Was zu entscheiden war
Am 23. April dieses Jahres trat § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in Kraft. Ich zitiere an dieser Stelle den bürokratisch-verknöcherten Wortlaut der Gesetzesüberschrift, der schon atmosphärisch den Geist des Obrigkeitsstaates verbreitet, der sich offensichtlich in den Köpfen der führenden Politiker unseres Landes festgesetzt hat. Volkstümlich spricht man von der Bundesnotbremse, wobei auch dieser Begriff eine Gefahrenlage suggeriert, der nur mit außerordentlichen Maßnahmen zu begegnen ist, wie der beherzte Tritt auf die Bremse des Autos, wenn ein Unfall anders nicht mehr verhindert werden kann. Dieses Gesetz ordnet unmittelbar weitgehende Beschränkungen der Freiheit an, die im Übrigen auch nicht wie bisher auf den Prüfstand der Verwaltungsgerichte gestellt werden können, sondern nur noch mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen sind. Dies jedenfalls habe ich in einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs lesen müssen. Es ist ja auch ein offenes Geheimnis, daß die Bundeskanzlerin mit diesem Gesetz auch verhindern wollte, daß künftig noch Verwaltungsgerichte einzelne Corona-Maßnahmen für ungültig erklären. Welche Erfolgsaussichten allerdings eine Verfassungsbeschwerde gegen ein solches Gesetz haben kann, zeigt der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 05.05.2021 in 5 von über 200 (!) Verfahren, die gegen dieses Gesetz anhängig gemacht worden sind.
Die Entscheidung
Das Gericht hat es in diesem Beschluß abgelehnt, eine einstweilige Anordnung zu treffen, mit der die im Gesetz verfügte Ausgangssperre zwischen 22:00 Uhr abends und 05:00 Uhr morgens bei Vorliegen einer 7-Tage-Inzidenz von über 100 einstweilen für unwirksam erklärt werden sollte. Mit anderen Worten: jedenfalls vorläufig ist dieses Gesetz gültig. Ob es in einer Entscheidung über die Hauptsache, wann auch immer diese getroffen werden wird, für verfassungswidrig erklärt werden wird, muß nach dem Inhalt der Entscheidung füglich bezweifelt werden.
Die Begründung
Das Bundesverfassungsgericht meint, diese Ausgangsbeschränkung sei nicht offensichtlich materiell verfassungswidrig. Es liege nicht eindeutig und unzweifelhaft auf der Hand, daß sie zur Bekämpfung der Pandemie unter Berücksichtigung des Einschätzungsspielraums des demokratischen Gesetzgebers offensichtlich nicht geeignet, nicht erforderlich oder unangemessen wäre. Dies gelte auch im Hinblick auf die Anknüpfung an den Inzidenzwert von 100. Nach dem Hinweis auf die verfassungsrechtliche Schutzpflicht, Leben und Gesundheit zu schützen sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als überragend gewichtiges Gemeingut und damit zugleich die bestmögliche Krankheitsversorgung sicherzustellen, und die Motivation des Gesetzgebers, die hier angegriffene Ausgangsbeschränkung diene dabei nach seinen Vorstellungen insbesondere der Kontrolle und Beförderung der Einhaltung der allgemeinen Kontaktregelungen, macht das Gericht Ausführungen dazu, daß nach Auffassung des Gesetzgebers diese Maßnahme eben geeignet sei, das erstrebte Ziel zu erreichen, auch wenn dies fachwissenschaftlich umstritten sei. Denn der Gesetzgeber habe keine selbständige, von den Anforderungen an die materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes unabhängige Sachaufklärungspflicht, vielmehr habe er eine Einschätzungsprärogative, mit anderen Worten, einen weiten Spielraum dahingehend, verbindlich festzulegen, was er sachlich für richtig hält. Hier habe der Gesetzgeber auch nicht ins Blaue hinein etwas geregelt, sondern sich auf wissenschaftliche Untersuchungen über die Wirkungen von nächtlichen Ausgangssperren in verschiedenen Staaten gestützt. Wie aussagekräftig diese im einzelnen seien, sei hier nicht zu beurteilen. Die Richter zitieren die Anhörung nur eines Sachverständigen im Gesundheitsausschuß des Bundestages. Andere Sachverständigenmeinungen, ob sie dort oder anderswo geäußert oder publiziert worden sind, spielen offenbar keine Rolle.
Eine offensichtliche Unangemessenheit solcher Ausgangsbeschränkungen könne ebenfalls nicht erkannt werden. Auch wenn verschiedene Oberverwaltungsgerichte das anders gesehen hätten, lägen hier eben andere Voraussetzungen vor. Welche das sind, wird nicht gesagt. Letztendlich greife zwar die nächtliche Ausgangsbeschränkung tief in die Lebensverhältnisse ein, das betreffe aber nur etwa 7 % der Tageszeit, die man außerhalb der Wohnung zu verbringen pflege und sei außerdem bis zum 30.06.2021 befristet. Na ja. Mit solchen Befristungen haben wir seit einem Jahr nun einmal ganz spezielle Erfahrungen.
Das sind nun im wesentlichen die tragenden Gründe dieser Entscheidung.
Der Fehler resp. die fehlende Rechtsprüfung
Das Bundesverfassungsgericht geht hier mit einer unfassbaren Leichtigkeit und Oberflächlichkeit an seine Aufgabe heran, die Rechtmäßigkeit von Grundrechtsbeschränkungen auch im Eilverfahren zu prüfen. Die Formel, es sei „nicht unplausibel“, was der Gesetzgeber tue und womit er es begründet, ist praktisch überhaupt keine Hürde für Willkürmaßnahmen. Es erstaunt auch, daß das Bundesverfassungsgericht offenbar inzwischen den gesetzgeberischen Ordnungs- und Steuerungsvorstellungen einen höheren Stellenwert beimisst, als den Grundrechten der Bürger. Das ist meilenweit entfernt von dem, was das Bundesverfassungsgericht in früheren Jahren und Jahrzehnten etwa beim Datenschutz (Volkszählungsurteil!), bei den Regelungen für die Geheimdienste oder auf dem Gebiet des Polizeirechts judiziert hat. Auch die ganz wesentliche Frage, ob der Gesetzgeber Freiheitsbeschränkungen unmittelbar durch Gesetz anordnen darf, was er gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG eigentlich nicht darf, hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung nicht einmal angesprochen, obgleich die Beschwerdeführer darauf ausdrücklich hingewiesen haben. Einschränkungen der Grundrechte können eben nur aufgrund eines Gesetzes, aber nicht durch ein Gesetz angeordnet werden.
Keine tragfähige Begründung des Gesetztes – na und?
Bemerkenswert ist auch der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit den vom Gesetzgeber herangezogenen Grundlagen für die angegriffene Regelung. Obwohl bis heute eine wissenschaftliche Evaluierung der Wirksamkeit von Ausgangssperren fehlt, was andere Gerichte zwischenzeitlich schon moniert haben, begnügt sich das Gericht damit festzustellen, der Gesetzgeber wolle damit verhindern, daß private Kontakte in den Wohnungen überhandnehmen. Damit spielt der Gesetzgeber gewissermaßen über Bande. Nicht die Gefahr, sich nachts außerhalb der Wohnung zu infizieren, sondern die leichtere Überwachungsmöglichkeit privater Kontakte begründet die angebliche Notwendigkeit dieser Ausgangssperre. Wohlgemerkt eine Einschränkung der Grundrechte aus Art. 2 und 11 GG zur leichteren Aufdeckung von Ordnungswidrigkeiten! Soweit Sachverständigengutachten überhaupt eine Rolle spielen, genügt dem Gericht ein einziger Sachverständiger. Natürlich derjenige, auf dessen Meinung sich der Gesetzgeber gestützt hat, wird in der Entscheidung des Gerichts erwähnt. Daß es gerade zu den Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen eine Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Meinungen gibt, wird jedenfalls in dieser Entscheidung nicht einmal angesprochen. An und für sich pflegen Gerichte bei der Sachverhaltsfeststellung, auch in Eilverfahren, ihnen bekannte wissenschaftliche Stellungnahmen und Gutachten zu prüfen, abzuwägen und dann der einen oder anderen Auffassung zu folgen. Das geschieht hier nicht.
Freie Fahrt für den Gesetzgeber, Feststellbremse für die Grundrechte
Letztendlich gibt das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung dem Gesetzgeber einen Handlungsspielraum bisher unbekannter Dimension. Damit nimmt es sich gleichzeitig selbst weit zurück. Wenn die sogenannte Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers so zu verstehen ist, daß es dem Bundesverfassungsgericht verwehrt sein soll, diese wenigstens nachzuvollziehen und auf Einhaltung der Sorgfaltspflicht bei der Sachverhaltsermittlung und Verstöße gegen die Denkgesetze zu überprüfen, dann wird es jedenfalls auf dem Gebiete der Kontrolle des Gesetzgebers überflüssig. Die Feststellung, eine gesetzgeberische Begründung sei nicht unplausibel, ist ja eigentlich eine Leerformel. Damit wird alles, auch das schwächste Argument, abgesegnet und die Grenze dahin verschoben, wo überhaupt keine Abwägung mehr stattfindet.
Die neue Rolle des Bundesverfassungsgerichts
Zu befürchten ist, daß dies kein Ausreißer ist. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz und zur europäischen Schuldenaufnahme mit deutscher Beteiligung lassen vielmehr die Erwartung zu, daß das Bundesverfassungsgericht sich allmählich aus seiner originären Aufgabe als dritte Gewalt auf staatsrechtlicher Ebene verabschiedet. Man wird in Zukunft wohl kaum noch sehen, daß das Bundesverfassungsgericht Gesetze für verfassungswidrig erklärt, oder aber dem Regierungshandeln verfassungsrechtliche Grenzen setzt. Nur noch Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen der Fachgerichte werden wohl künftig noch Erfolg haben können, wenn diese Entscheidungen Grundrechte der Beschwerdeführer verletzen. Regierung und Parlament hingegen haben künftig wohl freie Hand.
Verfassungsrichter sind natürlich auch politische Wesen
Man fragt sich natürlich auch, warum das nun so ist. Im Falle der besprochenen Ausgangssperre-Entscheidung könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß hier eine gemeinsame Grundbefindlichkeit gegeben ist. Die political correctness befällt nun einmal nicht selten auch ansonsten kluge und fachlich qualifizierte Leute. Jede Kritik an den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung und der Parlamente steht ja für die politisch-mediale Klasse in dem Geruch, querdenkerisch, gar pegidaesk oder noch Schlimmeres zu sein. In die Nähe solcher Zeitgenossen will man nicht kommen, erst recht will man nicht dort verortet werden. Es gehört sich einfach nicht, Querdenkern und angeblichen Verfassungsfeinden Vorschub zu leisten. Man gehört doch zu den klugen und besonnenen, staatstragenden Bürgern. Allerdings zeigt sich die Gefahr dieses Gruppendenkens gerade auch an der Klimaschutzentscheidung wie auch an den Entscheidungen, mit denen der Weg in die Schuldenunion abgesegnet wird.
In diesem Zusammenhang muß natürlich auch gesehen werden, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts nach politischem Proporz bestimmt werden. Demokratisch gewählt werden sie nicht. Die Abhängigkeit von der Parteipolitik ist offensichtlich. Parteimitgliedschaft, zumindest das Nahestehen werden ganz offen gehandelt. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, gleichzeitig Vorsitzender des Ersten Senats, der hier entschieden hat, war zuvor stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und gilt als bekennender Merkelaner. Auch die übrigen Richter des Senats mit Ausnahme eines FDP-Mitglieds bzw. der FDP nahestehenden Richters gehören zu den Parteien, die bisher sämtliche Corona-Maßnahmen der Regierung getragen oder durchgewunken haben. Es fällt schwer zu glauben, daß dies keine Auswirkungen auf ihre Entscheidung in der Sache gehabt haben könnte.
Ein Weg aus dem Dilemma
Gäbe es eine Lösung des Problems? Die Besetzung der höchsten Gerichte eines Landes ist überall auf der Welt sehr politisch. Die einfache Lösung, daß das oberste Gericht seine Mitglieder kooptiert, und nicht von der Politik im weitesten Sinne beschickt wird, dürfte mit dem Demokratiegebot, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen muß, kaum vereinbar sein. Eine Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts ähnlich wie die Wahl zum Deutschen Bundestag würde jedoch zu einer noch stärkeren Politisierung führen, denn dann kämen mit Sicherheit nur noch handverlesene Parteipolitiker zum Zuge. Und das nach einem Wahlkampf, der ja nun einmal in aller Regel das Gegenteil von sachlicher Debatte ist. Vielleicht wäre es jedoch möglich, daß ein Mittelweg gegangen würde. Die 16 Richter des Bundesverfassungsgerichts könnten etwa drei Kandidaten für die Wahl durch Bundestag und Bundesrat vorschlagen, aus denen die beiden Kammern des Parlaments jeweils mit Zweidrittelmehrheit den neuen Richter bzw. die neue Richterin des Bundesverfassungsgerichts wählen. Dies hätte den Vorteil, daß wegen der Vorauswahl durch die Richter selbst eine gewisse fachliche Qualifikation sichergestellt wäre, wegen der Endentscheidung durch die Parlamentarier indessen dem Demokratiegebot noch Rechnung getragen wäre und wegen des Quorums wie bei verfassungsändernden Gesetzen eine allzu große Nähe der Kandidaten zu einer politischen Partei bei ihrer Wahl eher ausgeschlossen wäre. Politisch gemäßigte, fachlich qualifizierte Richter wären dann auch weniger anfällig für tagespolitisch oder gar ideologisch radikal motivierte Auslegungen der Verfassung. Das derzeitige System indessen begünstigt all das und schreibt auch fest, daß Verfassungsrichter nur aus dem Spektrum der langjährig führenden Parteien kommen. Derzeit stehen von den 16 Verfassungsrichtern 7 den Unionsparteien, 6 der SPD, 2 den Grünen und 1 der FDP nahe oder sind Mitglieder dieser Parteien. Andere, ebenfalls in Bundestag und Länderparlamenten vertretene Parteien, konkret Die Linke und die AfD, werden nach Sachlage jedenfalls in den nächsten Jahrzehnten keine Aussichten haben, mit einem ihnen nahestehenden Richter ihre politische Grundorientierung in die Entscheidungsfindung des höchsten deutschen Gerichts einzubringen. Das oben skizzierte Verfahren könnte auch hier möglicherweise dem strengen Odium der geschlossenen Gesellschaft eine mildere Note verleihen, anders gewendet: die Verfassung würde wirksam vor einem politisch abhängigen Verfassungsgericht geschützt.
Doch steht dem ein unüberwindliches Hindernis im Weg. Das ist nicht die Verfassung. Die kann man ändern. Das ist die politische Klasse, die sich in diesem System wohnlich eingerichtet hat. Wer sie aus dieser bequemen Behausung verteiben will, braucht große Mehrheiten. Die sind leider weit und breit nicht in Sicht.