Wozu braucht man eigentlich Fachleute?

Es gibt wohl keine akademische Disziplin, die für Außenstehende so überflüssig ist, wie die Juristerei. Denn auf diesem Gebiet ist offenbar jeder kompetent. Zum einen kann wirklich jeder, der des Lesens kundig ist, Gesetze und Gerichtsurteile lesen. Lesen heißt natürlich auch verstehen. Wer etwa die Zeitung oder die Gebrauchsanleitung für seine Waschmaschine gelesen hat, hat ja nun auch verstanden, was er gelesen hat. Denkt er und auch sie jedenfalls. Zum anderen ist man täglich eigentlich ununterbrochen mit Rechtsfragen konfrontiert, auf die man eine Antwort haben muß. So muß jeder prüfen und entscheiden, ob eine Rechnung zu bezahlen ist, ob er auf der Autobahn langsamer fahren muß, weil dort ein Schild steht, wonach bei Nässe nur noch 80 km/h gefahren werden darf, oder ob er den Gehsteig streuen muß, weil sich dort Glatteis bildet. Kurz und gut, das Recht umgibt und fordert uns ständig. Und deswegen sind wir da doch alle firm. Die Juristen mit ihren Spitzfindigkeiten sind eigentlich nur eine Landplage.

Was Recht ist, weiß man ja

Weil das so ist, kann man nicht nur nach der Tagesschau den Freispruch in einem Mordprozeß zutreffend kommentieren, sondern man kann selbstverständlich auch feststellen, was das Grundgesetz so alles anordnet und regelt. Vor allem kann man ja schon am Wortlaut feststellen, daß das Grundgesetz keine Verfassung ist, denn sonst müsste sie ja so heißen.

Der unerledigte Verfassungsauftrag eine neue Verfassung zu schaffen

Immer wieder liest man deswegen mal kurze und prägnante, mal langatmige und umständliche Ausführungen von Zeitgenossen über die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, ihre Identität oder Nichtidentität mit dem Deutschen Reich oder auch die Schaffung und Inkraftsetzung einer neuen Verfassung gemäß Art. 146 GG. Das steht nach Meinung dieser Rechtsexperten noch aus. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen wird diese Vorschrift des Grundgesetzes einfach nicht umgesetzt. Wer und auf welchem Wege für diese Umsetzung zuständig ist, bleibt dabei im Dunkeln. Wenn man nun statt eigener Überlegungen dazu einfach einmal Juristen befragen würde, bekäme man auch eine klare Antwort. Das Thema ist für examinierte Juristen, selbst ohne Spezialisierung auf das Verfassungsrecht, unproblematisch.

Wer ist der pouvoir constituant?

Eine neue Verfassung kann das deutsche Volk sich natürlich geben. Dazu ist allerdings die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung erforderlich. Das Grundgesetz selbst schweigt darüber, wer dafür zuständig ist. Somit gelten die allgemeinen Regeln. Wenn schon für verfassungsändernde Gesetze eine Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat erforderlich ist, dann sicherlich auch für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. Wer diese Mehrheit organisieren kann, ist realistisch nicht abzusehen. Unter den Abgeordneten wird man jedenfalls derzeit niemanden finden, der sich mit einer solchen Frage überhaupt befassen würde.

Wäre eine neue Verfassung grundlegend anders?

Eine neue Verfassung wäre bei Lichte besehen eine Änderung der vorhandenen Verfassung. Dabei wäre allerdings gemäß Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes zu beachten, daß die tragenden Grundsätze der geltenden Verfassung, nämlich die Verpflichtung des Staates zur Achtung der Menschenwürde, konkretisiert in den Grundrechten, und das Demokratie- und Rechtsstaatsgebot nicht aufgehoben werden dürfen. Also wäre auch eine neue Verfassung in ihren wesentlichen Grundzügen ähnlich wie die geltende Verfassung. Etwas anderes könnte nur im Falle eines gewaltsamen Umsturzes Platz greifen. Mit anderen Worten: nur eine Revolution könnte sich über die Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG hinwegsetzen. Dann hätten wir allerdings, wie das nach Revolutionen schon immer gewesen ist, eine Diktatur.

Ist Deutschland ein souveräner Staat?

Das ist auch völlig losgelöst von der Verfassungsgeschichte. So sind etwa Art. 133 und 139 GG ganz offensichtlich nur noch Rechtsgeschichte. Auch spielt es keine Rolle mehr, ob und mit welchen Intentionen die Alliierten seinerzeit auf die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und den Text ihrer Verfassung Einfluß genommen haben. Die Frage der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland stellt sich jedenfalls nach dem geltenden Verfassungstext nicht. Auch das ist völlig klar. Ich habe noch nie von einem Verfassungsrechtler etwas gegenteiliges gehört. Daran ändert auch die sagenhafte “ Kanzlerakte“, soweit sie überhaupt existiert, nichts. Denn für die Gesetzgebung, und damit auch für die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge, ist das Parlament zuständig. Selbst wenn der Bundeskanzler sich per Unterschrift gegenüber den USA zu irgendetwas verpflichtet, bindet das den Gesetzgeber nicht. Inwieweit allerdings ein Staat wie Deutschland im Verhältnis zu Weltmächten wie den USA souverän ist, kann nur politisch beurteilt werden. Völkerrechtlich stünde etwa einem Austritt Deutschlands aus der NATO nichts entgegen. Politisch wäre das natürlich Harakiri.

Offenbar sind nur die Juristen nicht rechtskundig

Soweit darüber räsoniert wird, daß ein Verfassungsauftrag aus Art. 146 GG immer noch der Erledigung harrt, findet sich diese Auffassung nur außerhalb der juristischen Profession. Mir ist jedenfalls kein Jurist, insbesondere kein Verfassungsrechtslehrer an einer deutschen Hochschule oder Verfassungsrichter bekannt, der diese Auffassung auch nur zuneigen würde. Für Juristen ist die Sache also klar.

Frage an alle Nichtjuristen, die anderer Auffassung als die Juristen sind: würden Sie sich eigentlich von einem Juristen den Blinddarm herausnehmen, oder ihr Magengeschwür therapieren  lassen?


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