Zu den unsäglichen Vorstellungen auf der Berliner politischen Bühne gehört zweifellos die Groteske um die Armenien-Resolution des Bundestages zum Völkermord an den Armeniern in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Bundestag hat in einer Resolution erklärt, es habe sich damals um einen Völkermord im Rechtssinne gehandelt. Es gehört zu den Aufgaben und Rechten des Bundestages, neben seiner Gesetzgebungsarbeit auch in sogenannten Resolutionen zu Fragen und Sachverhalten von allgemeinem politischen Interesse Stellung zu nehmen. Nun sollte man meinen, dies sei dann die Position unseres Landes zum jeweiligen Thema. Wir sind heute darüber belehrt worden, daß dem nicht so ist. Nach der Meldung von Spiegel Online, die Bundesregierung beabsichtige sich von dieser Resolution zu distanzieren, um das Verhältnis zur Türkei (natürlich im Hinblick auf das sogenannte Flüchtlingsabkommen) nicht zu belasten, sah sich die Bundesregierung dann heute Nachmittag veranlaßt, diese Meldung zu dementieren.
Dieses Dementi muß man sich allerdings genauer anschauen. Die Bundesregierung nimmt inhaltlich zu dieser Resolution keine Stellung und verweist darauf, daß es das gute Recht des Bundestages sei, derartige Resolutionen zu beschließen. Der Bundesregierung als weiterem Verfassungsorgan stehe es einfach nicht zu, sich dazu zu äußern. Ist das eine Distanzierung oder ist das etwa eine Erklärung dahingehend, daß gegen diese Resolution nichts zu sagen sei? Natürlich ist das eine Distanzierung. Man muß sich vergegenwärtigen, daß diese Resolution von allen Parteien, und damit auch von von den beiden Parteien getragen wurde, welche die Bundesregierung tragen. Üblicherweise sind die Regierungsparteien im Parlament gewissermaßen die parlamentarische Basis für ihre Entscheidungen. Die Spitzen dieser Parteien stellen auch Kanzler und Minister. Es ist daher höchst merkwürdig, wenn die Bundesregierung sich auf den formalen Standpunkt zurückzieht, die Fassung einer Resolution sei eben das souveräne Recht des Verfassungsorgans Parlament, zu dem das Verfassungsorgan Bundesregierung sich einer Stellungnahme enthalten müsse. Das mag formaljuristisch vielleicht mit Ach und Krach begründbar sein. Politisch heißt es nichts anderes, als daß man eben nicht hinter dieser Resolution steht. Dabei fällt natürlich auf, daß die Kanzlerin, der Vizekanzler und der Außenminister, allesamt auch Mitglieder des Deutschen Bundestages, bei der Abstimmung über diese Resolution gefehlt haben, pardon, „verhindert“ waren.
Nun kann man durchaus geteilter Meinung darüber sein, welchen Sinn es überhaupt hat, daß Parlamente sich zu historischen Fragen offiziell äußern und diese bewerten. Ob es sich bei dem Massenmord an den Armeniern seinerzeit um einen Völkermord im historischen und juristischen Sinn gehandelt hat, ob liegt grundsätzlich der Bewertung durch die Historiker und die Juristen. Durch letztere dann, wenn die Rechtsfrage zu prüfen ist, ob ein Völkermord im Sinne von Art. 6 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs bzw. der einschlägigen Vorschriften des deutschen Strafgesetzbuches vorliegt. Denn daran knüpfen sich regelmäßig Rechtsfolgen, über die nur ein Gericht entscheiden kann. Wenn ein solcher Rechtsfall eben nicht zu entscheiden ist, werden die Gerichte damit nicht befaßt. Die Historiker hingegen haben als Wissenschaftler die historische Wahrheit zu erforschen und auch ihre Ergebnisse zu veröffentlichen. Jeder Historiker hat dann zu vertreten, was er publiziert. Mit der Zeit bilden sich dann eben historische Gewissheiten, zumindest vorläufige historische Gewissheiten heraus. Dabei sollte es eigentlich sein Bewenden haben. Nachdem sich aber in den letzten Jahren mehrfach die Politik hier eingemischt hat und Parlamente entsprechende Resolutionen gefaßt haben, muß man eben feststellen, daß die Politik insoweit Teil des historischen Prozesses geworden ist. Das kann man begrüßen oder auch ablehnen. Es ist aber nun einmal so. Und deswegen haben derartige Resolutionen natürlich erhebliche politische Bedeutung, vor allem in Fällen wie dem vorliegenden. Denn die Türkei, und nicht etwa lediglich einzelne türkische Historiker, lehnt es ganz offiziell ab, daß der Völkermord an den Armeniern von anderen Staaten oder auch Historikern beim Namen genannt wird. Und daran knüpft die Türkei durchaus politische Ansprüche. Im Falle Deutschland maßt sie sich an, Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu untersagen, deutsche Soldaten, die in der Türkei im Rahmen des Krieges gegen den sogenannten Islamischen Staat stationiert sind, zu besuchen.
Und an dieser Stelle wird es peinlich. An und für sich sollte ein solches Verhalten eines Bündnispartners die Bundesregierung veranlassen, umgehend ihre Soldaten aus diesem Lande abzuziehen und irgendwo anders, etwa auf Zypern, zu stationieren. Sie sollte des Weiteren der Türkei nahelegen, gemäß Art. 13 des NATO Vertrages ihren Austritt aus dem Bündnis zu erklären. Ein Staat, der sich so verhalten würde, könnte sicher sein, international sehr ernst genommen zu werden. Ein Staat aber, der sich so verhält, wie die Bundesregierung dies in unser aller Namen tut, macht sich lächerlich. Besonders absurd ist die Verknüpfung mit dem sogenannten Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Davon haben wir nämlich gar nichts. Genau genommen bekommt Europa für jeden in der Ägäis aufgegriffenen illegalen Flüchtling einen anderen Flüchtling von der Türkei zurück. Und dafür zahlt die Europäische Union der Türkei Milliarden von Euro. Die Tatsache, daß der Flüchtlingsstrom aus Afghanistan, Irak und Syrien via Türkei inzwischen mehr oder weniger versiegt ist, hat mit diesem Abkommen nichts zu tun. Vielmehr ist die Ursache dieser erfreulichen Entwicklung allein darin zu finden, daß die Balkanstaaten, Ungarn und Österreich ihre Grenzen abgeriegelt haben.
Es ist ohnehin unverständlich, daß die Bundesregierung immer noch daran festhält, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei weiterzuführen. Auch dies mag ein Motiv für diese Karikatur von Diplomatie gewesen sein, deren Zeugen wir heute werden konnten. Unverständlich ist das Ganze deswegen, weil sich inzwischen doch herausgestellt hat, und zwar mit großer Klarheit, daß die Türkei auf gar keinen Fall Teil der Europäischen Union werden kann. Sie ist politisch inzwischen eine Art Halbdiktatur, sie ist kulturell Lichtjahre von Europa entfernt, insbesondere wegen der rasant zunehmenden Bedeutung des Islam für die türkische Gesellschaft. Der von dem Begründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, verordnete Laizismus ist durch die von Präsident Erdogan rasant vorangetriebene Islamisierung nahezu verschwunden. Dieses Land ist somit von Europa noch sehr viel weiter entfernt, als es bei Abschluß des sogenannten Ankara-Abkommens vom 12.09.1963 zwischen dem Vorläufer der Europäischen Union, der EWG seligen Angedenkens, und der Türkei gewesen ist. Dieses Abkommen wird gemeinhin als Beginn der Annäherung der Türkei an Europa angesehen, und man muß zugeben, daß der Türkei seither einschlägige Versprechungen gemacht worden sind, die letztendlich in der Ernennung dieses Landes zum offiziellen Beitrittskandidaten 1999 und der Aufnahme förmlicher Beitrittsverhandlungen 2005 gipfelten. Allerdings kannten die Deutschen 1963 die Türkei und den Islam allenfalls aus den Romanen von Karl May. Womit man es wirklich zu tun hat, weiß man heute natürlich sehr viel besser. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ankara-Abkommen sollte man so ehrlich sein zu sagen, daß die Welt sich seither tiefgreifend verändert hat. Die Grundlage für die damaligen Versprechungen existiert schon lange nicht mehr. Ehrlich wäre es daher zu sagen, daß ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union jedenfalls in den nächsten 50 Jahren nicht möglich ist.
Warum also die Bundesregierung im Verhältnis zur Türkei derartig bizarre Eiertänze aufführt, ist nicht nachvollziehbar. Dem Renommee unseres Landes dient das jedenfalls nicht.