort auch als Kandidat bzw. Kandidatin für Abgeordnetenmandate zur Verfügung zu stellen. Betrachten wir daher zunächst einmal die Wirklichkeit.

Der Frauenanteil unter den Mitgliedern der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien sieht aus wie folgt (Angaben des Stiatischen Bundesamtes per 31.12.2017):

Grüne:         39,8 %

Linke:           36,5 %

SPD:             32,5 %

CDU:            26,2 %

F.D.P.:          21,9 %

CSU:             20,5 %

AfD:              17,0 %

Der Frauenanteil in den Fraktionen des Deutschen Bundestages sieht aus wie folgt:

Grüne:         58,2 %

Linke:           53,6 %

SPD:             41,8 %

F. D. P.:         23,7 %

CDU/CSU:   19,9 %

AfD:              10,7 %

Offenbar haben es bei der Aufstellung von Kandidaten für die Wahl zum Deutschen Bundestag im Herbst 2017 mehr Frauen bei Grünen, Linken und auch der SPD auf aussichtsreiche Plätze der Kandidatenliste geschafft, als es ihrer Quote unter den Mitgliedern ihrer Parteien entspricht.  Im Falle der Grünen und der Linken ist der Frauenanteil im Parlament sogar höher, als es dem Anteil der Frauen in der Bevölkerung entspricht. Bei der SPD, der Frau Nahles vorsteht, haben es auch mehr weibliche Mitglieder auf aussichtsreiche Listenplätze geschafft, als es ihrer Quote in der Partei entspricht, denn sonst gäbe es ja nicht 9 % mehr Parlamentarierinnen als weibliche Mitglieder. Warum das bei den anderen Parteien wiederum eher umgekehrt ist, kann offen bleiben. Denn die Delegiertenversammlungen haben nun einmal die Kandidaten so bestimmt.

Und damit kommen wir zu des Pudels Kern. Die Vorstellung, die Zusammensetzung eines Parlamentes müsse sich in jeder Beziehung als Spiegelbild der Gesamtgesellschaft zeigen, ist mindestens naiv, wenn nicht sogar absurd. Das gilt nicht nur für das Verhältnis von Männern und Frauen (was ist eigentlich mit den von der sog. Genderforschung entdeckten weiteren Geschlechtern?), sondern konsequent zu Ende gedacht auch für das Verhältnis etwa der Berufsgruppen in der Gesamtbevölkerung einerseits und dem Parlament andererseits, von einem religiösen Proporz, der selbstverständlich auch diejenigen umfassen müsste, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, einmal ganz zu schweigen. Allein schon diese Überlegungen zeigen, wie absurd die Forderung der wackeren SPD-Vorsitzenden ist.

Doch wenn man über das Wahlrecht spricht, können juristische Überlegungen nicht ganz außen vor bleiben. Denn das Wahlrecht ist bei uns in der Verfassung geregelt. Der einschlägige Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Und wenn es um Gleichheit geht, kann Art. 3 des Grundgesetzes nicht unberücksichtigt bleiben, denn er regelt eben dies. Art. 3 Abs. 1 GG lautet: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Art. 3 Abs. 2 GG lautet: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Art. 3 Abs. 3 GG lautet, soweit für unser Thema von Interesse: Niemand darf wegen seines Geschlechtes usw. benachteiligt oder bevorzugt werden.

Wenn aber die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in freier und gleicher Wahl bestimmt werden, dann bedeutet das für Sie, liebe Leser, und mich als Wähler doch, daß wir es uns aussuchen können, wen von den Kandidaten, natürlich auch Kandidatinnen, wir wählen, und auch frei darin sind, unter diesen auszuwählen. Und nebenbei bemerkt: diese Abgeordneten sind nach der Verfassung ja Vertreter des ganzen Volkes, also auch beider Geschlechter, in unserer verrückten Zeit von mir aus auch aller Geschlechter. Wenn nach Art. 3 Abs. 1 GG alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, dann bedeutet das natürlich auch in ihrer Eigenschaft als Kandidaten wie auch als Wähler. Wenn Männer und Frauen nach Art. 3 Abs. 2 GG gleichberechtigt sind, dann gilt das natürlich auch für die Ausübung des Wahlrechts, aktiv wie passiv. Und wenn niemand gemäß Art. 3 Abs. 3 GG wegen seines Geschlechtes benachteiligt oder bevorzugt werden darf, dann gilt das selbstverständlich auch für Wähler und Kandidaten. Kurz und gut, Forderungen dieser Art wie sie nun auch Frau Nahles erhebt, sind schlicht und einfach mit unserer Verfassung unvereinbar. Aus diesem Grunde hat ja auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 26.03.2018, Az.: Vf. 15-VII-16 solchen Forderungen eine klare Absage erteilt und festgestellt, daß jedenfalls die bayerische Verfassung dem in Bayern geltenden Wahlrecht nicht entgegensteht. Auch in Bayern verhindert dieses Wahlrecht nicht, daß die Frauenquote im Parlament bei weitem nicht derjenigen in der Gesamtbevölkerung entspricht. Allerdings ist gerade das bayerische Wahlrecht insoweit noch demokratischer, als das Bundeswahlrecht, als man bei der Wahl nicht an die Kandidatenreihung gebunden ist, welche die Delegierten der Parteien in ihren Versammlungen beschlossen haben und die sich deswegen auf den Wahlzetteln wiederfindet. Vielmehr können die Wähler in Bayern das in der Wahlkabine nach ihrem Geschmack ändern und beispielsweise einen Menschen, der am Ende des Wahlvorschlages einer Partei steht, ganz nach vorne schieben. Ob Frau Nahles eine solche Regelung begrüßen würde, muß bezweifelt werden. Denn sie ermöglicht zumindest, daß die Listen von Parteien, welche die weiblichen Kandidaten auf den ersten Plätzen aufweisen, von den Wählern zum Nachteil eben dieser Damen geändert werden.

All diese Dinge sind eigentlich selbstverständlich. Frau Nahles hat unter anderem während der 20 Semester, die sie an der Bonner Uni studiert hat, nach allgemein zugänglichen Angaben unter anderem politische Wissenschaft gehört. Dazu gehört natürlich auch das Wahlrecht. Wie ihre Forderung zeigt, hat sie in den einschlägigen Vorlesungen und Seminaren wohl nicht besonders gut hingehört. Vielleicht, weil sie ihr Hauptfach neuere und ältere Germanistik mehr interessiert hat, vielleicht weil dieses Fach auch mehr für ihr spezielles Interesse zu bieten hat. Ihre Magisterarbeit hat sie jedenfalls zum Thema „Funktion von Katastrophen in Serien-Liebesromanen“ abgeliefert. Ob ihre Amtsführung als Parteivorsitzende der SPD auch als Katastrophe einzustufen ist, weil sie sich zum Beispiel in derartige Fantastereien wie die Frauenquote im Parlament verirrt, ist für die Mitglieder ihrer Partei sicher eine interessante Frage. Daran ändert es im übrigen auch nichts, daß in einigen europäischen Ländern wie etwa Frankreich, Spanien oder auch Kroatien ähnliche Regelungen gelten, wie sie Frau Nahles anstrebt. Denn zum einen gilt bei uns eben unsere Verfassung, und zum anderen kann man ja von fremden Ländern manches lernen, Unfug muß man jedoch nicht übernehmen.