Vor dem Landgericht Neuruppin muß sich zur Zeit 100-jähriger ehemaliger KZ-Wachmann dafür verantworten, daß er im seinerzeitigen Konzentrationslager Sachsenhausen eben den Dienst des Wachmannes versehen hat. Aus der Sicht der Staatsanwaltschaft ist das Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen. Zwischen Januar 1942 und Februar 1945 sei der Angeklagte wissentlich und willentlich an der Ermordung von Häftlingen in dem rund 20 km nördlich von Berlin gelegenen Lager beteiligt gewesen. Zwar habe er sich selbst nicht direkt an Tötungshandlungen beteiligt, jedoch könne seine Tätigkeit als Wachmann nicht hinweggedacht werden, ohne daß der Betrieb des Konzentrationslagers und die Tötung von Häftlingen dort möglich gewesen seien. „Durch gewissenhafte Ausübung des Wachdienstes, die sich nahtlos in das Tötungssystem einfügte“ habe Josef S. Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord geleistet. Soweit in Kürze der Sachverhalt, der nun vor diesem Landgericht verhandelt wird.
Der Fall wirft Fragen auf. Um einschlägigen Missverständnissen, seien sie gewollt oder ungewollt, schon an dieser Stelle entgegenzutreten: zweifellos handelt es sich bei den Verbrechen, zu denen der Angeklagte Beihilfe geleistet haben soll, um monströse Verbrechen. Zweifellos ist der Charakter des NS-Regimes als verbrecherisch mit Überschneidungen zum Wahnsinn zu bewerten. Zweifellos ist jeder, der diesem System und einzelnen seiner Untaten wissentlich und willentlich Vorschub geleistet hat, ein Verbrecher. Indessen kann man in einem Fall wie dem vorliegenden bei dieser einfachen Feststellung nicht stehen bleiben.
Die Diktatur und ihre Helfer, Helfershelfer, Mitläufer und auch ihre bloß Unterworfenen
Natürlich war das NS-System wie alle Diktaturen nur möglich, weil seine Vordenker, der Diktator selbst allen voran, sich auf eine große Zahl von Helfern stützen konnten. Indessen ist bei diesen Helfern zu unterscheiden zwischen denen, die sich die Ideologie des Systems zu eigen gemacht hatten, und denen, die zwar objektiv zum Gelingen beigetragen, dies subjektiv jedoch entweder gleichgültig, oder gar nur unter dem Zwang der Umstände getan hatten. Im Sinne einer strengen Kausalität, die jede Teilbedingung eines Geschehensablaufs als gleichwertige Ursache des Erfolges ansieht, müßte man ja sogar die Tätigkeit der Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft und in den Rüstungsbetrieben als mitursächlich für das Funktionieren des NS-Staates betrachten. Ihnen indessen eine Mitschuld am Funktionieren des Systems zuzuerkennen, wäre ganz offensichtlich absurd.
Vom Rad zum Rädchen
Die Rechtsauffassung der Justiz in Deutschland in dieser Frage hat sich bekanntlich mit der Entscheidung des Landgerichts München II vom 12.05.2011 in der Sache John Demjanjuk fundamental geändert. Auch Demjanjuk war als Wachmann in einer sehr untergeordneten Funktion in einem Vernichtungslager tätig. An den Vernichtungsmaßnahmen selbst hatte er nicht mitgewirkt. Gleichwohl kam das Landgericht seinerzeit zu einer Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord, weil eben auch eine so untergeordnete Tätigkeit wie die eines Wachmannes für das Funktionieren des Systems insgesamt mitursächlich gewesen sei. Der Bundesgerichtshof hat das später bestätigt. In der Zwischenzeit hat es eine Reihe von ähnlichen Verfahren vor den deutschen Gerichten gegeben. Soweit die hochbetagten Angeklagten nicht während des Verfahrens verstorben sind, wurden sie auch regelmäßig verurteilt, so etwa im Juli 2015 der damals 93-jährige Oskar Gröning, der von 1942-1945 als Buchhalter im Konzentrationslager Auschwitz gearbeitet hatte. Am 23.07.2020 verurteilte das Landgericht Hamburg den zur Tatzeit 18-jährigen Bruno D. wegen Beihilfe zum Mord in 5332 Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren. Er war Wachmann im KZ Stutthof.
Bis dahin waren die Juristen in Deutschland in ihrer übergroßen Mehrheit der Meinung, daß eine untergeordnete Tätigkeit wie die geschilderten den Vorwurf der Beihilfe zum Mord nicht begründen kann. So hat zum Beispiel die Staatsanwaltschaft Dortmund mit Verfügung vom 08.03.2007 das Ermittlungsverfahren wegen Mordes bzw. Beihilfe zum Mord gegen zwei ehemalige Angehörige der 12. Kompanie des Gebirgsjägerregiments 98 wegen der Erschießung von Kriegsgefangenen eingestellt und zur Begründung unter anderem ausgeführt: „Abgesehen davon, daß beide ehemaligen Wehrmachtsangehörigen die Tötung nicht selbst oder durch einen anderen begingen, ist nicht zu belegen daß sie – wie auch die nicht bekannten Schützen – ein irgendwie geartetes eigenes Interesse an der Erschießung hatten. Als am unteren Ende in der Militärhierarchie stehende Mannschaftssoldaten und Befehlsempfänger hatten sie auch keine Tatherrschaft, nicht einmal einen eigenen Spielraum bei der Ausführung des Tötungsbefehls. Ein täterschaftliches Handeln ist somit nicht zu bejahen. Darüber hinaus fehlt es auch an einer nachweisbaren vorsätzlichen Hilfeleistung im Sinne des § 27 StGB. Der Wille, die Handlung der befehlsgebenden Täter zu fördern und damit zur Tatbestandsverwirklichung beizutragen, ist nicht zu beweisen. Beide Soldaten haben sich nicht erst nach der Leistung ihrer Tatbeiträge – allenfalls psychische Beihilfe durch bloße Anwesenheit – bewußt von der Haupttat distanziert. Zudem hätten sie sich einem rechtswidrigen Befehl nicht entziehen können, und zur Tatbestandsverwirklichung beitragen müssen. Zumindest aber wäre ihre Schuld ausgeschlossen, weil sie einen zwar rechtswidrigen, aber dennoch verbindlichen Befehl ausgeführt hätten.“ Natürlich könnte man auch in diesem Falle argumentieren, daß die Anwesenheit der beiden Beschuldigten im Sinne einer gleichwertigen Kausalität zumindest geeignet war, eventuelle Fluchtversuche der zur Erschießung vorgesehenen Kriegsgefangenen zu verhindern. Aber hätte ihre Nichtanwesenheit etwas geändert?
Notwendiger oder austauschbarer Helfer?
Indessen gilt für diese beiden Soldaten das gleiche wie für einfache Wachleute, Arbeiterinnen in der Wäscherei oder Schreibkräfte von Kommandanten in den Konzentrationslagern, daß sie so austauschbar waren wie ihre Gewehre oder Arbeitsgerätschaften. Die Abwesenheit etwa eines geflohenen oder desertierten Wachmannes hätte nichts am Funktionieren der Tötungsmaschinerie geändert. Er wäre unverzüglich ersetzt worden. Diese Überlegungen lagen wohl auch dem Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main zu Grunde, daß am Ende des ersten großen Auschwitz-Prozesses der Lagerzahnarzt vom Vorwurf der Beihilfe zum Massenmord freigesprochen wurde. Eine Tätigkeit bei der Selektion der Opfer an der sogenannten Rampe konnte ihm nicht nachgewiesen werden, die Tätigkeit als Lagerzahnarzt indessen wurde nicht als Beihilfe zum Massenmord gewertet, denn damit wurde nicht unmittelbar ein Beitrag zum Mordgeschehen erbracht. Der Bundesgerichtshof hatte seinerzeit das Urteil auch bestätigt. Somit ist hier bei der Frage der Kausalität anzusetzen. War die Tätigkeit des angeklagten 100-jährigen tatsächlich conditio sine qua non für das Funktionieren der Organisation dieses Konzentrationslagers? Als Jurist verneine ich diese Frage. Damit fällt aber die neuere Rechtsprechung zur Strafbarkeit solcher „kleinen Rädchen“ im Getriebe der Mordmaschinerie in sich zusammen. Wenn es schon an der objektiven Ursächlichkeit der Tätigkeit des Angeklagten für den Tod der 3518 Häftlinge im KZ Sachsenhausen fehlt, dann ist die subjektive Tatseite, also die Frage, ob der Angeklagte wissentlich und willentlich den Massenmord gefördert hat, den seine Vorgesetzten befohlen hatten, erst gar nicht zu prüfen.
Macht Freiwilligkeit stets schuldig?
Die weitere Frage, ob der Angeklagte schon mit seinem Eintritt in die SS bewußt deren Mordauftrag unterstützt hat, wäre an sich nach den obigen Darlegungen ebenfalls nicht mehr zu prüfen. Doch selbst, wenn es darauf ankäme: was hat eigentlich junge Leute von seinerzeit um die 20 Jahre dazu bewogen, sich ausgerechnet diesen Arbeitgeber auszusuchen? Gab es denn nicht genug andere Möglichkeiten, sein Brot anständig zu verdienen? Die Frage scheint aus heutiger Sicht durchaus verständlich. Ein Blick in die damalige Zeit indessen läßt Zweifel aufkommen. Es ist allgemein bekannt, daß infolge der Weltwirtschaftskrise 1929, aber auch schon der wirtschaftlichen Verwerfungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, die Arbeitslosigkeit in Deutschland ein ungewöhnlich hohes Ausmaß angenommen hatte. So lag die Arbeitslosenquote in Deutschland 1932, dem letzten Jahr vor der sogenannten Machtergreifung Adolf Hitlers, bei 30,8 %, also etwa 16,8 % der Gesamtbevölkerung. Anders gewendet, auf rund 12 Millionen Erwerbstätige kamen rund 6 Millionen Arbeitslose. Es herrschte eben bittere Not. Bezeichnend sind nicht nur Lebensläufe wie etwa des Ukrainers John Demjanjuk, der ersichtlich aus allereinfachsten Verhältnissen kam und sich glücklich schätzen konnte, überhaupt eine Arbeit zu finden. Richard Drexl hat soeben das Buch einer Autorin besprochen, die den Lebenslauf ihres Vaters schildert. Dieser Mann fand eben nach Ableistung des Wehrdienstes im Alter von 30 Jahren endlich eine Anstellung bei der SS. Ähnlich dürfte es vielen jungen Männern gegangen sein. Der zügige Abbau der Arbeitslosigkeit durch die Nationalsozialisten war ja nicht etwa die Folge einer prosperierenden Wirtschaft, sondern der Eingliederung großer Teile der jungen Männer in Wehrmacht, SS und andere staatliche oder staatsnahe Organisationen. Kann man ihnen wirklich vorwerfen, jede, auch eine solche Arbeitsstelle angenommen zu haben? „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
Warum muß Strafe sein?
Die aktuelle Rechtsprechung der deutschen Gerichte führt aber auch zur Frage nach dem Sinn der Strafe. Diese Frage hat die europäischen Denker von Alters her umgetrieben. Denn die Fragen von Schuld und Sühne, Verantwortlichkeit und einstehen müssen sind Grundfragen der menschlichen Existenz und des Lebens in der menschlichen Gesellschaft. So lesen wir bei Platon, Protagoras, 324: „Denn wenn du dir klar machst, Sokrates, was es eigentlich bedeutet, wenn man die, welche Unrecht tun, bestraft, so ergibt sich für dich doch gerade daraus die Lehre, daß die Menschen der Ansicht sind, man könne die menschliche Tüchtigkeit erwerben. Denn niemand züchtigt den Übeltäter in dem Gedanken und nur deshalb, weil er Unrecht getan hat, es sei denn, daß man unvernünftig wie ein Tier einfach Rache übt. Wer aber mit Vernunft züchtigen will, der straft nicht des begangenen Unrechts wegen (denn das Getane kann er ja doch nicht ungeschehen machen), sondern um des zukünftigen willen, damit dieser selbe Mensch nicht wiederum Unrecht tut und auch ein anderer nicht, nachdem er nämlich gesehen hat, wie dieser bestraft wurde. Wer eine solche Überlegung macht, denkt wohl auch, daß die Tüchtigkeit anerzogen werden kann; denn er straft zum Zweck der Abschreckung. Dieser Meinung sind alle, die Strafe verhängen, sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Leben.“ Dieser Gedanke ist in der Folgezeit von vielen Philosophen und Juristen aufgegriffen worden, so etwa von Seneca, Dialogorum liber 111, Ad Novatum, De ira, lib.1, 97: „Denn, wie Plato sagte, kein kluger Mensch straft, weil gesündigt worden ist, sondern damit nicht mehr gesündigt werde; Vergangenes kann nämlich nicht widerrufen werden, Künftiges jedoch verhindert werden.“ Thomas von Aquin führ das in seiner Summa Theologica fort und erklärt daß Strafen im gegenwärtigen Leben eher Arzneien als Vergeltung sind. Denn die Vergeltung sei dem göttlichen Urteil vorbehalten. Die Reihe ließe sich fortsetzen.
Welchem Zweck dient ein Starfverfahren?
Zur Rechtfertigung der neueren Rechtsprechung wird gerne von Juristen, Journalisten und Opfern jener Straftaten vorgebracht, daß nun endlich auch die Opfer gehört würden und die Dinge aufgearbeitet werden könnten. Indessen wird ein Strafverfahren grundsätzlich wegen der Tat und des dieser Tat angeklagten Menschen geführt, nicht um den Opfern der Tat Genugtuung zu geben oder sie anzuhören. Die Aufarbeitung jener schrecklichen Ereignisse wird ohnehin in Zukunft allein den Historikern zugewiesen sein. Es ist nicht ersichtlich, warum dieser Gesichtspunkt nicht auch jetzt schon gelten soll, wo in der Tat der ein oder andere auf Täterseite beteiligte, um es neutral auszudrücken, noch lebt. Ohnehin muß das Ergebnis eines Strafverfahrens schon aus prozessualen Gründen nicht unbedingt die historische Wahrheit widerspiegeln, wenn auch die juristische Untersuchung eines Sachverhalts vor Gericht außerordentlich gründlich erfolgt.
Ob der Regelung in § 24 Abs. 2 des Bundeszentralregistergesetzes, wonach Eintragungen, die eine über 90 Jahre alte Person betreffen, aus dem Register zu entfernen sind, auf rechtsphilosophischen Erwägungen zur Vergänglichkeit von Schuld beruht, oder einfach der praktischen Überlegung folgt, daß eine solche Information für niemanden mehr von Interesse ist, will ich einmal dahinstehen lassen. Aber vielleicht wird nun ein vom Zeitgeist durchdrungener Justizminister dieser Vorschrift noch einen Halbsatz anfügen lassen, wonach dies für NS-Verbrechen nicht gilt.