Wie weit reicht die Religionsfreiheit?

Ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder nicht, wird seit der törichten Äußerung des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff kontrovers diskutiert. Unabhängig davon, ob diese Religion oder ihre Anhänger nun zu Deutschland gehören im Sinne eines integralen Bestandteils, stellt sich die Frage, wie weit die Religionsfreiheit des Grundgesetzes reicht, gerade im Hinblick auf Glaubensinhalte bzw. -praktiken dieser Religionsgemeinschaft. Die öffentliche Diskussion darüber leidet darunter, daß hier viele Unklarheiten und Unschärfen bestehen und Dinge durcheinandergeworfen werden, die tatsächlich fein säuberlich voneinander getrennt werden müssen.

Maßgeblich ist natürlich der einschlägige Text unserer Verfassung. Dieser lautet:

Art. 4

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Abs. 1 betrifft also die Freiheit des religiösen Bekenntnisses an sich, also glauben zu dürfen, was man will, oder auch nichts zu glauben. Letzteres nennt man auch die negative Religionsfreiheit. Der Glaube ist etwas, was der einzelne Mensch in sich trägt. Die Juristen sprechen vom forum internum.

Abs. 2 betrifft die Freiheit, seine Religion auszuüben. Das ist die Kundgebung des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses nach außen, sei es im kleinen Kreise, sei es in der großen Öffentlichkeit. Die Juristen sprechen insoweit vom forum externum.

Nun kann keine Bestimmung der Verfassung für sich alleine betrachtet werden. Sie stehen vielmehr alle, und das gilt auch für die Grundrechte, in einem Verhältnis zueinander. Die Grenzen der Ausübung eines Grundrechts werden natürlich durch die Grundrechte anderer bestimmt. Dazu später.

Häufig übersehen wird eine weitere Bestimmung unserer Verfassung. Es handelt sich dabei um

Art. 140

Er lautet:

Die Bestimmungen der Art. 136,137,138,139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.

Für unser Thema von Interesse ist die Regelung über die Religionen in der Weimarer Verfassung. Der einschlägige

Art. 136 Abs. 1

lautet:

Die bürgerlchen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.

Damit ist zunächst einmal klar, daß der Staat von den Religionsgemeinschaften unabhängig ist. Aber es ist auch klar, daß die Religionen die Rechte der Staatsbürger in keiner Weise einschränken können. So kann eine Religionsgemeinschaft nicht etwa durchsetzen, daß in einem Lande kein Alkohol in der Öffentlichkeit konsumiert werden kann. Vielmehr muß sie sich jeglichen Einflusses auf die öffentliche Ordnung enthalten.

Art. 137 Abs. 3

lautet:

Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.

Diese Vorschrift betrifft zunächst einmal das Selbstverwaltungsrecht der Religionsgemeinschaften. Es ist ihre Sache, ob und welche Hierarchien sie einrichten, welche Befugnisse sie ihnen geben und nach welchen Regeln sie arbeiten. Soweit sie verbindliche Vorschriften erlassen, die den Anspruch erheben, von den Mitgliedern der Religionsgemeinschaft befolgt werden zu müssen, sind diese Regeln an den Maßstäben des Grundgesetzes und den allgemeinen Gesetzen zu messen. Weite Teile der Scharia, die ja weltliches Gesetz sein will, können nach diesen Maßstäben in Deutschland keine Geltung beanspruchen. So geht es eben nicht an, etwa das Erbrecht für Männer und Frauen unterschiedlich auszugestalten. Dazu jedoch später.

Generell ist aber auch die Ausübung von Grundrechten nur insoweit möglich, als damit nicht Grundrechte anderer eingeschränkt werden. Die Ausübung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit, gemeinhin Demonstrationsrecht genannt, findet ihre rechtlichen Grenzen in den Grundrechten anderer, etwa hinsichtlich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, Art. 2 Abs. 1 GG oder des Grundrechts auf Eigentum, Art. 14 GG. So wird man etwa als Eigentümer und Bewohner eines angrenzenden Wohngrundstücks nicht dulden müssen, daß unmittelbar angrenzend stundenlang eine Kundgebung mit infernalischer Lärmentwicklung stattfindet. Gleiches gilt für das Grundrecht auf Ausübung der Religion, was wir häufig anhand der sogenannten Kirchenglocken-Fälle feststellen. So mag es zwar zur Ausübung der islamischen Religion gehören, daß ein Muezzin lautstark die Gläubigen fünfmal am Tag zum Gebet ruft. Anwohner können zumindest dann, wenn dies über Lautsprecher erfolgt, Abwehransprüche erheben. Und es gehört wohl nicht zum grundrechtlich geschützten Bereich der Religionsausübung, daß Muslime vom Staat verlangen können, bei der Gemeinschaftsverpflegung zum Beispiel in Schulkantinen auf die Verwendung von Schweinefleisch zu verzichten oder in öffentlichen Schwimmbädern sogenannte Frauenbadetage anzubieten. Denn damit wird in die Persönlichkeitsrechte Andersgläubiger bzw. Nichtgläubiger eingegriffen. Nach herrschender Meinung auch in das Grundrecht der negativen Religionsfreiheit. Denn die Gewährleistung der Religionsfreiheit und der ungestörten Ausübung der Religion beinhaltet denknotwendig auch die Gewährleistung der Möglichkeit, völlig ohne religiöses Bekenntnis leben zu können und selbst als Bürger keine Einbußen an Lebensqualität hinnehmen zu müssen, die dadurch entstehen, daß religiöse Vorschriften eingehalten werden. Wenn zum Beispiel ein öffentliches Schwimmbad an bestimmten Tagen nur für Frauen zugänglich ist, dann wird damit in die Grundrechte der Männer eingegriffen, die öffentliche Einrichtungen uneingeschränkt in Anspruch nehmen wollen, so wie das von alters her der Fall ist.

Verfassungsgeschichte:

Eine weitgehende Garantie, seinen Glauben auch öffentlich ausleben zu können, wie dies das Grundgesetz (und auch die bayerische Verfassung in Art. 107) garantieren, ist verfassungsgeschichtlich nicht von Anfang an festzustellen. So gibt die Verfassung des Königreichs Bayern vom 26.05.1818 in § 9 zwar jedem Einwohner des Reichs vollkommene Gewissensfreiheit und erklärt weiter, daß die einfache Hausandacht niemandem, zu welcher Religion er sich bekennen mag, untersagt werden darf. Die öffentliche Ausübung der Religion steht jedoch unterGesetzes- bzw. Vertragsvorbehalt. Der Zeit entsprechend (Anfang des 19. Jahrhunderts) garantiert die Verfassung den im Königreich Bayern bestehenden drei christlichen Kirchengesellschaften gleiche bürgerliche und politische Rechte. Die nichtchristlichen Glaubensgenossen haben zwar vollkommene Gewissensfreiheit, sie erhalten aber an den staatsbürgerlichen Rechten nur in dem Maße einen Anteil, wie ihnen derselbe in den „organischen Edicten über ihre Aufnahme in die Staats-Gesellschaft“ zugesichert ist. Mit anderen Worten, nur die christlichen Religionen dürfen aufgrund der bestehenden Konkordate frei ausgeübt werden. Die nicht-christlichen Religionen, wobei das damals praktisch nur die Juden betreffen konnte, haben das nicht. Von Muslimen war ohnehin noch keine Rede. Die Paulskirchenverfassung vom 28.03.1849 statuierte die Glaubens- und Gewissensfreiheit nur den Deutschen, also den Bürgern des Reichs. Nur sie waren auch unbeschränkt in der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Übung ihrer Religion. Anders die Verfassung des Königreichs Preußen vom 31. Januar 1850. Sie gewährleistete zwar in Art. 12 die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung. Allerdings waren diese Rechte an einen Gesetzesvorbehalt geknüpft. D.h., die öffentliche Ausübung der Religion mußte sich in den Schranken halten, welche die allgemeinen Gesetze hierfür aufrichteten.

Die Weimarer Reichsverfassung hatte in Art. 135 eine dem Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nahezu identisch entsprechende Regelung über die Religionsfreiheit und das Recht der Religionsausübung. Indessen kannte sie in Art. 137, wie bereits zitiert, den Gesetzesvorbehalt. Bei den Beratungen des Grundgesetzes im parlamentarischen Rat hielt man gesetzliche Grenzen der Religionsfreiheit prinzipiell für möglich. Auch war man der Auffassung, daß es nicht angehe, sich religiös ohne Rücksicht auf die geltende Rechtsordnung zu entfalten. Die historischen Verfassungsgesetzgeber gingen also nicht davon aus, daß die Verfassung das Recht auf Ausübung einer Religion schrankenlos garantieren müsse.

Änderungsmöglichkeiten:

Art. 4 des Grundgesetzes gehört nicht zu den Regelungen, die unter die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG fallen. Unter diese Garantie fallen ja nur Art. 1 (Schutz der Menschenwürde) und Art. 20 (Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatsgebot). Alle anderen Grundrechte können in diesen Grenzen verändert oder gar ersatzlos aufgehoben werden. Würde etwa die Freiheit der Religionsausübung aufgehoben oder eingeschränkt, so bliebe dennoch ein Kernbestand davon über Art. 1 des Grundgesetzes erhalten. Denn es ist mit dem Schutz der Menschenwürde sicher nicht vereinbar, in das sogenannte forum internum einzugreifen und etwa zu verbieten einem bestimmten Glauben anzuhängen. Zum Beispiel dem, der Mensch werde nach seinem Tode in Gestalt eines anderen Lebewesens wieder auf die Erde kommen. Etwas anderes gilt für die öffentliche Bekundung eines religiösen Bekenntnisses, das forum externum. Das betrifft zum Beispiel Prozessionen, aber auch sogenannte religiöse Kleidung. Es gehört sicherlich nicht zu den unverzichtbaren Merkmalen der Menschenwürde, sich in der Öffentlichkeit in bestmmter Weise kleiden zu dürfen, oder aber, um ein extremes Beispiel zu nennen, aus weltanschaulichen Gründen in der Öffentlichkeit auf Kleidung ganz verzichten zu dürfen. Gäbe es also Art. 4 Abs. 2 GG nicht, könnte der Gesetzgeber die öffentliche Kundgabe religiöser Überzeugungen in vollem Umfang verbieten.

Neutralitätsgebot:

Die Grundrechte sind im allgemeinen Abwehrrechte gegen den Staat. So schützt Art. 5 Abs. 1 GG Meinungsäußerungen vor staatlicher Reglementierung, allerdings wegen der in Abs. 2 genannten Einschränkungen nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Art. 9 Abs. 3 GG schützt Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen vor staatlicher Reglementierung, insbesondere garantiert er ihnen, über die Arbeitsbedingungen eigenverantwortlich im Verhandlungswege zu befinden. Aus Art. 4 GG folgt auch das Neutralitätsgebot des Staates. Gemeint ist damit, daß die Rechtsordnung nicht einen bestimmten religiösen oder anti-religiösen Standpunkt für alle Menschen ihres Geltungsbereichs verpflichtend vorschreiben darf. Daraus folgt das Gebot der Trennung von Staat und Kirche. Das geht aber nicht so weit, daß eine gewissermaßen religionsfreie Öffentlichkeit hergestellt werden muß. Vielmehr muß er die herkömmlichen religiösen Feiertage und ihre Ausgestaltung hinnehmen und kann nicht etwa verlangen, daß Weihnachtsgottesdienste und Christbäume in der Öffentlichkeit verborgen bleiben müssen. Das religiöse Neutralitätsgebot bedeutet allerdings auch nicht, daß der Staat alle Religionen gleich behandeln muß. Natürlich muß er jeder einzelnen Kirche oder Religionsgemeinschaft die Verbreitung der eigenen Lehre und die Schaffung eigener Organisationsformen ermöglichen. Er muß aber nicht religiöse Äußerungen und Institutionen in all ihren Wirkungen undifferenziert gleich behandeln. Prof. Paul Kirchhof, der bekannte frühere Bundesverfassungsrichter, hat dazu ausgeführt:

„Wenn eine Religion die Gleichheit jedes Menschen betont und insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau fordert, eine andere von der Frau ein lebenslanges Dienen erwartet, verhilft die eine Religion der Gleichberechtigung zur tatsächlichen Wirkung, während die andere diese behindert. Auch die kirchlichen Lehren zur Religionsfreiheit oder Staatsreligion, zum Individual- oder Volkseigentum, zu Nächstenliebe oder Egoismus, zu Frieden oder Krieg begründen fundamentale Unterschiede in der inneren Bereitschaft der Menschen zu Freiheit und Demokratie. Würde der Staat diese Unterschiede übergehen, würde er durch Beurteilungs- und Entscheidungsschwäche seine eigene Zukunft als Verfassungsstaat gefährden. Der Staat wähnte sich gegen kirchlichen Einfluß immun, geriete aber unter kirchlichen Änderungsvorbehalt. Gerade ein Staat, der Freiheit gewährt und deswegen Unterschiede erwartet, darf sich der Bedeutung dieser Unterschiede – den Ergebnissen betätigter Freiheit – für andere nicht verschließen: Er garantiert Berufsfreiheit, läßt aber nur den medizinisch Qualifizierten zum Arztberuf zu, schützt die Eigentümerfreiheit für jedermann, besteuert aber je nach Eigentumsunterschieden, garantiert eine gleiche Wissenschaftsfreiheit, zieht aber nur die qualifizierten Wissenschaftler zu bestimmen Aufgaben heran. Freiheit heißt, sich unterscheiden zu dürfen. Der Freiheitsgehalt achtet die Freiheit, indem er diese Unterschiede zur Kenntnis nimmt.“

Daraus folgt, daß der Staat schon nach geltendem Recht Religionsgemeinschaften unterschiedlich behandeln darf, soweit ihre Lehren die Grundrechte unserer Verfassung berühren. Niemand kann z. B. wegen seiner religiösen Überzeugung den Anspruch erheben, der Staat müsse seine Mehrfachehe rechtlich schützen.

ordre public:

Was bereits aus den immanenten Schranken der Verfassung allgemein folgt, hat unsere Rechtsordnung für den internationalen Rechtsverkehr in Art. 6 EGBGB geregelt. Er lautet:

„Eine Rechtsnorm eines anderen Staates ist nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar ist. Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist.“

Die Norm stellt die Anwendung ausländischen Rechts unter den Vorbehalt, daß ihr Ergebnis nicht offensichtlich mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar ist. Dies soll beispielhaft an einigen Fällen aus der Rechtspraxis erläutert werden. Bei den einschlägigen Fällen handelt es sich zumeist um Konstellationen, bei denen ein ordre-public-Verstoß wegen einer Grundrechtsverletzung im Raum steht. Die Unvereinbarkeit mit den Grundrechten ist nach Art. 6 Satz 2 EGBGB ein ausdrücklich normierter Anwendungsfall der Vorbehaltsklausel. Damit Art. 6 EGBGB überhaupt von den deutschen Gerichten angewandt werden kann, muß eine sogenannte Inlandsbeziehung vorliegen. D.h., die Beteiligten an einem Rechtsfall genießen zum Beispiel wegen ihres Wohnsitzes in Deutschland den Schutz der deutschen Rechtsordnung. Liegt infolge einer hinreichenden Inlandsbeziehung eine Grundrechtsverletzung vor, greift nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Vorbehaltsklausel immer ein, weil angesichts der Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG für eine Differenzierung zwischen tragbaren und nicht tragbaren Grundrechtsverletzungen kein Raum ist. Die grundrechtlichen Differenzierungsverbote aus Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 GG – Gleichheitssatz – werden heute weitgehend und zutreffend als absolute Verbote verstanden, nach denen die dort aufgezählten Merkmale grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung verwendet werden dürfen, auch wenn eine Regelung des ausländischen Rechts vorrangig andere Ziele verfolgt. Verfassungsrechtlich geschützt ist zum Beispiel die abendländische Ehe als eine gleichberechtigte partnerschaftliche Lebensgemeinschaft. Eingriffe in die Eheschließungsfreiheit sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts alle staatlichen Maßnahmen, welche die Ehe schädigen, stören oder sonstwie beeinträchtigen.

Unvereinbarkeit mit deutschem Verfassungsrecht liegt zum Beispiel dann vor, wenn die Anwendung iranischen Rechts im Ergebnis die geschlechtsunabhängigen Erbquoten des deutschen Rechts aushebeln würde. So sieht das iranische Erbrecht für eine hinterbliebene Ehefrau einen Erbanteil von einem Viertel und für einen hinterbliebenen Ehemann von einer Hälfte des beweglichen Nachlasses vor. Die Begründung für das ungleiche Erbrecht von Männern und Frauen im iranischen Recht, aber auch anderen vom Koran und der Scharia geprägten Rechtsordnungen liegt nach einer verbreiteten Auffassung konservativer muslimischer Gelehrter darin, daß Frauen und Männer biologisch bedingt unterschiedliche soziale Funktionen mit entsprechenden verschiedenen Rechten und Pflichten haben. Das entbehrt jeder naturwissenschaftlichen Grundlage. Entscheidend ist jedoch immer, ob das Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts schlechterdings mit den Grundrechten nach unserer Verfassung nicht vereinbar ist. Das gilt zum Beispiel auch für die vielfach in islamisch geprägten Rechtsordnungen anzutreffende Diskriminierung nach der Religionszugehörigkeit, die grundsätzlich Nichtmuslime schlechter stellt als Muslime. Die absoluten Diskriminierungsverbote der Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 GG sind vom Verfassungsgesetzgeber als Menschenrechte ausgestaltet. Sie stehen in besonderer Nähe zur in Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde, da die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale die Identität der Menschen wesentlich prägen und teilweise grundsätzlich unveränderlich oder das Ergebnis der Ausübung eines verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechts sind. Die Diskriminierungsverbote entsprechen auch internationalem Standard, da sie Gegenstand auch des Völkergewohnheitsrechts und internationaler Abkommen sind. Auch die Religionsfreiheit unterfällt nach herrschender Auffassung insbesondere des Bundesverfassungsgerichts lediglich ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Beschränkungen oder sonstigen verfassungsimmanenten Schranken. Ein religiös begründetes Erbhindernis wegen Religionsverschiedenheit unterfällt eben nicht dem Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und der Religionsausübungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 2 GG. Die im Verhältnis zu seinem muslimischen Bruder geringere Erbquote des christlichen Erben nach algerischen Recht verstößt demnach gegen den ordre public mit der Folge, daß das algerische Erbhindernis der Religionsverschiedenheit ersatzlos nicht anzuwenden ist.

Auch völkerrechtliche Verträge vermögen die Grundrechte nach der deutschen Verfassung nicht auszuhebeln. Insbesondere auch dann nicht, wenn dem ein unterschiedliches Verständnis der Menschenrechte zu Grunde liegt, wie das insbesondere bei islamischen Rechtsordnungen der Fall ist. Denn für abendländisch geprägte Rechtsvorstellungen sind der einzelne Mensch und seine Freiheitsrechte von zentraler Bedeutung. Demgegenüber stellen afrikanische und asiatische Rechtskonzeptionen die Gemeinschaftsbindung des Einzelnen in den Vordergrund. In den Verfassungen der meisten islamisch geprägten Staaten ist der Islam als Staatsreligion oder offizielle Religion verankert und werden die Grundsätze der Scharia oder wird die Rechtswissenschaft als Hauptquelle oder eine Quelle der Gesetzgebung festgeschrieben. Dies hindert selbstverständlich die islamisch geprägten Staaten zwar nicht, internationalen Menschenrechtspakten beizutreten, führt aber dazu, daß sie ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen regelmäßig schariakonform auslegen. Die Scharia differenziert als personalies Recht grundsätzlich nur für Muslime in einer Vielzahl rechtlicher Regelungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Dabei werden Nichtmuslime als Menschen minderen Rechtsstatus angesehen, wie sich beispielsweise am Erbhindernis der Religionsverschiedenheit zeigt. So hat zum Beispiel das OLG Hamm in einer Entscheidung vom 28.02.2005 die Bestimmung des ägyptischen Rechts, die ausnahmslos Personen (damit auch Kinder) von der gesetzlichen Erbfolge ausschließt, wenn sie nicht der selben Religion wie der (hier muslimische) Erblasser angehören, einen erheblichen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 GG gesehen. Die Anwendung dieser Norm indiziert bei einem gegebenen Inlandsbezug einen Verstoß gegen den deutschen ordre public. Auch scheinbar ausgleichende Regelungen wie der Anspruch auf eine Brautgabe ändern nichts am Ergebnis.

Eine Vielzahl von Entscheidungen hat das Eherecht zum Gegenstand. Zwar nimmt die deutsche Rechtsordnung es hin, wenn im Ausland geschlossene Mehrfachehen im Inland weitergeführt werden. Hier wird aber nur der Bestand geschützt, und auch das nur, wenn sie von allen Beteiligten im Ausland eingegangen wurden. Die Religionsfreiheit und die Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 GG schützen die Mehrehe hingegen nicht, weil das islamische Eherecht lediglich die Rechtsbeziehungen zwischen den Menschen und nicht diejenigen zu Gott betrifft und damit nicht dem Schutzbereich der Religionsfreiheit unterfällt. Das Bestehen einer Doppelehe in Deutschland unter Beteiligung einer Deutschen untergräbt auch das Vertrauen potentieller deutscher Ehepartner in den verfassungsrechtlich begründeten Schutz der ein Ehe. Daher besteht in solchen Fällen auch eine objektiv-rechtliche Schutzpflicht des Staates, die mittels des ordre public durchzusetzen ist. Auch die sogenannte islamische Privatscheidung, selbst wenn sie etwa von einem ägyptischen Notar bescheinigt ist, verletzt die Grundrechte der Ehefrau aus Art. 3 Abs. 2 und3 GG. Denn sie wird wegen der Einseitigkeit des Verstoßungsrechts des Ehemannes rechtlich benachteiligt. Dabei kommt unter anderem auch eine Verletzung des in Art. 103 Abs. 1 GG geschützten Anspruchs auf rechtliches Gehör ins Spiel. Dieser tragende Rechtsgrundsatz ist schon wegen seiner Nähe zum Grundrecht der Menschenwürde Bestandteil des deutschen ordre public. In Betracht kommt aber auch das Grundrecht der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde ist darüberhinaus völkerrechtlich unter anderem in den Präambeln der UN-Charta vom 26.06.1945, der Pakte über die bürgerlichen und politischen wie über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vom 19.12.1966, des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979 sowie in der Präambel und den Art. 1 und Art. 22 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung vom 10.12.1948 geschützt.

Auch den deutschen Bestimmungen über den Vorrang des Kindeswohls entgegenstehende Vorschriften islamischen Rechts verletzen das Grundrecht eines Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und ignorieren den staatlichen Auftrag zur Überwachung der elterlichen Sorge (Art. 6 Abs. 2 Satz zwei GG.

Diese wenigen Beispiele zeigen, daß schon nach geltendem Recht die übrigen Grundrechte der Verfassung dem Recht auf Ausübung der Religion nach Art. 4 Abs. 2 GG vorgehen. Es ist natürlich letztlich eine Frage des politischen Willens, ob und in welchem Umfange man einfachgesetzlich das Recht auf Ausübung der Religion noch weiter einschränkt. So scheint es nicht ausgeschlossen zu sein, daß man es mit dem Kindeswohl für unvereinbar hält, Kinder und Jugendliche während des Ramadan auch bei größter Hitze im Hochsommer zu zwingen, mehr als 12 Stunden lang keinerlei Nahrung, nicht einmal Wasser, zu sich zu nehmen. Daß dies extrem gesundheitsgefährdend ist, liegt auf der Hand. Über den barbarischen religiösen Brauch der Beschneidung (richtig: Genitalverstümmelung) männlicher Kinder soll an dieser Stelle nichts weiter ausgeführt werden. Bekanntlich hat der deutsche Gesetzgeber aus politischen Gründen eine einschlägige zutreffende Gerichtsentscheidung ausgehebelt. Ob das allerdings mit dem Grundgesetz vereinbar ist, halte ich doch für sehr zweifelhaft.

Selbstverständlich ist es dem Verfassungsgesetzgeber unbenommen, die Vorschrift des Art. 4 Abs. 2 GG, die Freiheit der Ausübung der Religion, zu beschränken. Die Vorschrift gehört ja nicht zu den Grundrechten, die dem absoluten Änderungsverbot unterliegen. Vielmehr kann sie genauso gut geändert werden, wie das im Jahr 1993 mit dem Asylgrundrecht geschehen ist. Bisher fehlt es lediglich am politischen Willen der verfassungsändernden Mehrheit. Doch vielleicht gilt auch hier, daß sich die Zeiten ändern, und wir mit Ihnen.

 

 

 

 

 

2 Gedanken zu „Wie weit reicht die Religionsfreiheit?

  1. Baumann

    Wieder einmal eine exzellente Kommentierung eines für Nichtjuristen komplexen Sachverhaltes.

    Unabhängig von den Bestimmungen des GG sollten wir alle m.E. toleranter denken und handeln im Sinne eines Friedrich des Großen, der einmal sagte:

    „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute sind.
    Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, dann würden wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen“

    Nicht Religion oder Herkunft sollten entscheiden, sondern berufliche Qualifikation und Loyalität gegenüber unserem Staat.

    Folgt man dieser Maxime des „Alten Fritz“, wären unser Land und die ganze Welt weniger gespalten und in Unruhe und obendrein ökonomisch erfolgreich.

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