Politik und Medien haben im vergangenen Jahr mit verschiedenen Veranstaltungen daran erinnert, daß vor 70 Jahren in Nürnberg der Prozeß gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher begonnen hat. Die Schaffung des diesem Verfahren zugrunde liegenden Londoner Statuts vom 8.8.1945 wurde einhellig als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts gefeiert. Soweit ersichtlich, war die Rechtswissenschaft hier etwas zurückhaltender. Mit gutem Grund.
Wir erinnern uns. Bis zu jenem Londoner Statut gab es überhaupt noch kein Völkerstrafrecht. Zwar gab es eine Reihe von völkerrechtlichen Verträgen, die gewisse Regeln für kriegerische Auseinandersetzungen statuierten. Es gab sogar ein internationales Abkommen, in dem die beteiligten Staaten feierlich auf das Recht verzichteten, ihre außenpolitischen Absichten mit Gewalt durchzusetzen. In diesem allgemein als Briand-Kellogg Pakt bekannten Vertragswerk findet sich jedoch keine Regelung über etwaige strafrechtliche Folgen der Verletzung dieses Vertrages. Erst das erwähnte Londoner Statut vom 8.8.1945 legte fest, daß die Planung und Führung eines Angriffskriegs strafrechtlich verfolgt werden kann. Künftig sollten Staatsmänner und Militärs hierfür persönlich zur Verantwortung gezogen werden können. Allerdings hatte dieses Statut den juristischen Kardinalfehler, daß es sich rückwirkende Geltung beilegte. Nur mit diesem juristischen Kunstgriff, manche sagen auch: Taschenspielertrick, war es überhaupt möglich, die führenden Politiker und Militärs des soeben niedergeworfenen Deutschland vor Gericht zu stellen. Das aber war unbedingt notwendig, um ein Justizdrama auf die Bühne bringen zu können, in dem publikumswirksam die Eliten des besiegten Staates – teils in der Sache durchaus zu Recht – als kriminelle Scheusale vorgeführt und abgeurteilt werden konnten. Der offensichtlich erwünschte Effekt der ganzen Veranstaltung war natürlich, Deutschland für sehr lange Zeit gewissermaßen an den Katzentisch der Weltgeschichte zu setzen. Nicht nur die Verteidiger der damaligen Angeklagten, darunter anerkannte Experten des Völkerrechts, sondern auch Rechtswissenschaftler, Philosophen und hochrangige Geistliche aus aller Welt übten denn auch Kritik an diesem Verfahren, dessen Grundlage eben gegen den universalen Rechtssatz verstieß, daß niemand für eine Tat bestraft werden darf, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung noch nicht gesetzlich mit Strafe bedroht war.
Daher ist es nicht überraschend, daß nach Beendigung der Nürnberger Prozesse das Völkerstrafrecht in einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf gefallen ist, auch wenn kurz danach die Verein Nationen das Londoner Statut und die darauf basierenden Verfahren als „Nürnberger Prinzipien“ herausstellten. Es folgte kein einziges weiteres Verfahren dieser oder ähnlicher Art. Das kann auch nicht weiter verwundern, denn das Londoner Statut richtete sich ausschließlich gegen die im Zweiten Weltkrieg unterlegenen Staaten. Mit Friedrich Schiller war festzustellen: der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.
Erst mit Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden erneut Verfahren gegen Staatsmänner geführt, die sich in ähnlicher Weise wie die Staatsführer Deutschlands und Japans wegen Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten. Wegen Planung und Führung eines Angriffskrieges wurden allerdings weder der serbische Präsident Milosevic noch einer der verschiedenen afrikanischen Potentaten angeklagt und verurteilt. Die Zeit schien auch dafür reif, nun endlich ein Völkerstrafrecht zu schaffen, das auch eine wirkliche Rechtsgrundlage für die strafrechtliche Verfolgung von Kriegstreibern und Kriegsverbrechern darstellte. Im Jahr 1998 war es dann soweit. Die meisten in den Vereinten Nationen organisierten Staaten beschlossen das Römische Statut über die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs. Es trat dann 2002 in Kraft, wurde allerdings von einer ganzen Reihe von Staaten nicht ratifiziert, darunter die USA, Russland, China und Israel. Der Tatbestand der Planung und Führung eines Angriffskrieges, der bereits in diesem Statut enthalten war, stand unter dem Vorbehalt, daß eine allgemein anerkannte Definition dafür erst noch gefunden und beschlossen werden müsse. Das geschah dann 2010 in Kampala. Diesen Vertrag haben bisher allerdings nur drei Staaten (Andorra, die Slowakei und Deutschland) ratifiziert. In Kraft treten kann er erst am 1.1.2017. Die weiteren Kautelen für die Einleitung eines Strafverfahrens wegen dieses Tatbestandes sind vielfältig und dergestalt, daß man annehmen muß, ein derartiges Strafverfahren werde es wohl niemals geben.
Damit scheint das Völkerstrafrecht auch seinen Gipfel erreicht zu haben. Von dort aus kann es ja auch nur noch wieder abwärts gehen. Und so ist es auch. Derzeit gibt es in einigen afrikanischen Ländern, darunter Südafrika und Namibia, aber auch Kenia, ernsthafte Überlegungen, aus dem Vertrag von Rom über den Internationalen Strafgerichtshof wieder auszusteigen. Damit kündigt sich eine Entwicklung an, an deren Ende wohl die praktische Bedeutungslosigkeit dieses Internationalen Strafgerichtshofs stehen wird. Das Völkerstrafrecht wird dann endgültig an der politischen Wirklichkeit gescheitert sein. Ob die Juristen künftiger Generationen das Londoner Statut vom 8.8.1945 und die auf dieser Grundlage durchgeführten Prozesse gegen die Führer Deutschlands und Japans dann noch als Sternstunden des Völkerrechts betrachten werden, muß doch wohl füglich bezweifelt werden.
Doch für Gedenkveranstaltungen 100 Jahre danach im Jahre 2045 wird natürlich der Maßstab der Pietät gelten. De mortuis nihil nisi bene.