In diesen Tagen hat die Bundesministerin der Verteidigung das neue Weißbuch vorgestellt. Das hat weder in den Medien noch in der Öffentlichkeit eine Debatte ausgelöst. Man kann allenfalls von wohlwollendem Desinteresse sprechen. Die jahrzehntelange Konditionierung der Deutschen zu einer in der Grundbefindlichkeit eher pazifistischen Gesellschaft ließ auch nichts anderes erwarten.
Nun wird in den Weißbüchern des Bundesministeriums der Verteidigung traditionell nicht lediglich ein Ausblick auf angestrebte Strukturveränderungen der Streitkräfte und ihre Ausrüstung gegeben, sondern durchaus grundlegend auch eine Einordnung in die Weltpolitik vorgenommen. Die Rolle Deutschlands in der Welt, die Rolle Deutschlands in den Vereinten Nationen wie der NATO, und ein klein wenig auch die deutschen Interessen werden definiert. Das geschieht natürlich auch in diesem Weißbuch, soll aber nicht Gegenstand dieser Betrachtungen sein.
Vielmehr wollen wir den Blick auf das Selbstverständnis der Bundeswehr richten, wie es nach Auffassung der politischen Leitung des Ministeriums und natürlich der Bundesregierung überhaupt sein sollte. Festgehalten wird natürlich an Begriff und Grundsatz der Inneren Führung. Insoweit formuliert das Weißbuch in Ziffer 8.3 (Innere Führung als Kern des Selbstverständnisses der Bundeswehr) unter anderem: „Die innere Führung stellt sicher, daß sich die Ausbildung von Soldatinnen und Soldaten nicht allein auf die Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten beschränkt, sondern vielmehr die Bindung an die Werte unseres demokratischen Gemeinwesens festigt.“ Natürlich ist die Bindung des Soldaten an die Werte unseres demokratischen Gemeinwesens eines der Ziele der Inneren Führung, jedenfalls wenn man den in § 9 des Soldatengesetzes formulierten Diensteid zugrunde legt. Die Eidesformel lautet ja nun einmal: „Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, (so wahr mir Gott helfe).“ Gemessen daran fehlt in der Definition der Aufgabe und Zielvorstellung der Inneren Führung jeder Hinweis auf das Volk bzw. Land, dem der Soldat der Bundeswehr dient. Immerhin sind die zentralen Begriffe der Eidesformel die Pflicht zum treuen Dienen gegenüber dem Land, und die Pflicht, Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Beides kommt in der Formulierung dieser Zielvorstellung nicht vor. Die Werte unseres demokratischen Gemeinwesens, die dort allein auftauchen, lassen sich sicher auch unter Recht und Freiheit des deutschen Volkes einordnen, allerdings sind damit Recht und Freiheit des deutschen Volkes keineswegs erschöpfend beschrieben. Denn die demokratischen Grundwerte gehören zwar sicherlich zu den Rechten der Deutschen, die der Soldat der Bundeswehr verteidigt. Zu den Rechten der Deutschen gehört aber vor allem auch ihre Freiheit nach innen wie nach außen. Davon ist nicht die Rede. Zu den Rechten der Deutschen gehört es auch, ihre natürlichen Interessen auf ein Leben in Frieden und Wohlstand zu wahren. Die Werte der demokratischen Gesellschaft indessen als gewissermaßen Teilmenge der in der Eidesformel beschriebenen Aufgabenstellung können demgemäß doch nur ein Teil dessen sein, wofür der Soldat notfalls mit Gesundheit und Leben einzustehen hat. Doch offenbar ist die Benennung spezifisch nationaler Rechte und Werte inzwischen verpönt. Die Demokratie an sich als Wert ist ebenso unverfänglich wie wohlfeil. Denn sie ist selbstverständlich Staatsform und gelebte gesellschaftliche Wirklichkeit in (fast) allen Ländern der NATO mit Ausnahme der Türkei des modernen Sultans Erdogan.
Nicht überraschend ist es daher, daß in Ziffer 8.4 des Weißbuchs neue Wege im Traditionsverständnis aufgezeigt werden. Denn: „Wichtige Teile der Führungsphilosophie (Muß es denn gleich Philosophie sein? Tut es nicht auch das Selbstverständnis?) der Bundeswehr sind ein Werte vermittelndes Traditionsverständnis und dessen Pflege. Unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen für ihren fordernden Auftrag neben der rationalen Sinnstiftung auch eine emotionale Bindung. Die preußischen Reformen und der Widerstand gegen das NS-Regime werden immer ihren besonderen Platz behalten. Sie dienen als wesentliche Vorbilder und zur moralischen Festigung. Doch Traditionen müssen gelebt werden.“ Den in der deutschen Geschichte offenbar allein sinnstiftenden Ereignissen der preußischen Reformen und des Widerstandes gegen das NS-Regime wird dann noch die inzwischen über 60-jährige Tradition der Bundeswehr selbst hinzugefügt. Letzteres ist sicherlich angebracht und legitim. Denn die Bundeswehr besteht inzwischen länger als jede deutsche Armee vor ihr, und sie kann für sich in Anspruch nehmen, einen wesentlichen Beitrag zur friedlichen Überwindung des Ost-West Konfliktes geleistet zu haben, und gewissermaßen zu den Siegern des Kalten Krieges zu gehören. Die preußischen Reformen und der Widerstand gegen das NS-Regime indessen waren politische, nicht militärische Leistungen. Somit bleibt als traditionsstiftende militärische Leistung allein der Beitrag zur Überwindung des Ost-West Konfliktes und der damit einhergehenden friedlichen Wiedervereinigung unseres Volkes. In einem „heißen“ Krieg mußte sich die Bundeswehr gottlob nicht bewähren, vom Einsatz in Afghanistan einmal abgesehen. Indessen fehlt in dieser Aufzählung, was für alle anderen Armeen auf dieser Erde stets traditionsbegründend ist: die großartigen soldatischen Leistungen in den Kriegen der Vergangenheit. Immerhin haben die deutschen Armeen in den Kriegen von 1866,1870/71,1914-18 und 1939-45 militärische Leistungen gezeigt, die überall in der Welt geachtet und hoch geschätzt, jedoch nur in Deutschland offenbar verschämt unter Verschluß gehalten werden. Die Führungskunst der Feldherren und Generalstäbe, die weltweit bewunderte Auftragstaktik, die Erfolge deutscher Armeen auf den Schlachtfeldern gegen personell und materiell häufig weit überlegene Gegner, alles das soll nach den Vorstellungen der Auftraggeber und der Verfasser dieses Weißbuches offenbar nicht traditionsbegründend sein. Die Tatsache allein, daß deutsche Soldaten über einen vergleichsweise sehr kurzen Zeitraum der Geschichte – was sind schon 12 von gut 300 Jahren? – gezwungen waren, einem Unrechtsregime dienen zu müssen, ist für die dominierende politische Klasse dieses Landes (von Elite kann ich hier nicht sprechen) Grund genug, die glänzenden Leistungen früherer Soldatengenerationen unter den Tisch fallen zu lassen. Was in anderen Ländern zur Errichtung von Denkmälern und jährlichen Paraden der Streitkräfte vor den Staatsoberhäuptern unter großer Anteilnahme der Bürger führt, wird in Deutschland geächtet. Wie auf diese Weise eine innere Bindung des Soldaten an Volk und Land geschaffen werden soll, bleibt wohl das Geheimnis unserer Politiker und ihrer medialen Lautsprecher. Vielleicht soll das aber auch gar nicht erreicht werden.
Nur in diesem Geiste ist es wohl möglich, sich Gedanken darüber zu machen, die offenkundigen Personalprobleme der Bundeswehr dadurch zumindest abzumildern, daß man sie für Ausländer öffnet. So heißt es auf Seite 120 des Weißbuches unter dem Stichwort „Personalstrategie“ unter anderem: „Nicht zuletzt böte die Öffnung der Bundeswehr für Bürgerinnen und Bürger der EU nicht nur ein weitreichendes Integrations- und Regenerationspotenzial für die personelle Robustheit der Bundeswehr, sondern wäre auch ein starkes Signal für eine europäische Perspektive.“ Dieses – pardon! – Geschwurbel will wohl heißen, daß es eigentlich völlig gleichgültig ist, wer in dieser Armee dient, vor allem, woher er kommt und welchen Pass er in der Tasche trägt. Das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen wird wohl kaum das Motiv solcher Soldaten sein. Hier wird ganz offen über die Rekrutierung von Söldnern nachgedacht. Natürlich gibt es so etwas in Form der französischen wie auch der spanischen Fremdenlegion. Das sind aber immerhin besondere Truppenteile. Die USA haben sich für die Erledigung besonders gefährlicher und schmutziger militärischer Aufträge der Dienste kommerzieller Anbieter versichert. Wenn man nun auch in Deutschland derartige Erwägungen anstellt, dann sollte man eben auch zwischen dem Dienst für das Vaterland – ja, Vaterland – und dem Einsatz von Waffengewalt zur Durchsetzung politischer oder wirtschaftlicher Interessen trennen. Aber dazu bedürfte es einer Klasse von Politikern, die sich nicht lediglich als Manager eines Großunternehmens namens Bundesrepublik Deutschland verstehen, sondern als Vertreter derer, denen die Inschrift über dem Eingangsportal des Reichstages gewidmet ist. Sie lautet: Dem deutschen Volke.