Wir sind ein Volk

Heute am Tag der deutschen Einheit ist es durchaus angebracht, über uns, das deutsche Volk nachzudenken. Die Parole „Wir sind ein Volk“ löste 1989 den Ruf „Wir sind das Volk!“ der Montagsdemonstranten von Leipzig ab und fand seine logische Weiterentwicklung in dem berühmten Satz Willy Brandts: „Nun wächst zusammen, was zusammen gehört“. Doch ist kaum etwas in Deutschland so umstritten, wie die Begrifflichkeiten deutsches Volk, Deutschland, deutsche Kultur und deutsche Geschichte.

Der Satz von der verspäteten Nation, den Helmuth Plessner mit seinem gleichnamigen Werk aus dem Jahre 1935 geprägt hat, ist für viele Historiker, Politiker und Publizisten zu einer Art Grundwahrheit geworden. Im wesentlichen soll damit gesagt werden, daß die alten westlichen Nationalstaaten England und Frankreich im Zeichen der Aufklärung ihre moderne Gestalt angenommen hätten. Die deutsche Reichsgründung von 1871 aber sei in die materialistische Zeit nach der industriellen Revolution gefallen. So sei Deutschland zu einem „Machtstaat ohne humanistisches Rechtfertigungsbedürfnis“, zu einer „Großmacht ohne Staatsidee“ geworden. Deutschland habe infolge des 30-jährigen Krieges das 17. Jahrhundert gewissermaßen versäumt und darum kein Verhältnis zur Frühaufklärung hervorgebracht. Das deutsche Bürgertum habe schwer an der „politischen Indifferenz des Luthertums“ getragen. Es habe an einem „römischen Komplex“ gelitten, der sich zum Mißtrauen gegen jede, auch die aufgeklärte Form von politischer Universalität ausgeweitet habe. Bismarcks Werk habe wohl das Recht historischen Schicksals, aber nicht die Rechtfertigung im Zeichen einer Idee für sich gehabt. Das Reich von 1871 habe nicht wie Frankreich und England an die Phantasie der Völker, an ihre Zukunftserwartung, ihren Menschheitsglauben appelliert. Es habe für nichts gestanden, von dem es überragt worden sei. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg habe sich „Deutschlands Protest gegen den politischen Humanismus Westeuropas“ verstärkt. Der Nationalsozialismus sei der Nutznießer und Exekutor dieses Protests gewesen, seine Vergottung von Volk und Rasse die extreme Übersteigerung der deutschen Auflehnung gegen den politischen Humanismus des Westens gewesen. Diese Theorie Plessners führte geradewegs in den „Sonderwegsdiskurs“ der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Dagegen läßt sich allerhand einwenden. Die Theorie vom deutschen Sonderweg in der Geschichte seit dem 30-jährigen Krieg, der letztendlich geradewegs über ein autoritär-militaristisches Gesellschafts- und Staatsmodell in die Katastrophe des Nationalsozialismus geführt habe, ist ja nur dann stimmig, wenn man davon ausgeht, daß sich Geschichte zwangsläufig so entwickelt, wie sie sich in der Betrachtung ex post darbietet. Natürlich gibt es keine Zwangsläufigkeit der Geschichte. Gerade am Beispiel des Nationalsozialismus wird dies besonders deutlich. Er stand und fiel mit der Person seines Begründers und Führers. Ohne einen charismatischen Demagogen wie ihn hätte sich diese Ideologie nicht durchsetzen können. Vielmehr wäre sie heute wohl nur eine Fußnote in der Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Auch wenn kontrafaktische Überlegungen der Geschichtswissenschaft fremd sind und fremd sein müssen, so ist es doch im Rahmen von Überlegungen zum Wesen der deutschen Nation durchaus angemessen, den Stellenwert des Nationalsozialismus für ihre Geschichte wie auch für den Charakter des deutschen Volkes auch unter dem Aspekt zu betrachten, daß er nicht zwangsläufig, wie nach einem Naturgesetz entstanden sein muß. So führt zum Beispiel die Annahme, Hitler wäre bei dem berüchtigten Marsch auf die Feldherrnhalle in München wie viele seiner Anhänger erschossen worden, zwanglos zu der sehr gut begründbaren Vermutung, daß dies auch das Ende dieser politischen Bewegung gewesen wäre. Ebensogut kann angenommen werden, daß das erfolgreich verlaufende Attentat des Schreiners Georg Elser im Bürgerbräukeller über kurz oder lang das Ende der nationalsozialistischen Regierung bedeutet hätte, denn es ist nicht anzunehmen, daß einer der anderen führenden Nationalsozialisten das Zeug zum Diktator Hitlerschen Formats gehabt hätte.

Der Begriff der verspäteten Nation läßt auch außer Acht, daß Nation und Staat durchaus verschieden sein, sich unterschiedlich entwickeln können und im Falle Deutschlands dies auch besonders augenfällig ist. Nach dem Ende der karolingischen Epoche entwickelte sich in Mitteleuropa etwas zögerlich eine deutsche Staatlichkeit. Mit Konrad I., der 911 zum deutschen König gekrönt wurde über seinen Nachfolger Heinrich I., der 919 die Königswürde der Deutschen erlangte, und erst recht Otto I., der 936 tatsächlich ein deutsches Königtum mit Leben erfüllen konnte, was ihm ermöglichte, 955 in der Schlacht auf dem Lechfeld Ungarn zu besiegen und als Gefahr für sein Reich auszuschalten, trat das deutsche Volk auch als Staat in die Geschichte ein. Seither trägt Otto den Beinamen „der Große“, den die Historiker außer ihm nur dem Frankenkönig Karl und dem preußischen König Friedrich II. gegeben haben. Nach Karl dem Großen wurde er dann auch folgerichtig 961 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gekrönt. Er konnte sich seinerzeit auch noch den Primat über den Papst sichern und bestimmen, wer auf dem Stuhle Petri Platz nehmen darf.

Gerade die weitere Geschichte der Deutschen im staatlichen Rahmen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zeigt, wie unterschiedlich sich Volk und Staat entwickeln können. Der geistigen und kulturellen Entwicklung im deutschsprachigen Raum entsprach seine politische in keiner Weise. Den weit über die Grenzen des Reiches hinaus wirkenden Erfindungen wie etwa dem Buchdruck oder gesellschaftlichen Umwälzungen wie der Reformation entsprach die Entwicklung des Staates nicht, eher im Gegenteil. Der Zerfall des alten deutschen Reiches im 30-jährigen Krieg und das förmliche Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1806 markieren nur die Unfähigkeit der Deutschen, sich eine stabile staatliche Ordnung zu geben. Über ihre Identität als Nation ist damit jedoch nichts gesagt. Gerade in den Jahrhunderten des staatlichen Zerfalls entwickelten sich Philosophie, Musik und Literatur wie auch die bildenden Künste in nicht geringerem Maße, als etwa in England und Frankreich. Wer eine den Staat überwölbende Idee in Deutschland vermißt, der übersieht Luther, Leibniz, Kant und die ihm nachfolgenden Philosophen, deren Einfluß auf die Deutschen nicht geringer war, als zum Beispiel der von John Locke auf die Engländer oder Rousseau und Voltaire auf die Franzosen. Eine vergleichbare Entwicklung gab es in Italien, das ja ebenso wie Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (wieder) zu einer nationalen Staatlichkeit finden konnte. Beispiele einer staatlichen Diskontinuität ließen sich auch sonst in der Geschichte finden. Plessners These von der verspäteten Nation bedarf, wenn wir auf die Reichsgründung blicken, einer weiteren Einschränkung. 1871 wurde ein deutscher Nationalstaat begründet, nicht die deutsche Nation. Im kulturellen Sinn waren die Deutschen, wie ausgeführt, schon seit langem eine Nation gewesen. Die deutsche Kulturnation war „großdeutsch“, sie schloß immer auch die deutschsprachigen Gebiete des Habsburgerreiches und nach dem Verständnis der meisten Deutschen auch die Elsässer und deutschsprachigen Lothringer sowie die deutschsprachigen Schweizer mit ein. Mit Fug und Recht kann man das in kultureller Hinsicht auch weiterhin für den deutschsprachigen Raum sagen.

„Wir sind ein Volk“, dieser Satz greift weit über die staatliche Wiedervereinigung der beiden Teilstaaten hinaus, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des alliierten Diktats den Deutschen geblieben waren. In ihm schwingt auch mit, was seit Jahrhunderten den Nationalcharakter der Deutschen prägt und ihnen ermöglicht hat, in den Bereichen von Kultur, Wissenschaft und Technik fortlaufend Höchstleistungen hervorzubringen, und wohl auch deswegen in der Lage zu sein, politische Rückschläge bis hin zur Katastrophe des Dritten Reiches zu überstehen. Man kann auch klar benennen, daß die übrigen europäischen Mächte wie auch die später hinzugekommenen USA stets daran gearbeitet haben, Deutschland als Nationalstaat nicht zu groß werden zu lassen. Die Weigerung der Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg, den Österreichern zu erlauben in einer Volksabstimmung sich dem Deutschen Reich anzuschließen, wie auch die Abtrennung Südtirols zugunsten Italiens oder die Abtrennung der deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße nach dem Zweiten Weltkrieg sprechen ja eine beredte Sprache. Dennoch sollten wir glücklich darüber sein, daß wir unsere Staatlichkeit nun vereint in unseren heutigen Grenzen unbehelligt leben können. Anderen Völkern ist dies nicht vergönnt, denken wir etwa an die Kurden. Auch ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß eine Kultur wie etwa die spanische oder englische in mehreren Staaten gelebt werden, wie etwa Südamerika und Australien zeigen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

„Wir sind ein Volk“, das ist nicht nur eine Feststellung. Das ist auch eine Aufgabe. Die Anfechtungen, denen wir heute ausgesetzt sind, zielen nicht mehr auf unsere Staatlichkeit. Vielmehr haben wir alle Veranlassung, wachsam die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande zu beobachten und zu gegebener Zeit auch korrigierend einzugreifen. Einflüsse aus fremden Kulturen können in jedem Volk genießbare wie ungenießbare Früchte reifen lassen. Man muß sie eben voneinander unterscheiden können. Es kann nicht zusammenwachsen, was nicht zusammen gehört.

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