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Patriotisch oder völkisch?

Im allgegenwärtigen „Kampf gegen Rechts“ der politischen Mehrheit unseres Landes, im Verbund mit den vorwiegend linksgrün gesinnten Medien, wird gern und häufig der Vorwurf erhoben, eine gesellschaftspolitische Position, die kritisch zur Einwanderung allgemein und insbesondere ihren gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen steht, sei „völkisch“, mithin letztendlich die Fortsetzung des Nationalsozialismus, auf jeden Fall aber mit der grundgesetzlichen Garantie der Menschenrechte nicht vereinbar. Wäre dem tatsächlich so, verstießen solche politischen Forderungen in der Tat gegen einen tragenden Grundsatz unserer Verfassung und riefen zu Recht den Verfassungsschutz auf den Plan. Im Falle einer politischen Partei müßte das auch zum Verbot gemäß Art. 21 GG führen.

Beispielhaft kann dies im Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 08.03.2022 zur Beobachtung der AfD durch das Bundesamt für den Verfassungsschutz nachgelesen werden. Der Verfassungsschutz und ihm folgend das Verwaltungsgericht in seiner – nicht rechtskräftigen, beim Oberverwaltungsgericht angefochtenen – Entscheidung heben unter anderem darauf ab, daß die Jugendorganisation der AfD (Junge Alternative) ein Menschen- und Gesellschaftsbild habe, wonach eingewanderte oder einen Migrationshintergrund aufweisende deutsche Staatsangehörige keine adäquate Vergleichsgruppe zum autochthonen Deutschen seien. Es existierten nach der Vorstellung der JA demnach deutsche Staatsangehörige erster und zweiter Klasse. Idealbild sei dort der autochthone Deutsche. Mit dem genannten Maßstab würden jedoch alle Deutschen ausgegrenzt, die nicht zu den autochthonen Deutschen zählten, da sie eingewandert seien oder einen Migrationshintergrund aufwiesen. Diese Klassifizierung sei auch für den Einzelnen unveränderlich, da sie auf einem ethnischen – und nicht auf einem kulturellen – Kriterium beruhe (RNr. 240 des Urteils). Maßgeblich hebt das Gericht auch auf zitierte Äußerungen des seinerzeitigen Parteivorsitzenden Alexander Gauland ab, wonach Kultur angeboren (!) sei. Damit werde deutlich, daß auch das kulturelle Element des Volksverständnisses letztlich abstammungsmäßig begründet werde. Gauland bediene sich ja auch der Formel des „Austauschs“ und erhebe den „Umvolkungs“-Vorwurf (RNr. 867).

Wer ernsthaft an der politischen Diskussion in unserem Lande teilnehmen will, der muß sich innerhalb des Verfassungsbogens bewegen, wie die etwas blumige metaphorische Umschreibung dafür lautet, daß die Grenzen der Meinungsfreiheit und des politischen Gestaltungswillens eben von den Grundwerten der Verfassung gezogen werden. Die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, unterstreicht dies durch die sogenannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3, wonach die in den Artikeln 1 und 20 GG beschriebenen Prinzipien auch nicht vom verfassungsändernden Gesetzgeber wesentlich verändert oder gar völlig aufgegeben werden dürfen.

In diesem Beitrag ist also zu untersuchen, wo die Grenze zwischen gesundem und verfassungskonformen Patriotismus und völkischer, und damit verfassungsfeindlicher Ideologie zu ziehen ist.

Schutz der Menschenwürde vs. völkischer Begriff der Ethnie resp. des Staatsvolks:

Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17.01.2017 im zweiten NPD-Verbotsverfahren (BVerfG NJW 2017, 611 ff.) wird vielfach angenommen, das Bundesverfassungsgericht habe in dieser Entscheidung den herkömmlichen Begriff von der historisch-kulturell gewachsenen und auch auf gemeinsamer Abstammung beruhenden Nation aufgegeben. Die Folge sei, daß man sich eine verfassungsfeindliche Einstellung vorhalten lassen müsse, wenn man weiterhin einen solchen Begriff der Nation vertrete. Das findet in der genannten Entscheidung keine Grundlage.

Die wesentlichen Passagen der Entscheidung zu diesem Teil der Problematik– daneben ging es um den wesentlichen Kern des Demokratiebegriffs unserer Verfassung – sollen daher erst einmal zitiert werden:

RNr. 541:         

Die Menschenwürde ist egalitär; sie gründet ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht. Dem Achtungsanspruch des Einzelnen als Person ist die Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied in der rechtlich verfassten Gemeinschaft immanent. Mit der Menschenwürde sind daher ein rechtlich abgewerteter Status oder demütigende Ungleichbehandlungen nicht vereinbar. Dies gilt insbesondere, wenn derartige Ungleichbehandlungen gegen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen, die sich –ungeachtet der grundsätzlichen Frage nach dem Menschenwürdegehalt der Grundrechte – jedenfalls als Konkretisierung der Menschenwürde darstellen. Antisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte sind damit nicht vereinbar und verstoßen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.

Das Parteiprogramm der NPD vom 4./5.6.2010 indessen missachtet die durch die Garantie der Menschenwürde geschützte Subjektqualität des Einzelnen und verletzt den Anspruch auf elementare Rechtsgleichheit.

Denn

RNr. 639:

Die dem Programm vorangestellten „Grundgedanken“ lauten zwar: „Gleich sind die Menschen dagegen vor dem Gesetz und in der Unantastbarkeit ihrer Würde“. Zugleich wird dieses Bekenntnis zur Menschenwürde aber eingeschränkt, wenn es heißt: „Die Würde des Menschen als soziales Wesen verwirklicht sich vor allem in der Volksgemeinschaft“. Ihrem Verständnis des Vorrangs der „Volksgemeinschaft“ entsprechend fordert die Antragsgegnerin (die NPD) als oberstes Ziel deutscher Politik die Erhaltung des durch Abstammung, Sprache, geschichtliche Erfahrungen und Wertvorstellungen geprägten deutschen Volkes. Anzustreben sei die „Einheit von Volk und Staat“ und die Verhinderung einer „Überfremdung Deutschlands, ob mit oder ohne Einbürgerung“. Deutschland müsse das Land der Deutschen bleiben und dort, wo dies nicht mehr der Fall sei, wieder werden. Grundsätzlich dürfe es für Fremde in Deutschland kein Bleiberecht, sondern nur eine Rückkehrpflicht in ihre Heimat geben.

RNr. 640:

Auf dieser Grundlage wird von der Antragsgegnerin (der NPD) ein politisches Konzept entwickelt, das vor allem auf die strikte Exklusion und weitgehende Rechtlosstellung aller ethnisch Nichtdeutschen gerichtet ist.

RNr. 641:

Die Geltung der Grundrechte wird ausdrücklich auf alle Deutschen bezogen und die Anwendung des Solidaritätsprinzips auf die Gemeinschaft aller Deutschen beschränkt.

RNr. 642:

Die Antragsgegnerin (die NPD) fordert daher eine gesetzliche Regelung zur Rückführung der hier lebenden Ausländer („Rückkehrpflicht statt Bleiberecht“). Integration sei Völkermord.

Daraus folgert das Bundesverfassungsgericht:

RNr. 646:

„Vor allem aber zielt das Parteiprogramm auf einen rechtlich abgewerteten, nahezu rechtlosen Status aller, die der ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“ im Sinne der Antragsgegnerin nicht angehören. Grundlage ist der Ausschluss der Nichtdeutschen aus dem Geltungsbereich der Grundrechte. Soweit die Antragsgegnerin dies mit dem Hinweis bestreitet, die fragliche Textstelle des Programms setzte sich lediglich kritisch mit der Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Deutschland auseinander, steht dem bereits entgegen, daß, obwohl es sich nicht um ein Deutschengrundrecht handelt, die Meinungsfreiheit dennoch auf Deutsche begrenzt wird und für eine abweichende Behandlung anderer Grundrechte nichts ersichtlich ist.

RNr. 690:

Der von der Antragsgegnerin vertretene Volksbegriff ist verfassungsrechtlich unhaltbar. Das Grundgesetz kennt einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, „von den deutschen Staatsangehörigen und denen ihnen nach Art. 116 Abs. 1 gleichgestellten Personen“ gebildet wird. Für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk und den daraus sich ergebenden staatsbürgerlichen Status ist demgemäß die Staatsangehörigkeit von entscheidender Bedeutung. Dabei überlässt das Grundgesetz dem Gesetzgeber, wie sich aus Art. 73 Abs. 1 Nr.2 und Art. 116 Abs.1 GG ergibt, die Regelung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit…. Die Auffassung der Antragsgegnerin, der Gesetzgeber sei bei der Konzeption des Staatsangehörigkeitsrechts streng an den Abstammungsgrundsatz gebunden, findet demgegenüber im Grundgesetz keine Stütze.

Demgemäß kommt bei der Bestimmung des „Volkes“ im Sinne des Grundgesetzes ethnischen Zuordnungen keine exkludierende Bedeutung zu. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, ist aus der Sicht der Verfassung unabhängig von seiner ethnischen Herkunft Teil des Volkes. Diese verfassungsrechtliche Vorgabe steht in deutlichem Gegensatz zur Auffassung der Antragsgegnerin, nach deren Überzeugung der Erwerb der Staatsangehörigkeit nicht dazu führt, daß der Eingebürgerte Teil des deutschen Volkes wird.

RNr. 693:

Die Antragsgegnerin kann sich zur Begründung der Behauptung, einen verfassungsgemäßen Volksbegriff zu vertreten, auch nicht auf Art. 116 GG und den dazu ergangenen „Teso“-Beschluss des Zweiten Senats berufen. Zwar erweitert Art. 116 GG als Ausdruck der Pflicht, die Einheit des deutschen Volkes als Träger des Selbstbestimmungsrechts nach Möglichkeit zu bewahren, die Eigenschaft als Deutscher auf die sogenannten „Statusdeutschen“. Dies führt aber nicht dazu, daß der Volksbegriff des Grundgesetzes sich vor allem oder auch nur überwiegend nach ethnischen Zuordnungen bestimmt. Vielmehr erhält Art.116 GG als Kriegsfolgenrecht erst dadurch Sinn, daß der Träger der deutschen Staatsgewalt im Ausgangspunkt durch die Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen zu definieren ist. Im „Teso“-Beschluss hatte das Bundesverfassungsgericht darüber zu befinden, ob der Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik durch eine Person, die von einem italienischen Vater abstammte, zugleich den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes zur Folge hatte. Daß das Bundesverfassungsgericht dies – unabhängig von der ethnischen Zuordnung –bejahte, dokumentiert die fehlende Ausschließlichkeit der ethnischen Herkunftfür die Bestimmung der Zugehörigkeit zum deutschen Volk.

Soweit das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung.

Politisches Ziel einerseits und Rechtsstatus andererseits

Davon zu unterscheiden ist das politische Ziel der Wahrung der Identität der Nation bzw. des ethnisch-kulturell verstandenen Volkes. So hat das Verwaltungsgericht Berlin bereits in der Republikaner-Entscheidung vom 31.01.1998, bestätigt vom OVG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 06.04.2006, Az. 3 B 3.99, festgestellt, daß eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, Einwanderung zu erlauben bzw. hinzunehmen, die vielleicht dazu führt, daß die Deutschen im ethnisch-kulturellen Sinn in eine Minderheitsposition gedrängt werden, wie dies in Stadtteilen oder Schulen bereits vielerorts der Fall ist, nicht besteht. Murswiek weist zu Recht daraufhin, daß es ein legitimes Ziel der Politik ist, sich dafür einzusetzen, daß die Bevölkerungsstruktur des deutschen Staates im Wesentlichen erhalten bleibt und sich nicht durch Einwanderung grundlegend ändert. (Dietrich Murswiek, Verfassungsschutz und Demokratie, Duncker & Humblot 2020, S. 169). Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, die Wahrung der geschichtlich gewachsenen nationalen Identität bzw. die Verhinderung von „Überfremdung“ seien Ziele, die als solche nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßen. Eine verfassungsfeindliche Haltung wäre allerdings dann erkennbar, wenn Ausländern ihre Menschenrechte abgesprochen und ihre wohlerworbenen Rechte rechtsstaatswidrig aberkannt werden sollten oder wenn ihnen mit rechtsstaatswidrigen Mitteln begegnet werden sollte, wenn sie also ausgegrenzt oder gar vertrieben werden sollten. Das ist kein legitimes Ziel. Wohl aber ist es verfassungskonform, den Umfang der Zuwanderung zu begrenzen und sie auch inhaltlich zu steuern dahingehend, daß auf Kriterien wie Ausbildung und Bekenntnis zu den Grundwerten unserer Verfassung abgestellt wird.

Zum kollekivistischen Menschenbild und exkludierenden ethnischen Volksbegriff:

Die politische Linke in Deutschland wirft konservativen, patriotisch gesinnten Denkern vorr, ein kollektivistisches Menschenbild zu vertreten, in dem der einzelne Mensch in seiner personalen Würde nicht uneingeschränkt Träger der Grundrechte ist, sondern nur als Teil einer sogenannten deutschen Volksgemeinschaft. Dieser wiederum könne nur angehören, wer ethnisch Deutscher sei, die (bloße) Staatsangehörigkeit reiche nicht aus. Man bezieht sich dazu vor allem auf die eingangs zitierte NPD-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17.01.2017. Die Belege für diesen Vorwurf sind konstruiert und finden sich jedenfalls in aussagekräftiger Formulierung nirgends in den Publikationen außerhalb des rechtsextremistischen Spektrums. Auch ist nicht etwa die Bezeichnung „Passdeutscher“ für eingebürgerte Deutsche aus fremden Herkunftsländern diskriminierend in diesem Sinne. Wie dargelegt, ist diese Formulierung ohne weiteres als Kritik am Verhalten gewisser Einwanderer zu verstehen, die sich über ihre formale Staatsbürgerstellung hinaus ganz offensichtlich nicht mit deutschen kulturellen Traditionen und den Lebensgewohnheiten der Aufnahmegesellschaft anfreunden wollen, und auch tragende Verfassungsgrundsätze, wie zum Beispiel die Gleichberechtigung von Mann und Frau, nicht anerkennen wollen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist mehrdeutigen Begriffen im Zweifel zugunsten dessen, der sich so äußert, die Bedeutung zu unterlegen, die nicht rechtswidrig ist.

Im Hinblick auf die leider verbreitete, aber irrige Rechtsauffassung  Art. 116 Abs. 1 GG kenne nur einen einheitlichen Begriff des Staatsvolkes, denn das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland sei identisch mit den deutschen Volk im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG, ist die nachfolgende Klarstellung geboten:

Deutscher im Sinne von Art 116 Abs. 1 GG:

Richtig wird zunächst argumentiert, die Forderung nach dem Erhalt der ethnokulturellen Identität einer Bevölkerungsgruppe bewege sich innerhalb des Rahmens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Mindestens schief jedoch wird es wenn gesagt wird, extremistisch sei eine Bestrebung aber dann, wenn sie sich gegen die Norm richte, daß das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland mit dem deutschen Volk im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG identisch sei – oder anders: wenn die Nichtzugehörigkeit von ethnisch Fremden zum deutschen Volk behauptet und somit für eine Identität von Ethnos und Demos plädiert werde. Das ist falsch. Es findet auch keine Entsprechung in Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes. Das belegt eindrucksvoll die verfassungsrechtliche Literatur.

Ich zitiere aus der Kommentierung von Herdegen zur Präambel in Dürig/Herzog/Scholz, RNr. 51: Schon in der Präambel des Grundgesetzes findet sich der Begriff „deutsches Volk“. Er bezeichnet schlicht das Staatsvolk. Die Präambel verweist damit auf das Volk unter dem Dach einer bestehenden, und dem Grundgesetz vorausliegenden staatlichen Ordnung. Dieses Volk hat in Ausübung seiner verfassungsgebenden Gewalt der Bundesrepublik Deutschland (im übergreifenden Rahmen des Deutschen Reiches) eine neue Grundordnung verliehen. Das deutsche Staatsvolk umfasst die Gesamtheit derjenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nach Art. 116 Abs. 1 GG den Staatsangehörigen gleichgestellt sind (sog. Statusdeutsche). Entscheidendes Merkmal ist grundsätzlich die Staatsangehörigkeit. Zu ethnischen oder kulturellen Kriterien verhält sich der Begriff des „deutschen Volkes“ insoweit indifferent. Nur bei den „Statusdeutschen“ wird bei der Ermittlung „deutscher Volkszugehörigkeit“ nach Art. 116 Abs. 1 GG auf Merkmale einer gemeinsamen Ethnie wie Abstammung, Sprache, Erziehung oder Kultur abgestellt.

Statusdeutsche werden dort in der Kommentierung zu Art. 116 Abs. 1 (Bearbeiter Giegerich) unter Verwendung des Begriffs „Volksdeutsche“ anstelle der gesetzlichen Formulierung „deutscher Volkszugehörigkeit“ als Angehörige zwar der deutschen Kulturnation, aber nicht unbedingt der deutschen Staatsnation definiert. Im gleichen Sinne auch Masing in v. Mangoldt/Klein/Stark, 6. Aufl. zu Art. 116 RNr. 92. Wir verkennen nicht, daß diese Vorschrift ursprünglich nur eine Schutzfunktion für deutsche Minderheiten im Ausland hatte, oder um es mit dem Kommentator in RNr. 29 zu formulieren, die „offene Tür nach Deutschland“ für deutsche Minderheiten im Ostblock zu sein. Dies setzt aber nach der Kommentierung in RNr. 71 voraus, daß die Betreffenden das Bekenntnis zum deutschen Volkstum in der Heimat durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigen. Dies wiederum setzt begrifflich voraus, daß der Begriff des Deutschen im Sinne des Grundgesetzes unter Berücksichtigung ethnosoziologischer und ethnischer Gesichtspunkte bestimmt ist (vergl. Gnatzky in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke, Grundgesetz, 14. Aufl. 2018, RNr. 6 unter Bezugnahme auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom 31.10.1990, amtliche Sammlung BVerfGE 83, 37 ff., 60 ff.).

Der Vorwurf, eine Klassifizierung deutscher Staatsangehöriger in erster und zweiter Klasse vorzunehmen unterstellt, diese Klassifizierung erfolge auf der Grundlage ethnischer Unterscheidung. Das ist falsch, denn diese Klassifizierung macht sich am Verhalten der betreffenden Personen fest, gleichgültig, ob eingebürgerte oder einheimische Deutsche. Soweit ersichtlich, fordern Autoren aus dem konservativ-patriotischen Lager sowohl von den Abstammungsdeutschen wie von den Statusdeutschen das aktive Bekenntnis zu den deutschen Werten, wie sie vor allem im Grundgesetz manifestiert sind, und des Weiteren zu den kulturellen Traditionen des Landes. Und ebenso fordern sie dies von denjenigen ein, die deutsche Staatsbürger werden wollen.

Damit tun sie nichts anderes, als Frankreich von seinen Zuwanderern im Code Civil verlangt. Gemäß Art. 21-4 Code Civil kann die französische Regierung dem Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit durch den ausländischen Ehegatten innerhalb einer Frist von zwei Jahren wegen Unwürdigkeit oder mangelnder Assimilation durch Dekret des Staatsrates widersprechen. So zum Beispiel im Falle der Polygamie oder bestimmter Straftaten. Wenn jedoch Frankreich, gewissermaßen das Mutterland der Menschenrechte, den Erwerb der Staatsbürgerschaft von hinreichender Assimilation abhängig macht, dann sollte klar sein, daß auch Deutschland an seine Einwanderer, die seine Staatsangehörigkeit erwerben wollen, derartige Verhaltensforderungen stellen kann.

Der Schutz der kulturellen Identität der Deutschen durch ihren Staat

Die ethnisch-kulturelle Identität gegen ihre Auflösung durch Einwanderung aus anderen Kulturen zu schützen, wird – wenn es um andere Völker geht – auch von Bundesregierung und Bundestag anerkannt. So hat der Bundestag die Massenansiedlung von Chinesen in Tibet als Zerstörung der tibetischen Identität und Kultur kritisiert (BT Drucks. 13/4445; BT-Prot. 13/10086, 10107). Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt zum Beispiel schützt in ihrem Art. 37 die kulturelle Eigenständigkeit und politische Mitwirkung ethnischer Minderheiten. Also ein Beispiel dafür, daß ein ethnischer Volksbegriff Verfassungsrang hat, der Schutz ethnischer Minderheiten ebenso. Im logisch zwingenden Umkehrschluß gilt dies auch für die ethnische Mehrheit.

Der Begriff des Volkes im Sinne von Ethnos und nicht im Sinne von Demos, also auch im Zusammenhang mit Abstammung und angestammtem Siedlungsgebiet findet sich jedoch auch durchgängig in Publikationen der Bundesregierung. Zu verweisen ist etwa auf die Broschüre des Bundesinnenministeriums: „Deutsche Minderheiten stellen sich vor“. Das Bundesinnenministerium legt in dieser Broschüre durchgängig einen ethnisch-kulturellen Begriff des Volkes, und gerade des deutschen Volkes zu Grunde. Sämtlichen dort vorgestellten deutschen Minderheiten in Staaten wie Belgien oder Usbekistan wird als Unterscheidungsmerkmal von der umgebenden Mehrheitsbevölkerung ihre Abstammung, ihre spezifisch deutsche kulturelle Prägung und ihr angestammtes Siedlungsgebiet zugeschrieben. Die Bundesregierung misst dem Schutz und der Förderung dieser deutschen Minderheiten auch einen entsprechenden Stellenwert bei. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) förderte Deutsche Minderheiten in Europa in den Jahren 2017-2020 mit 91,45 Millionen €; im Jahr 2021 war eine Förderung in Höhe von 25,21 Millionen € vorgesehen. Ziele der Förderung sind die Stärkung der deutschen Gemeinschaften, die Verbesserung der Lebensperspektiven sowie der Erhalt der ethnokulturellen Identität insbesondere durch Sprach- und Jugendförderung (Bundestagsdrucksache 19/32556, S. 22 Nr. 28). Damit kommt sie dem Auftrag nach, den die Vereinten Nationen in ihrer Entschließung vom 18.12.1992 formuliert haben.  Aus dem gleichen Grunde unterstützt sie indigene Völker auf der ganzen Welt beim Kampf um ihre Rechte.

Amtliche Definition des Indigenen

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang beispielhaft auf die vom Auswärtigen Amt herausgegebene Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, Heft 4/2021. Dort findet sich die Definition indigener Völker im Beitrag von Theodor Rathgeber. Es lohnt sich daraus zu zitieren: „Der Begriffsteil >indigen< beansprucht erstens, daß Menschen und Gemeinschaften die aus ihrer Herkunft stammenden (Kultur-)güter nach eigenem Ermessen für ihre Lebensentwürfe verfügbar machen und selbstbestimmt weiterentwickeln wollen. Bei Sprache, Religion oder Musik gilt das für ethnische und religiöse Minderheiten auch…. Zum anderen drückt >indigen< den Anspruch aus, über ein historisch verbürgtes Siedlungsgebiet und dort befindliche Ressourcen ein Eigentumsrecht ausüben zu können… Der Begriff fußt zweitens außerdem, neben anthropologischen und historischen Kriterien, auf dem Merkmal der – plausiblen – Selbstidentifikation…. Das Element der Selbstidentifikation enthält ebenso den Aspekt der offenen Entwicklung. Angehörige indigener Völker reklamieren für sich keine museale, anthropologisch-historisch fixierte Existenz, sondern beanspruchen eine Weiterentwicklung nach eigenem Ermessen…. Drittens enthält der Begriff >indigene Völker< den Anspruch auf die Selbstbestimmung der Völker entsprechend dem Völkerrecht.“

Auf Art. 37 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt („Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung ethnischer Minderheiten stehen unter dem Schutz des Landes und der Kommunen“) soll nochmals hingewiesen werden.

Ethnische Minderheiten und ethnische Mehrheiten haben eins gemeinsam: die ethnische Identität

Wenn indessen ethnische Minderheiten überhaupt als solche in dieser Weise definiert werden, und zwar gleichgültig, ob es sich um deutsche Minderheiten in anderen Ländern, ethnische Minderheiten wie etwa die Sorben oder die Friesen in der Bundesrepublik Deutschland, oder aber ethnische Minderheiten wie indigene Völker handelt, dann folgt daraus zwingend, daß es neben der staatsrechtlichen Kategorie des Staatsvolkes (Demos) eine andere Kategorie von Volk gibt, eben eine Großgruppe, die über Abstammung, Kultur und Siedlungsgebiet definiert wird (Ethnos). Spitz gefragt: vertreten die Vereinten Nationen und die Bundesrepublik Deutschland einen menschenwürdewidrigen ethnischen Volksbegriff?

Die Frage der nationalen Identität gewinnt insbesondere im Zusammenhang mit der Definition nationaler Interessen an Bedeutung.  Jüngst hat sich damit Klaus von Dohnanyi in seinem  Buch „Nationale Interessen – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“ beschäftigt. So nimmt er zustimmend Bezug auf das Buch der Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018, Aleida Assmann „Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen“, indem er den Satz anfügt: „Ja, auch Deutschland braucht eine nationale Identität.“ (S. 22). Nationale Interessen in Europa sind für ihn auch kein Nationalismus. Vielmehr stellt er fest: „Nationale Interessen werden sich zwangsläufig der Internationalisierung und Europäisierung insbesondere dort entgegenstellen, wo der Nationalstaat nur selber die besonderen sozialen Antworten im Interesse der demokratischen Nation finden kann. Denn nur der einzelne Nationalstaat ist angesichts seiner gesellschaftlichen, demokratischen und immer auch besonderen kulturellen Strukturen in der Lage, die demokratische Feinsteuerung der oft schmerzhaften und unbeliebten sozialpolitischen Antworten auf die Folgen der Internationalisierung durchzusetzen. Nur der soziale Nationalstaat hat dafür die demokratische >Legitimation<“. Zum einen steht auch für Klaus von Dohnanyi außer Frage, daß der Nationalstaat, mit dessen legitimen Interessen er sich in diesem Buch beschäftigt, eine nationale Identität nicht nur hat, sondern auch braucht, und daß dies auch für Deutschland gilt. Und zum anderen hat er eben unter anderem besondere kulturelle Strukturen. All das ist jenseits der bloßen staatsrechtlichen Definition als Verband von Bürgern mit gleicher Staatsangehörigkeit.

Die Menschenrechte sind nicht nur Minderheitenrechte

Das ist auch internationales Recht. Art. 1 Abs. 1 der UN-Deklaration über Minderheitenrechte vom 18.12.1992, A/RES/47/135 legt fest: „Die Staaten schützen die Existenz und die nationale oder ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Identität der Minderheiten in ihrem Hoheitsgebiet und begünstigen die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität.“

Wenn es aber sowohl völkerrechtlich als auch verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, daß ethnische Minderheiten einen Anspruch auf Wahrung und Förderung ihrer Identität haben, und dies auch in Deutschland traditionelle staatliche Praxis ist, wie Schutz und Förderung der Rechte alteingesessener ethnischer Minderheiten wie der Dänen, Sorben, Friesen, Sinti und Roma zeigen,dann ist die Förderung von Kultur und Traditionen der ethnischen Mehrheit zweifellos ebenso legitim. Soweit also diese Förderung von Kultur und Traditionen der ethnisch Deutschen eingefordert wird, kann dies nicht als Propagierung eines „völkischen“ Verständnisses der Nation gewertet werden. 

Die relative Homogenität des Volkes hat Verfassungsrang

Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil die relative Homogenität eines Volkes jedenfalls in kultureller Hinsicht als Voraussetzung für demokratische Legitimation bezeichnet. Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Professor Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das Thema so umschrieben:

„Der spezifische Charakter der demokratischen Gleichheit… zielt – über die formelle rechtliche Zugehörigkeit, die die Staatsangehörigkeit vermittelt, hinausweisend – auf ein bestimmtes inhaltliches Substrat, zuweilen substantielle Gleichheit genannt, auf dem die Staatsangehörigkeit aufruht. Hier meint Gleichheit eine vor-rechtliche Gemeinsamkeit. Diese begründet die relative Homogenität, auf deren Grundlage allererst eine auf der strikten Gleichheit der politischen Mitwirkungsrechte aufbauende demokratische Staatsorganisation möglich wird; die Bürger wissen sich in den Grundsatzfragen politischer Ordnung ,gleich‘ und einig, erfahren und erleben Mitbürger nicht als existenziell anders oder fremd und sind – auf dieser Grundlage – zu Kompromissen und loyaler Hinnahme der Mehrheitsentscheidungen bereit“. (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, Handbuch des Staatsrechts II,3. Aufl. 2004, § 24 RNr. 47).

Demgemäß weist der Verfassungsrechtler Rupert Scholz auch auf die Notwendigkeit einer gewissen Identitätswahrung hin: „Sollte die Einwanderung solche Ausmaße annehmen, daß dessen (des Staatsvolkes) Identität sich verändert, dann ist das mit dem Grundgesetz wohl nicht mehr zu vereinbaren.“ (Rupert Scholz „Das schwächt die Verfassung“, Interview mit Moritz Schwarz in Junge Freiheit v. 21.06.2019 S. 3). Martin Wagener („Kulturkampf um das Volk“) zitiert Paul Kirchhof, der seines Erachtens klarstellt, daß es im Rahmen der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes natürlich zur Entfaltung unterschiedlicher Kulturen kommen könne. Kirchhof sieht allerdings auch eine Grenze, die zu beachten die Aufgabe des Staates sei: „Würde das Stichwort der Multikulturalität hingegen als ein Wettbewerb gegenläufiger Kulturen gedeutet, dessen Ergebnis sich der nur beobachtende Staat zu eigen machte, so wäre die Freiheitlichkeit gelegen und missverstanden…. Zu der rechtlich vorgefundenen Wirklichkeit, die der Staat zu achten und auszugestalten hat, gehört das Staatsvolk, die Nation, die den konkreten Verfassungsstaat rechtfertigt, seine Aufgaben und Maßstäbe bestimmt.“ (Paul Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, DVBl 99,642). Wagener leitet daraus ab, daß es im vorrechtlichen Raum nicht nur eine kulturelle Identität gibt, sondern auch einen Ursouverän, der diese kreiert hat. Das deutsche Volk hat sich somit als Kulturnation nach den Einigungskriegen einen eigenen Staat gegeben. (Martin Wagener, Kulturkampf um das Volk, Lau Verlag 2021, S. 114 ff.). Zu Recht zitiert er insoweit aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.07.1973 zum Grundlagenvertrag: „Mit der Errichtung der BRD wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet,sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert. Die BRD ist also nicht ,Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ,Deutsches Reich‘, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ,teilidentisch‘. Das historische deutsche Volk – der Ursouverän – von 1871 ist folglich mit jenem von 1949 kulturell und damit identitär verbunden“ (BVerfGE 36, 1 ff.). Wagener weiter: „Zur Politik des Ursouveräns gehörte – abgesehen von den Jahren1933-1945 – nie die Absicht, das friedliche Zusammenleben mit Menschen anderer Kulturen auszuschließen; deutsche Staatsbürger konnten und können natürlich auch Menschen ohne deutsche Volkszugehörigkeit werden. Nicht vorgesehen waren dagegen eine sich ausbreitende Islamisierung in einem christlich-abendländisch geprägten Land und die Entstehung ganzer Parallelgesellschaften.“

Eine gültige Definition hat seinerzeit Richard von Weizsäcker in einer Rede vom 24. Februar 1972 im Deutschen Bundestag gegeben: „Ich meine, Nation ist ein Inbegriff von gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Kultur, von Bewusstsein und Wille, von Staat und Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit dem gemeinsamen Willen und Bewusstsein hat diesen unseren Nationbegriff das Jahr 1871 geprägt. Von daher – und nur von daher – wissen wir, daß wir uns als Deutsche fühlen. Das ist bisher durch nichts anderes ersetzt.“ (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 172. Sitzung, Bonn 24.02.1972, S. 9838). Auch in jüngerer Zeit haben führende Politiker unseres Landes auf die Problematik hingewiesen, die eine unkontrollierte und administrativ nicht mehr zu steuernde Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen mit sich bringen kann. Helmut Schmidt, dem noch nie jemand auch nur eine Neigung zum Rechtsextremismus vorgeworfen hat, äußerte sich im „FOCUS“ am 01.03.2016 so: „Wir müssen eine weitere Zuwanderung aus fremden Kulturen unterbinden. Die Zuwanderung von Menschen aus dem Osten Anatoliens oder aus Schwarzafrika löst das Problem nicht, sondern schafft nur einzusätzliches dickes Problem.“ Deutschland habe sich in den vergangenen 15 Jahren übernommen, führt er weiter aus und erklärt: „Wir sind nicht in der Lage gewesen, diese Menschen wirklich zu integrieren.“  Auch der heutige bayerische Ministerpräsident Markus Söder äußerte sich am 10.10.2015 in einem Interview mit dieser Zeitschrift besorgt im Hinblick auf die Folgen der massenhaften unkontrollierten Zuwanderung. Auf die Frage: „Wieviele Flüchtlinge halten Sie für verkraftbar? 500.000 pro Jahr, wie Sigmar Gabriel meint?“ antwortete der damalige bayerische Finanzminister: „Im Grunde haben wir die Grenzen der Belastbarkeit schon jetzt überschritten. Wir werden in diesem Jahr 1 Million Flüchtlinge oder mehr aufnehmen müssen. Das bedeutet, daß wir weniger Geburten im Lande haben als Zuwanderung. Die Generation 2015 wird damit als Minderheit im eigenen Land geboren. Dies ist auf die Dauer nicht haltbar. Wenn es uns nicht gelingt, die jetzige Zuwanderung rasch und massiv zu begrenzen, sind wir bald nicht nur finanziell, sondern auch kulturell überfordert.“ Auf die weitere Frage: „Die meisten Zuwanderer derzeit sind Muslime. Was heißt das eigentlich für deren Integration?“ antwortete er: „Integration ist jetzt die größte Herausforderung für unser Land. Alles, was im Moment geschieht, wird sich noch 2020 und 2030 auswirken. Denn wir verändern derzeit die kulturelle Statik des Landes.“ Anders gewendet, die Auseinandersetzung mit Problemen der Zuwanderung nicht nur in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf Kultur und Traditionen ist jedenfalls für sich genommen kein Beleg für eine„völkische“, die Menschenwürde missachtende Einstellung.

Die Verfassung erlaubt zweifelsfrei Auswahlkriterien bei der Zuwanderung  

Die Problematisierung der Zuwanderung schließt es ja nicht aus, daß ethnisch fremde Zuwanderer deutsche Staatsbürger werden, wie dies übrigens ja schon seit Jahrhunderten praktisch gehandhabt worden ist und weiter gehandhabt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat der NPD lediglich bescheinigt, daß sie einen ausschließlich ethnischen Volksbegriff vertritt, der jegliche Aufnahme von ethnisch Fremden in das gewachsene Volk ausschließt. Es hat nicht entschieden, daß ethnisch fremde Zuwanderer grundsätzlich als Staatsbürger aufgenommen werden müssen. Es hat vielmehr festgehalten, daß ethnisch fremde Zuwanderer aufgenommen werden können. Noch viel weniger ist es der Politik verwehrt, die Zuwanderung, aber auch die Aufnahme in die Staatsbürgerschaft an anderen Kriterien als der ethnischen Zugehörigkeit festzumachen. Die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 dahingehend, daß das ius sanguinis (die Abstammung vermittelt die Staatsbürgerschaft) durch ein (modifiziertes) ius soli (der Geburtsort vermittelt die Staatsbürgerschaftersetzt wurde, war ja nicht vom Bundesverfassungsgericht angeordnet worden, sondern beruhte auf einer politischen Entscheidung der Parlamentsmehrheit. Das Grundgesetz selbst ist in dieser Frage neutral. Also kann der Gesetzgeber das Einwanderungsrecht etwa an beruflichen Qualifikationen, der Fähigkeit sich selbst wirtschaftlich zu unterhalten und auch an der straffreien Lebensführung oder auch an den Kapazitäten des Schulwesens, dem vorhandenen und kurzfristig zu schaffenden Wohnraum und ähnlichem mehr ausrichten. Denn all diese Kriterien sind völlig unabhängig von der ethnischen Identität der betroffenen Person. Sie sind vielmehr von jedem Menschen bzw, Staat kraft seines Willens beeinflussbar. Genau diese Fähigkeit ist Bestandteil der Menschenwürde bzw. Daseinszweck des Staates. Zweifellos wäre der Gesetzgeber von Verfassungs wegen auch nicht gehindert, im Staatsangehörigkeitsrecht zum ius sanguinis zurückzukehren. Das Staatsangehörigkeitsrecht vor dem Jahr 2000 war ja unstreitig nicht verfassungswidrig. Politik und Recht sind nun einmal zwei unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, die auch nur teilweise deckungsgleich sind.

Aus dem vorstehenden wird klar, wie die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in RNr. 690 seines Urteils vom 17.01.2017 zu verstehen sind. Das Grundgesetz kennt demgemäß keinen ausschließlich an ethnischen Kategorien gebildeten Begriff des Volkes. Für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk im Rechtssinne und die sich daraus ergebenden staatsbürgerlichen Rechte gilt allein Art. 20 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 116 GG. Die Verfassung kennt eben keinen exklusiven ethnischen Volksbegriff, der es eben von Verfassungs wegen unmöglich machen würde, ethnisch Fremden den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit zu verschließen. Wenn der Gesetzgeber einfachgesetzlich über das Staatsangehörigkeitsrecht die Abstammung oder den Geburtsort maßgeblich sein lässt, dann ist von Verfassungs wegen beides möglich. Nicht möglich indessen ist es, ein Staatsangehörigkeitsrecht wie wir es derzeit haben dadurch gewissermaßen zu modifizieren, daß in rechtlicher Hinsicht zwischen ethnisch und rechtlich Deutschen unterschieden wird. Ebenso unvertretbar ist es, Deutschen mit Migrationshintergrund die Zugehörigkeit zur Nation, und zwar zur ethnischen Nation, allein wegen ihrer Geburt abzusprechen. Wohl aber ist es auch rechtlich zulässig, solche Menschen dann nicht als wirklich „zu uns“ gehörend zu bezeichnen, wenn ihr Verhalten erkennen lässt, daß sie sich selbst nicht unserer Kultur zugehörig fühlen, insbesondere die Grundwerte unserer Verfassung nicht anerkennen wollen, soweit diese mit ihrer eigenen Auffassung von Kultur und Religion nicht deckungsgleich sind. Denn, wie oben dargelegt, es ist legitim, die relative Homogenität des Staatsvolkes erhalten zu wollen (Wolfgang Böckenförde).

Fazit

Der Streit um den „völkischen“ Begriff der Nation ist an und für sich überflüssig und mit Blick auf die Rechtslage auch unverständlich. Der AfD kann man nur empfehlen, aus den zitierten Gerichtsurteilen dahingehend zu lernen, daß man sich vom politischen Pöbel und dem intellektuellen Prekariat, wobei es hier große Schnittmengen gibt, trennen muß. Gerade die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln, die mit einer Unmenge von Zitaten aus Reden und Posts in den sozialen Netzwerken aufwartet, zeigt deutlich, daß das Problem dieser Partei nicht ihr Programm, nicht die Stellungnahmen ihres Vorstandes zu diesem Thema, sondern eben der genannte Pöbel und unverbesserliche Nationalnostalgiker wie Höcke sind. Man muß sich eben der Realität stellen.


Die Deutschland GmbH

Es gibt in Deutschland Leute, die von den tragenden Rechtsgrundlagen unseres Landes merkwürdige Vorstellungen haben. Das reicht von der Vorstellung, die Bundesrepublik Deutschland existiere von Rechts wegen nicht, weil nun einmal das Deutsche Reich bestehe und/oder die Bundesrepublik Deutschland ja gar keine Verfassung, sondern nur ein Grundgesetz habe. Diese Organisation könne daher allenfalls als GmbH oder AG betrachtet werden. Nun finden sich derartige Rechtsauffassungen im juristischen Schrifttum nirgends. Allein das sollte neutralen und verständigen Betrachtern des Zeitgeschehens genügend Anlass geben, die Rechtsauffassung dieser Zeitgenossen mit größter Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen. Etwa so, wie man die von der Schulmedizin weit abweichenden Vorstellungen von sogenannten „Heilern“ ohne irgendwelche medizinische Ausbildung, geschweige denn ein erfolgreich absolviertes Medizinstudium mit Approbation, als merkwürdige Vorstellungen von Außenseitern zur Kenntnis nimmt, denen man selbst wohl kaum zu folgen geneigt ist. Soweit ersichtlich, wird auch kaum jemand physikalische „Erkenntnisse“ von Menschen ohne abgeschlossenes Studium der Physik wirklich ernst nehmen. Indessen scheint generell die Bereitschaft mancher Menschen, auf dem Gebiet des Rechts eigenen Vorstellungen den Vorzug vor den Erkenntnissen der Rechtswissenschaft und den Urteilen der Gerichte zu geben, durchaus nicht ganz ungewöhnlich zu sein. Woran das liegt, ist mir schleierhaft. Vielleicht liegt es auch nur daran, daß Gesetze zwar jedermann lesen kann, was aber noch lange nicht heißt, daß er ihren Sinn auch verstehen kann. Deutsch zu können ist das eine, Jurist zu sein das andere. Im nachfolgenden wollen wir uns also mit einigen der populären Irrtümer auf diesem Gebiet befassen.

Grundgesetz versus Verfassung

Eine verbreitete Vorstellung geht dahin, daß die Bezeichnung unserer Verfassung als Grundgesetz klarstellen soll, daß es sich bei dem Grundgesetz eben nicht um eine Verfassung handele. Diese Leute argumentieren denn auch mit dem Text von Art. 146 des Grundgesetzes, der bis zur Wiedervereinigung lautete: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Nach der Wiedervereinigung ist diesem Satz nach dem Wort „Grundgesetz“ der Halbsatz eingefügt worden „das nach der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt,“. In der Tat ergibt sich aus der Präambel des Grundgesetzes, die nach einhelliger Meinung aller Juristen wie die der anderen auch anderer Verfassungen der Staaten dieser Erde Teil des Verfassungstextes ist, daß dieses Grundgesetz (zunächst) für eine Übergangszeit gelten soll. Diese Übergangszeit sollte nach dem Verfassungsauftrag in Art. 23, 146 auch mit der Wiedervereinigung enden.

Ein weiterer Makel des Grundgesetzes, der die fehlende Verfassungsqualität begründen soll, soll dann der Umstand sein, daß es nicht vom deutschen Volk beschlossen worden ist, auch nicht nach der Wiedervereinigung. Nun heißt es ausdrücklich in der ursprünglichen Präambel bereits, daß sich das deutsche Volk in den dort aufgezählten (alten) Bundesländern kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben hat. Ein rechtsvergleichender Blick in die Verfassungsgeschichte anderer Staaten zeigt, daß auch deren Verfassungen jeweils von verfassunggebenden Versammlungen beschlossen worden sind, die aus den Parlamenten von Gliedstaaten oder einer Parlamentskammer entstanden sind, bzw. von Parlamenten, die sich eben zur verfassungsgebenden Versammlung erklärt haben. Die Vorstellung, eine Verfassung könne nur zustande kommen, indem sie vom gesamten Volk etwa in einer Volksabstimmung angenommen würde, findet jedenfalls in der Verfassungsgeschichte nirgendwo eine Bestätigung

Ein weiteres Argument dafür, daß das Grundgesetz keine Verfassung im eigentliche Sinne sein könne, ist eben die Bezeichnung als Grundgesetz und nicht als Verfassung. Indessen ist die Bezeichnung zweitrangig, entscheidend ist, was dieser Gesetzestext denn nun bewirken soll. Wenn er die Grundlagen der staatlichen Ordnung beschreibt und festlegt, dann kann dieser Text übertitelt sein wie er will. Er ist eben, wie die Juristen sagen: materiellrechtlich, die Verfassung. Das zeigt auch ein Blick in die Verfassungen anderer Länder. Die Verfassung der Niederlande heißt Niederländisch eben „Grondwet“, was eben Grundgesetz bedeutet, ebenso wie die Verfassung Finnlands in der Landessprache „Perstuslaki“ heißt, was wörtlich übersetzt eben auch Grundgesetz heißt.

Deutsches Reich versus Bundesrepublik Deutschland

Wer die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland als Staat der Deutschen in Abrede stellt, beruft sich regelmäßig auf das Argument, das Deutsche Reich sei doch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht untergegangen, sondern existiere mangels Friedensvertrag weiter. Nur dieses deutsche Reich könne doch der legitime Staat der Deutschen sein. Die Bundesrepublik Deutschland hingegen sei ein fragwürdiges Rechtskonstrukt. Eigentlich nur eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft. Um bei letzterem zu beginnen: Gesellschaften des Handelsrechts wie die Aktiengesellschaft und die Gesellschaft mit beschränkter Haftung entstehen durch Eintragung in das Handelsregister. Mir konnte bisher noch kein Vertreter dieser Rechtsauffassung sagen, in welchem Handelsregister nun die Bundesrepublik Deutschland GmbH bzw. AG eingetragen ist.

Aber nun ernsthaft zum Argument, das Fortbestehen des Deutschen Reiches stehe der Existenz einer Bundesrepublik Deutschland entgegen. Das deutsche Reich ist in der Tat 1945 nicht untergegangen, sondern existiert fort. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 31.07.1973 zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 21.12.1972 ausdrücklich festgestellt. Die Bundesrepublik Deutschland ist demnach das Deutsche Reich, allerdings räumlich verkleinert auf ein Teilgebiet des ursprünglichen Staatsgebietes. Daraus folgt auch, daß der Beitritt der DDR im Jahr 1990 auf der Grundlage des damals geltenden Artikels 23 GG am Rechtsstatus Deutschlands nichts geändert hat. Lediglich das Staatsgebiet hat sich vergrößert, indem das Gebiet der DDR, über das die Bundesrepublik Deutschland bis dahin keine Souveränität besaß, dem allein existierenden deutschen Staat beigetreten ist, und auch auf diesem Gebiet das Grundgesetz in Kraft gesetzt worden ist. Damit ist im übrigen auch dieser Artikel des Grundgesetzes in seinem damaligen Wortlaut gegenstandslos geworden. Der Verfassungsesetzgeber – die beiden Kammern unseres Parlaments Bundestag und Bundesrat mit verfassungsändernder Mehrheit – hat den Text dieses Artikels dann ersetzt durch den Verfassungsauftrag, die europäische Einigung zu fördern.

Auch wenn das für Menschen ohne juristisches Studium schwer verständlich ist: Namen sind Schall und Rauch. Das Völkerrechtssubjekt, welches bis 1949 „Deutsches Reich“ geheißen hat und seit dem 23.05.1949 „Bundesrepublik Deutschland“ heißt, besteht eben unverändert fort, heißt eben anders. Das ist in der Rechtsordnung auch nichts ungewöhnliches. Wenn Maria Müller die Eheschließung mit Franz Meyer zum Anlass nimmt, ihren Geburtsnamen Müller abzulegen und künftig den Ehenamen Meyer zu führen, dann ist eben die frühere Maria Müller und heutige Maria Meyer ganz zweifellos dieselbe Person. Sie heißt nur anders. Warum das bei einem Rechtsakt, in welchem ein Staat seinen Namen geändert hat, anders sein soll, erschließt sich nicht. Das ist auch nichts ungewöhnliches. Bisweilen ändern Staaten sogar ihren Namen nicht nur hinsichtlich der Beschreibung „Reich“ oder „Republik“, sondern überhaupt. So wurde bekanntlich aus „Ceylon“ „Sri Lanka“ und aus „Burma“ „Myanmar“, ohne daß irgendjemand anzweifeln würde, daß es sich dabei jeweils um das selbe Völkerrechtssubjekt wie zuvor handelt.

Daraus folgt im übrigen auch, daß alle völkerrechtlichen Verträge, welche die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat, in der rechtlichen Kontinuität sämtlicher seit 1871 vom deutschen Staat geschlossenen Verträge stehen. Somit sind zum Beispiel die Regelungen im sogenannten 2 + 4 Vertrag völkerrechtlich bindend, auch was zum Beispiel die endgültige Anerkennung der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen angeht. Zwar ist Polen nicht Vertragspartner, doch gilt insoweit der allgemeine Rechtsgrundsatz des Vertrages zugunsten eines Dritten. Die Bundesrepublik Deutschland und die ehemaligen Siegermächte USA, Russland, Großbritannien und Frankreich haben die in diesem Vertrag enthaltenen Grenzregelungen auch mit Wirkung zugunsten dritter Staaten, in Sonderheit Polens, geschlossen. Das Rechtsinstitut des Vertrages zugunsten Dritter ist auch sonst in der Rechtsordnung zu finden. So wird niemand bezweifeln, daß der Vertrag zwischen meiner Bank und mir, in welchem ich zugunsten meines Enkelkindes ein Sparkonto eröffne, meinem Enkelkind Rechte gegen diese Bank einräumt. Zur Klarstellung muß weiter angefügt werden, daß die Bezeichnung dieses Vertrages nichts daran ändert, daß er materiell-rechtlich die Folgen des Zweiten Weltkrieges endgültig festgelegt. Ob ein solches Vertragswerk nun mit dem Terminus „Friedensvertrag“ übertitelt ist oder nicht, spielt für seine Rechtswirksamkeit keine Rolle. Entscheidend ist bei Verträgen wie auch Gesetzen stets der Regelungsgehalt, nicht die Überschrift. Auch das ist für Juristen eine Binsenweisheit, für juristische Laien indessen wohl Arkanwissen der Juristen und damit so eine Art Hexenwerk.

Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsverfassung

Ein besonders apartes Argument gegen die Geltung des Grundgesetzes für das gesamte Staatsgebiet des ehemals „Deutsches Reich“ genannten Deutschland ist auch der Hinweis darauf, die nunmehr zu Polen bzw. Russland gehörenden Gebiete seien in dem Grundgesetz ja gar nicht namentlich genannt. Eine richtige Verfassung indessen beschreibe doch das Staatsgebiet, in welchem sie Geltung hat. Auch das ist falsch. Es ist keineswegs Vorbedingung einer gültigen Verfassung, daß das jeweilige Staatsgebiet in ihr exakt beschrieben wird. Unser Grundgesetz spricht vom deutschen Volk als dem Verfassungsgeber, in seiner Präambel werden sowohl in seiner Urfassung als auch heute die Bundesländer genannt, in denen dieses deutsche Volk lebt, das sich diese Verfassung gegeben hat. Das ist international nicht zwingend so. In der spanischen Verfassung heißt es eingangs: „Das spanische Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, ist Träger der nationalen Souveränität.“ Die Verfassung der französischen Republik spricht in ihrer Präambel vom französischen Volk und in Art. 1 legt sie fest, daß die Republik und die Völker der überseeischen Gebiete, die in freier Entscheidung diese Verfassung annehmen, sich diese Verfassung geben. Maßgeblich ist das jeweilige Volk als Souverän, der sich seine Verfassung als Rechtsgrundlage des Zusammenlebens gibt. Die Staatsgrenzen können variieren. Das Volk ist auch grundsätzlich vor der Verfassung da. Ein Volk gibt sich eben beizeiten einen Rechtsrahmen, auf welchem Wege auch immer, letztendlich aber die Rechtsgrundlage des geordneten Zusammenlebens. Das gilt auch für solche Völker und Staaten, die keine geschriebene Verfassung haben. Daß auch diese Staaten über eine „Verfasstheit“ verfügen, also eine grundlegende Rechtsordnung, steht außer Zweifel. Das beste Beispiel dafür ist England, dessen Verfassung niemals kodifiziert wurde, sondern ausschließlich in geschriebenen und ungeschriebenen Rechtstraditionen besteht.

Fazit

Deutschland existiert. Es hat sogar eine Verfassung. Im Handelsregister steht es nicht. Da gehört es auch nicht hin.

Ein Wort noch zum Verfassungsschutz:

Deutschland leistet sich, wie im übrigen wohl nur Österreich – beide Länder aus dem gleichen Grund, nämlich dem tiefgehenden Mißtrauen der Amerikaner bezüglich der demokratischen Gesinnung der Deutschen und Österreicher – einen Inlandsgeheimdienst namens Verfassungsschutz. Er soll darüber wachen, daß die verfassungsmäßige Ordnung nicht von innen unterminiert und zum Einsturz gebracht wird. Andere gefestigte Demokratien weltweit benötigen derartiges nicht. Zu der Ressourcenverschwendung, welche aus der Vorhaltung eines solchen gewaltigen Beamtenapparates mit Parallelstrukturen im Bund und 16 Bundesländern gehören, zählen auch die Abteilungen, welche sich mit den sogenannten Reichsbürgern befassen, also den Leuten, die solch krude Theorien vertreten, wie oben dargelegt. Das seien ja nun Bestrebungen zur Beseitigung unserer Verfassung, und die müsse man nun pflichtgemäß beobachten und dies in den jeweiligen viele 100 Seiten starken Verfassungsschutzberichten ausführlich beschreiben, damit die Bevölkerung ausreichend gewarnt werde. Abgesehen davon, daß die Zahl der Leser dieser amtlichen Werke außerhalb der professionellen Kreise in Politik, Verwaltung und Medien sehr überschaubar sein dürfte: der Nutzen dieses Tuns scheint mir ebenfalls sehr überschaubar zu sein. Der Aufwand indessen für den Steuerzahler leider nicht. Da sollte man doch mit der gleichen Gelassenheit an diese Dinge herangehen, mit der das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten NPD II Entscheidung vom 17.01.2017 zwar zutreffend festgestellt hat, daß diese Partei verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, indessen von einem Verbot abgesehen hat, weil die politische Bedeutung dieser Partei allenfalls als marginal bezeichnet werden könne, mit anderen Worten, von diesem Häuflein Verirrter keine Gefahr für den Bestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes ausgehen könne. Gleiches gilt wohl vermehrt für die sogenannte Reichsbürger-Szene, die ja nicht einmal organisiert ist, und deren Anhängerschaft sich in der Größenordnung der homöopathischen Dosis bewegt.



Fakten und Masken

Corona und kein Ende

Den nachfolgenden Leserbrief habe ich heute an die Nürnberger Tageszeitung NZ geschickt. Ich gehe davon aus, daß er nicht abgedruckt werden wird. Denn die Verbreitung der darin genannten Fakten läuft der amtlichen Panikmache zuwider. Mainstream-Medien sehen sich ja bekanntlich als Hilfsorgane der Politik. Sie spielen deswegen auch unisono im Panikorchester des Herrn Lauterbach mit.  

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Deutsche Bundestag hat nun beschlossen, ab dem 01.10.2022 die Freiheiten der Bürger weiterhin einzuschränken, weil die Bekämpfung der Pandemie dies erfordere. Insbesondere die Maskenpflicht in Bussen und Bahnen soll bestehen bleiben. Zweifellos handelt es sich auch dabei um eine Grundrechtseinschränkung. Sie ist also nur rechtens, wenn die Maßnahme zur Gefahrenabwehr geeignet, erforderlich und auch verhältnismäßig ist. Hilfreich ist dazu die Kenntnis der Zahlen. In der NZ wird ja nun regelmäßig die Entwicklung der Inzidenzen sowie der hospitalisierten Fälle und der Corona-Patienten auf den Intensivstationen angegeben. Allerdings kann man damit nicht sehr viel anfangen, denn es fehlt die notwendige Bezugszahl, nämlich die Zahl der Einwohner der aufgeführten Landkreise und kreisfreien Städte. Das sind nach der amtlichen bayerischen Statistik am 31.12.2021 insgesamt 2.895.974 Menschen. Hospitalisierte Fälle in den letzten sieben Tagen werden in der NZ vom 10.09.2022 mit 597 Patienten angegeben, das sind 0,0206 %, Corona-Patienten auf Intensivstationen werden mit 115 angegeben,das sind 0,0039 % der Einwohner. Diese Zahlen müssten genau genommen halbiert werden, denn sie unterscheiden nicht nach Patienten, die wegen Corona in klinischer Behandlung sind und solchen, die wegen anderer Krankheiten, aber mit Corona-Infektion in Behandlung sind. Das sind nach der Mitteilung des baden-württembergischen Gesundheitsministers zum Stichtag 06.07.2022 jeweils etwa die Hälfte, wegen Corona in Behandlung genau 47,5 % in diesem Bundesland. Das RKI erhebt diese Zahlen nicht. Demnach sind im Verbreitungsgebiet der NZ also wohl nur 0,0019% der Einwohner wegen Corona in intensivmedizinischer Behandlung. Im Übrigen stirbt seit Wochen im Verbreitungsgebiet der NZ niemand mehr an Corona. Die Wirksamkeit etwa der Maskenpflicht lässt sich auch daran ablesen, wie die Inzidenzzahlen am Stichtag 07.09.2022 in Deutschland einerseits (217), und in den europäischen Nachbarländern andererseits waren. In Kürze: Schweiz 177, Frankreich 174, Tschechien 103, Belgien 91, Dänemark 86, Polen 55, Schweden 46,8, Niederlande 45 und Großbritannien 43,5. Alles Länder,in denen es seit langem eine Maskenpflicht nicht mehr gibt. Hört man dann selbst von Herrn Lauterbach, daß der Sinn der Maskenpflicht unter anderem darin liegt, allgemein zu signalisieren, man müsse vorsichtig sein, dann beantwortet sich die Rechtsfrage nach Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs von selbst. Gut, daß man sein Auto hat!

Mit freundlichen Grüßen

Schaun‘ mer mal, sprach seinerzeit Franz Beckenbauer. Meine Leser jedenfalls wissen Bescheid.

Staatsvolk und Nation – eine Klarstellung

Die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Köln und Magdeburg in Sachen AfD haben erneut die Debatte angeheizt, ob rechte Parteien und deren Umfeld einen sogenannten völkischen Begriff der Staatsbürgerschaft vertreten, der die Menschenwürde von Migranten missachtet. Dabei werden die Begriffe Staatsvolk und Volk nahezu beliebig durcheinandergewürfelt. Es ist daher erforderlich, die Begriffe klar zu definieren, damit man auch zu einer klaren rechtlichen Einordnung kommt.

Das Staatsvolk im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG

Für juristisch verfehlt halte ich die Behauptung, wonach die kategorische Differenzierung zwischen einem (ethnisch-kulturell zu definierenden) „deutschen Volk“ und dem Staatsvolk, dem eine Person qua Staatsangehörigkeit zugehörig ist, auch deshalb nicht verfassungskonform sei, weil das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland identisch mit dem deutschen Volk im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG sei. Dem steht der Wortlaut des zitierten Verfassungsartikels entgegen, denn Staatsvolk im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG sind nicht nur die deutschen Staatsbürger, sondern ausdrücklich auch andere Menschen deutscher Volkszugehörigkeit. Schon zu Zeiten der frühen Bundesrepublik war das offenbar Konsens im Verfassungsrecht. So heißt es in einem Standardkommentar zum Grundgesetz aus den sechziger/siebziger Jahren, den ich mir aus meiner Referendarzeit aufbewahrt habe: „Art. 116 Abs. 1 GG bestimmt den Begriff >Deutscher< im Sinne des Grundgesetzes unter Berücksichtigung ethnosoziologischer und ethnischer Gesichtspunkte …Dabei wird neben die Gruppe der deutschen Staatsangehörigen eine weitere Gruppe von Personen deutscher Volkszugehörigkeit gestellt.“ Daraus folgt denknotwendig, daß es einen rechtlichen, ja verfassungsrechtlichen Unterschied zwischen der Staatsangehörigkeit und der Volkszugehörigkeit geben muß.

Die deutsche Minderheitenpolitik

Anders wäre ja auch die offizielle Politik in Bezug auf deutsche und andere ethnische Minderheiten nicht möglich. Die deutsche Staatsangehörigkeit wurde bis zum Jahre 2000 allein durch Abkunft von Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit oder durch Einbürgerung erworben. Seit dem 01.01.2000 gilt das auch für Kinder von Eltern ausländischer Staatsangehörigkeit, wenn wenigstens ein Elternteil seit mindestens 8 Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Mit anderen Worten: das bis dahin allein geltende ius sanguinis wird durch ein eingeschränktes ius soli ergänzt. Die Definition des Staatsvolkes als – im wesentlichen – Abstammungsgemeinschaft bis zum Jahre 2000 kann natürlich nicht gegen die Menschenwürde des Teils der Bevölkerung verstoßen haben, der eben nicht deutscher Abstammung war, gleichwohl aber eingebürgert wurde. Die seinerzeitige Rechtslage war also verfassungskonform, und das gut 50 Jahre lang. Es liegt außerhalb meines Vorstellungsvermögens, daß etwa eine Rückkehr zu dem vor dem 01.01.2000 geltenden Staatsangehörigkeitsrecht gegen die Verfassung verstoßen könnte. Denn auch dieses Staatsangehörigkeitsrecht schloß Bewerber anderer Volkszugehörigkeit nicht aus, sondern ermöglichte ausdrücklich auch deren Einbürgerung. Die weit verbreitete Auffassung, von Verfassungs wegen werde das deutsche Volk ausschließlich über die deutsche Staatsangehörigkeit definiert, was insbesondere von den Verfassungsschutzbehörden zum Dogma erhoben wird, ist also evident falsch, ungeachtet dessen, daß Artikel Abs. 1 Abs. 1 GG die prinzipielle Gleichheit aller Menschen postuliert, ohne Rücksicht auf alle tatsächlich bestehenden Unterschiede. Denn damit ist über das Thema Staatsangehörigkeit/Volkszugehörigkeit nichts gesagt.

Die Kategorien Recht und Gesellschaft

Die Diskussion um die Begriffe Staatsvolk (Demos) und Volk (Ethnos) ist an und für sich überflüssig. Staatsvolk ist ein allein verfassungs- und einfachgesetzlicher Begriff. Das Bundesverfassungsgericht befasst sich in der NPD-Entscheidung von 2017 deswegen auch ausschließlich mit dem Begriff des Staatsvolkes. Das Grundgesetz regelt als Gesetz im materiellen Sinn auch nur rechtliche Sachverhalte. Der Begriff des Volkes indessen ist ein rein soziologischer Begriff und entzieht sich daher der rechtlichen Beurteilung. Es ist daher ein Kategoriefehler, bei der Prüfung, ob jemand verfassungsfeindlich agiert oder nicht, über den Begriff des Volkes losgelöst vom rechtlichen Begriff des Staatsvolkes überhaupt zu sprechen.

Die Bundesregierung kennt den ethnischen Volksbegriff durchaus

Der Begriff des Volkes im Sinne von Ethnos und nicht im Sinne von Demos, also auch im Zusammenhang mit Abstammung und angestammten Siedlungsgebiet findet sich jedoch auch durchgängig in Publikationen der Bundesregierung. So zum Beispiel in der Broschüre des Bundesinnenministeriums: „Deutsche Minderheiten stellen sich vor“. Das Bundesinnenministerium legt in dieser Broschüre durchgängig einen ethnisch-kulturellen Begriff des Volkes, und gerade des deutschen Volkes zu Grunde. Sämtlichen dort vorgestellten deutschen Minderheiten in Staaten wie Belgien oder Usbekistan und vielen anderen wird als Unterscheidungsmerkmal von der umgebenden Mehrheitsbevölkerung ihre Abstammung, ihre spezifisch deutsche kulturelle Prägung und ihr angestammtes Siedlungsgebiet zugeschrieben. Die Bundesregierung misst dem Schutz und der Förderung dieser deutschen Minderheiten auch einen entsprechenden Stellenwert bei. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) förderte Deutsche Minderheiten in Europa in den Jahren 2017-2020 mit 91,45 Millionen €; im Jahr 2021 war eine Förderung in Höhe von 25,21 Millionen € vorgesehen. Ziele der Förderung sind die Stärkung der deutschen Gemeinschaften, die Verbesserung der Lebensperspektiven sowie der Erhalt der ethnokulturellen Identität durch insbesondere Sprach- und Jugendförderung (Bundestagsdrucksache 19/32556, S. 22 Nr. 28). Damit kommt sie dem Auftrag nach, den die Vereinten Nationen in ihrer Entschließung vom 18.12.1992 formuliert haben. Art. 1 Abs. 1 der UN-Deklaration über Minderheitenrechte vom 18.12.1992, A/RES/47/135 legt fest: „Die Staaten schützen die Existenz und die nationale oder ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Identität der Minderheiten in ihrem Hoheitsgebiet und begünstigen die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität.“

Indigene Völker

Aus dem gleichen Grunde unterstützt sie indigene Völker auf der ganzen Welt beim Kampf um ihre Rechte. Ich verweise in diesem Zusammenhang beispielhaft auf die vom Auswärtigen Amt herausgegebene Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, Heft 4/2021. Dort findet sich die Definition indigener Völker in einem Beitrag von Theodor Rathgeber. Es lohnt sich daraus zu zitieren: „Der Begriffsteil >indigen< beansprucht erstens, daß Menschen und Gemeinschaften die aus ihrer Herkunft stammenden (Kultur-)güter nach eigenem Ermessen für ihre Lebensentwürfe verfügbar machen und selbstbestimmt weiterentwickeln wollen. Bei Sprache, Religion oder Musik gilt das für ethnische und religiöse Minderheiten auch…. Zum anderen drückt >indigen< den Anspruch aus, über ein historisch verbürgtes Siedlungsgebiet und dort befindliche Ressourcen ein Eigentumsrecht ausüben zu können… Der Begriff fußt zweitens außerdem, neben anthropologischen und historischen Kriterien, auf dem Merkmal der – plausiblen – Selbstidentifikation…. Das Element der Selbstidentifikation enthält ebenso den Aspekt der offenen Entwicklung. Angehörige indigener Völker reklamieren für sich keine museale, anthropologisch-historisch fixierte Existenz, sondern beanspruchen eine Weiterentwicklung nach eigenem Ermessen…. Drittens enthält der Begriff >indigene Völker< den Anspruch auf die Selbstbestimmung der Völker entsprechend dem Völkerrecht.“

Der Schutz ethnischer Minderheiten in den Verfassungen der Bundesländer

Die Verfassungen der Bundesländer enthalten auch zum Teil Regelungen zum Schutze ethnischer Minderheiten. So lautet Art. 5 der Verfassung des Freistaates Sachsen: „Das Land erkennt das Recht auf Heimat an. Das Land gewährleistet und schützt das Recht nationaler und ethnischer Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege ihrer Sprache, Religion, Kultur und Überlieferung.“  Damit wird das Volk der Sorben davor geschützt, von der übergroßen Mehrheit der indigenen Deutschen zwangsassimiliert zu werden und so seine nationale Identität zu verlieren. Vor allem aber wird klar gesagt, daß es neben der deutschen Staatsbürgerschaft eine ethnische Identität gibt, in diesem Falle die sorbische. Staatsbürgerschaft und Volkszugehörigkeit fallen auseinander. Denknotwendig ist das also auch bei deutscher Volkszugehörigkeit so. Etwas polemisch formuliert: Ein deutscher Sorbe hat neben der deutschen Staatsbürgerschaft eine sorbische Identität, ein deutscher Deutscher hat neben der deutschen Staatsbürgerschaft jedoch keine deutsche Identität? Der klassische Fall des argumentum ad absurdum.

Auf Art. 37 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt („Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung ethnischer Minderheiten stehen unter dem Schutz des Landes und der Kommunen“) ist ebenso hinzuweisen.

Es liegt nahe, daß die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein einschlägige Bestimmungen enthält. Denn in diesem Bundesland  leben gleich drei nationale Minderheiten, nämlich die Dänen, die Nordfriesen sowie die Sinti und Roma. Somit bestimmt die Landesverfassung:

 Art. 6  Nationale Minderheiten und Volksgruppen

(1)  Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten

(2)  Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der  Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.  

Bekanntlich zeichnet sich gerade die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein durch eine intensive Pflege ihres Nationalcharakters aus. Sie hat sogar das Privileg, daß die politische Partei, die ihre Interessen vertritt, der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), bei Wahlen nicht an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern kann, weil sie für diese Partei nicht gilt.

 Art. 2 Abs. 3 der Verfassung des Freistaates Thüringen enthält ebenfalls eine solche Schutzklausel, die allerdings neben ethnischen Minderheiten auch alle denkbaren anderen Aspekte berücksichtigt: „Niemand darf wegen seiner Herkunft, seiner Abstammung, seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner sozialen Stellung, seiner Sprache, seiner politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugung, seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung bevorzugt oder benachteiligt werden.“ Also eben auch ausdrücklich die ethnische Zugehörigkeit als kollektives Identitätsmerkmal jenseits der Staatsangehörigkeit.  

Wenn indessen ethnische Minderheiten überhaupt als solche in dieser Weise definiert werden, und zwar gleichgültig, ob es sich um deutsche Minderheiten in anderen Ländern, ethnische Minderheiten wie etwa die Sorben oder die Friesen in der Bundesrepublik Deutschland, oder aber ethnische Minderheiten wie indigene Völker handelt, dann folgt daraus zwingend, daß es neben der staatsrechtlichen Kategorie des Staatsvolkes eine andere Kategorie von Volk gibt, eben eine Großgruppe, die über Abstammung, Kultur und Siedlungsgebiet definiert wird. Spitz gefragt: vertreten die Vereinten Nationen und die Bundesrepublik Deutschland einen menschenwürdewidrigen ethnischen Volksbegriff?

Nationale Interessen

Die Frage der nationalen Identität gewinnt insbesondere im Zusammenhang mit der Definition nationaler Interessen an Bedeutung. Jüngst hat sich damit Klaus von Dohnanyi in seinem Buch „Nationale Interessen – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“ beschäftigt. So nimmt er zustimmend Bezug auf das Buch der Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018, Aleida Assmann „Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen“, indem er den Satz anfügt: „Ja, auch Deutschland braucht eine nationale Identität.“ (S. 22). Nationale Interessen in Europa sind für ihn auch kein Nationalismus. Vielmehr stellt er fest: „Nationale Interessen werden sich zwangsläufig der Internationalisierung und Europäisierung insbesondere dort entgegenstellen, wo der Nationalstaat nur selber die besonderen sozialen Antworten im Interesse der demokratischen Nation finden kann. Denn nur der einzelne Nationalstaat ist angesichts seiner gesellschaftlichen, demokratischen und immer auch besonderen kulturellen Strukturen in der Lage, die demokratische Feinsteuerung der oft schmerzhaften und unbeliebten sozialpolitischen Antworten auf die Folgen der Internationalisierung durchzusetzen. Nur der soziale Nationalstaat hat dafür die demokratische >Legitimation<“. Zum einen steht auch für Klaus von Dohnanyi außer Frage, daß der Nationalstaat, mit dessen legitimen Interessen er sich in diesem Buch beschäftigt, eine nationale Identität nicht nur hat, sondern auch braucht, und daß dies auch für Deutschland gilt. Und zum anderen hat dieser Nationalstaat eben auch besondere kulturelle Strukturen. All das ist jenseits der bloßen staatsrechtlichen Definition als Verband von Bürgern mit gleicher Staatsangehörigkeit.

Die Nation existiert unabhängig von der Staatlichkeit

Es ist eine Binsenweisheit, daß man durch Abstammung eben in ein Volk hineingeboren wird, und damit, ohne dies kraft eigenen Willens beeinflussen zu können, auch seine Geschichte gewissermaßen erbt, ihre Folgen, wie etwa die Vertreibung der Eltern aus ihrer Heimat, verbunden mit dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz, auch ganz konkret erlebt. Die Definition der Nation als Schicksalsgemeinschaft ist daher althergebracht. Das war jedenfalls für deutsche Politiker früherer Jahre nicht zweifelhaft. So erklärte Willy Brandt im Juni 1966: „Kein Volk kann auf die Dauer leben, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, ohne in Stunden der inneren und äußeren Anfechtung zu stolpern, wenn es nicht ja sagen kann zum Vaterland. Wir Deutschen dürfen nicht die Geschichte vergessen. Aber wir können auch nicht ständig mit Schuldbekenntnissen herumlaufen, die junge Generation noch viel weniger als die ältere. Auch wenn der Nationalstaat als Organisationsform gewiss nicht das letzte Ziel politischer Ordnung bleibt, die Nation bleibt eine primäre Schicksalsgemeinschaft.“ In einer Rede vom 24.02.1972 wies Richard von Weizsäcker darauf hin, daß es einen spezifischen Nationalcharakter gebe, der das Deutschtum ausmache: „Ich meine, Nation ist ein Inbegriff von gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Kultur, von Bewusstsein und Wille, von Staat und Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit dem gemeinsamen Willen und Bewusstsein hat diesen unseren Nationbegriff das Jahr 1871 geprägt. Von daher – und nur von daher – wissen wir, daß wir uns als Deutsche fühlen. Das ist bisher durch nichts anderes ersetzt.“ Noch am 23.06.1983 konnte Helmut Kohl im Bericht zur Lage der Nation vor dem Deutschen Bundestag erklären: „Es gibt zwei Staaten in Deutschland, aber es gibt nur eine deutsche Nation. Ihre Existenz steht nicht in der Verfügung von Regierungen und Mehrheitsentscheidungen. Sie ist geschichtlich gewachsen, ein Teil der christlichen, der europäischen Kultur, geprägt durch ihre Lage in der Mitte des Kontinents. Die deutsche Nation war vor dem Nationalstaat da, und sie hat ihn auch überdauert; das ist für unsere Zukunft wichtig.“ Die Diffamierung dieses Volksbegriffs als menschenwürdewidrig denunziert gleichzeitig Willy Brandt, Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl als rechtsextreme Verfassungsfeinde. Die Unhaltbarkeit eines allein an der Staatsbürgerschaft festgemachten Volksbegriffs sollte damit offensichtlich sein.

Schicksalsgemeinschaft bedeutet eben nicht völkischer Kollektivismus

Die Betonung der Gemeinschaftsbelange im Gegensatz nicht zu den Rechten des Individuums, sondern zu individualistischen Ideologien ist Grundlage aller sozialstaatlichen Politik. In-dividualistische Ideologien indessen pervertieren die Freiheitsrechte des Individuums ebenso wie nationalistische Ideologien das Existenzrecht der Nationen. Wenn man jedoch  dem Begriff von der Nation als Schicksalsgemeinschaft eine Vorstellung unterschiebt, wonach die Interessen des Einzelnen nachrangig seien und diese pauschale Überbewertung der Interessen des Volkes zu einer Aushöhlung der Grundrechte führe, dann steht der so erkannte völkische Kollektivismus im Widerspruch zu dem im Grundgesetz formulierten Menschenbild, das die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Würde des Menschen ins Zentrum rückt. Die aus der seit Jahrzehnten gebräuchlichen Formulierung von der Nation als Schicksalsgemeinschaft abgeleitete angebliche kollektivistische Weltanschauung im Zusammenhang mit Staat und Nation wird dann sprachlich in die lingua tertii imperii, wie das Victor Klemperer so schön formuliert hat, überführt. 

Es ist verfassungskonform, den Erhalt der ethnokulturellen Identität anzustreben

Die Bewahrung des Eigenen, wie man die Bemühungen um den Erhalt der ethnokulturellen Identität auch nennt, kann nicht gegen die Menschenwürde der Angehörigen anderer Völker verstoßen. Denn diese Bestrebungen schließen eben nicht kategorisch aus, daß solchen Menschen die Zugehörigkeit zur eigenen Ethnie zugesprochen wird. Soweit dafür vorausgesetzt wird, daß diese Menschen sich der kulturellen Identität des aufnehmenden Volkes anschließen, kann auch dies nicht gegen die Menschenwürde verstoßen. Das Land, dem wir die Erklärung der Menschenrechte von 1789 verdanken, verlangt eben dies. Art. 21 – 24 des Code Civil qualifiziert die Assimilation des Einzelnen an die französische Gesellschaft als Voraussetzung für die Einbürgerung. Wann genau jedoch ein Mangel an Assimilation in diesem Sinne vorliegt bzw. was Assimilation voraussetzt, stellt das Gesetz nicht in jedem Falle klar. Nicht gemeint ist eine kulturelle Assimilation im Sinne einer erzwungenen „Französierung“ von Ausländern. Zwar verlangt das Gesetz eindeutig die Beherrschung der französischen Sprache in hinreichendem Maße. Ferner die Akzeptanz der französischen Sitten und Gebräuche. So stellt etwa die Polygamie des Ausländers einen Assimilationsmangel dar. Insbesondere die Befolgung der grundlegenden Werte und Prinzipien der französischen Gesellschaft wird verlangt. Das wird dann jeweils im Einzelfall geprüft. So hat in einem Falle die französische Regierung der Ehefrau eines französischen Staatsbürgers die französische Staatsangehörigkeit nicht verliehen, weil sie eine Burka trug. Dabei handelt es sich nach Auffassung der französischen Regierung um eine radikale Form der Ausübung ihrer Religion, die nicht mit den französischen Grundprinzipien, insbesondere der Gleichberechtigung von Mann und Frau, zu vereinbaren ist. Der französische Staatsgerichtshof hat das bestätigt.

Was Minderheiten recht ist, muß der Mehrheit billig sein

Es wäre auch mit den Gesetzen der Logik nicht zu vereinbaren, wenn Deutschland ganz hochoffiziell deutschen Minderheiten in anderen Ländern mit teilweise beträchtlichen Finanzmitteln dabei hilft, ihre ethnokulturelle Identität zu bewahren, indigene Völker rund um den Erdball bei diesen Bemühungen unterstützt, und auch den nationalen Minderheiten im eigenen Lande weitgehende Rechte gewährt, auf der anderen Seite der Mehrheitsethnie der Deutschen von der Abstammung her indessen genau dies verwehrte, ja  sie deswegen geradezu als Verletzer der Menschenwürde schelten wollte. Denn gemäß Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes sind ja nun einmal alle Menschen gleich zu behandeln, was selbstverständlich auch für alle Gruppen von Menschen gilt. Es kann der Mehrheit deswegen nicht verwehrt werden, was der Minderheit gewährt wird.

Der deutsche Mainstream entfernt sich von Volk und Verfassung

Es ist nicht zu übersehen, daß die Grundströmung in Deutschland, jedenfalls innerhalb der politischen Klasse, zu der die Medien als deren Propagandaabteilung gehören, dies völlig anders sieht und die Nation schon als Entität verneinen möchte. Neben dem von Rechts wegen existierenden Staatsvolk darf es nach Auffassung dieser Leute nicht noch ein ethnokulturell definiertes Volk geben. Das stünde der One-World-Ideologie entgegen, der sich die meisten dieser Leute als Jünger von Propagandisten wie Klaus Schwab und George Soros verschrieben haben. Nicht anders kann erklärt werden, daß die Verfassungsschutzbehörden, die ja schließlich den Willen der regierenden Politiker auszuführen haben, Parteien und Vereinigungen als verfassungsfeindlich oder zumindest im Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit stehend registrieren, die diesen Volksbegriff neben dem des Staatsvolkes propagieren und sich für die Erhaltung der ethnokulturellen Grundlagen des deutschen Volkes einsetzen. Indessen sind diese administrativen Bestrebungen bei Lichte besehen mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Bei genauerem Hinsehen findet man auch, daß etwa im Urteil des Verwaltungsgerichts Köln zur Beobachtung der AfD als Verdachtsfall vom Gericht Sachverhalte herangezogen werden, die kaum anders interpretiert werden können, als daß jedenfalls maßgebliche Funktionäre dieser Partei eingebürgerte Zuwanderer nicht als Teil des deutschen Volkes ansehen. Dabei vermengt das Gericht zwar die Begriffe Volk und Staatsvolk, stellt aber mindestens überzogene Vorstellungen von einer Gleichsetzung von Volkszugehörigkeit und Staatsangehörigkeit fest. Etwa in programmatischen Äußerungen der Jugendorganisation JA. Dort heißt es unter anderem: „Die Migrationspolitik, die wir fordern, setzt an die erste Stelle den kulturellen und ethnischen Erhalt des deutschen Volkes.“ Das riecht dann schon etwas nach Staatsbürgern zweiter Klasse. Hinzu kommen natürlich Äußerungen von Parteifunktionären, die nur als ungehörig und pöbelhaft beschrieben werden können. Indessen leidet diese Entscheidung meines Erachtens vor allem daran, daß das Gericht nicht scharf genug zwischen Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit trennt, insbesondere übersieht, daß es durchaus eine Volkszugehörigkeit gibt, die auch von der Bundesrepublik Deutschland und den Bundesländern beachtet wird, ja sogar die Verteidigung der ethnokulturellen Identität nationaler Minderheiten und Volksgruppen gefördert wird. Ähnlich ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg zur Einstufung der AfD Sachsen-Anhalt als Verdachtsfall zu bewerten. Auch hier stößt sich das Verwaltungsgericht offenbar vor allem am Sprachgebrauch von Funktionären, der in der Tat eine generelle Geringschätzung des politischen Personals unseres Landes in einem Ausmaß zeigt, daß man es dem Gericht nicht verübeln kann, wenn das aus seiner Sicht gesehen in eine Verachtung der Demokratie überhaupt umschlägt. Was die hier behandelte Problematik des Volksbegriffs angeht, so bescheinigt das Gericht der Partei eine Überbetonung des Abstammungsprinzips. Auch der Vorrang einer ethnisch definierten Volksgemeinschaft ist seines Erachtens als Ablehnung des sich aus der Menschenwürde ergebenden Achtungsanspruchs jeder Person zu sehen und führt zur Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für alle, die nicht der ethnischen Volksgemeinschaft angehören. Dies folgt zum Beispiel daraus, daß Eingebürgerten mit Migrationshintergrund kein dauerhaftes Bleiberecht zugestanden wird. Das alles geht natürlich weit über die Verteidigung der gewachsenen nationalen Kultur hinaus.

Was ist zu tun?

Der AfD ist anzuraten, ihrerseits die klare Trennung zu formulieren zwischen Staatsangehörigkeit und ethnokultureller Volkszugehörigkeit, die man in ihren Grundlagen durchaus stärken darf und soll, aber nicht an die Stelle der rechtlichen Staatsangehörigkeit setzen darf. Es erscheint auch angebracht klar zu kommunizieren, daß eingebürgerte Ausländer keine Deutschen zweiter Klasse sind, unbeschadet dessen, daß man von ihnen verlangt, vor allem die Werte der Verfassung nicht  nur zu respektieren, sondern auch zu bejahen, unbeschadet dessen daß man bei der Einbürgerung natürlich auch die Interessen des Landes etwa an gut ausgebildeten Fachkräften an die erste Stelle setzt. Das tun zweifellos demokratische und den Menschenrechten verpflichtete Staaten wie die USA, Kanada und Australien auch, ohne daß irgendjemand das als menschenrechtswidrige „völkische“ Politik anprangern würde. Denn das sind keine Ausschlusskriterien, die allein an der Abstammung festgemacht werden.

Schlußbemerkung:

An und für sich sollte es das Merkmal juristischer Argumentation sein, auf der Basis präziser, trennscharfer Definitionen Sachverhalte aufzubereiten und an Rechtsvorschriften zu messen. Den Verfassungsschutzbehörden wie auch den Verwaltungsgerichten muß man leider attestieren, daß sie diesen Anforderungen derzeit nicht genügen. Vielleicht stört hier der politische Lärm bei der ruhigen Entscheidungsfindung. Nun ist ja nicht damit zu rechnen, daß die juristische Debatte und die gerichtlichen Verfahren sich innerhalb weniger Monate erledigen werden. Gerade wenn man an die juristischen Auseinandersetzungen um die wirkliche oder vermeintliche Verfassungsfeindlichkeit der Republikaner oder den geschlagene zehn Jahre dauernden juristischen Kampf der Wochenzeitung Junge Freiheit gegen die Verfassungsschutzbehörden betrachtet, der erst beim Bundesverfassungsgericht gewonnen werden konnte, dann wird man feststellen, daß zum einen viele Jahre ins Land gehen, bevor die Sache endgültig entschieden wird, und zum anderen dann, wenn sich der Pulverdampf der politischen Feuergefechte verzogen hat, endlich Recht gesprochen wird. Der merkwürdige Umgang der deutschen Eliten (Eliten?) mit ihrer eigenen Identität wird dann wohl eine Fußnote der deutschen Geschichte bleiben.

Wir und der Krieg in der Ukraine

Voranstellen möchte ich diesen Überlegungen das Resümee, das Klaus von Dohnanyi am Ende seines vorzüglichen Buches „Nationale Interessen – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“ gezogen hat: „Unsere nationalen Interessen entsprechen nicht modischem Denken, sondern dem Verständnis der realen Lage und unseren Möglichkeiten. >Erkenne die Lage, rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen<.“ Diesen Appell Gottfried Benns hat von Dohnanyi seinem Buch vorangestellt. Er fährt fort: „Wer heute für die Zukunft handeln will, muß von altem Denken Abschied nehmen. Es wird für viele Menschen nicht leicht sein anzuerkennen, daß es zum Beispiel keine Freundschaften zwischen Völkern und Staaten gibt, sondern nur harte Interessen; daß militärische Bündnisse keine Möglichkeit sind, Gefahren zu vermeiden; daß hoffnungsvolle Eiferer auch Möglichkeiten der Vernunft zerstören können; oder daß unsere moralischen Ansprüche an einer interessengepanzerten Welt abprallen könnten. Einer so pragmatischen Politik fehlt dann oft der begeisternde Glanz der Utopie.“

Hört und liest man Äußerungen von Politikern und Kommentare von Journalisten zum Krieg in der Ukraine, so muß man leider in aller Regel feststellen, daß sie unterreflektiert sind und demzufolge das Ergebnis auch unterkomplex genannt werden muß. Es fehlt regelmäßig an der nüchternen und leidenschaftslosen Analyse, der neutralen Bewertung und vor allem daran, jeweils den Maßstab unserer nationalen Interessen anzulegen. Ich will nun in in der für einen Blog gebotenen Kürze die Probleme anreißen, um die es eigentlich geht. Ich gebe auch keine allein seligmachende Lösung, vielmehr gehe ich davon aus, daß meine Leser sich das Motto dieses Blogs auch auf ihre Fahnen geschrieben haben: sapere aude!

Die Rechtslage

Der erste Blick muß der Rechtslage gelten. Auch wenn letztendlich die Interessen und Machtverhältnisse den Ausschlag geben. Das wohl herausragendste Merkmal der Zivilisation ist, daß die Menschen wenigstens anstreben, ihre Verhältnisse dem Recht zu unterwerfen und damit wenigstens in gewissem Maße berechenbar zu machen. Um es kurz zu machen: Russland hat mit dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 das Völkerrecht gebrochen. Das ist, soweit ich die juristische Literatur überblicken kann, unstreitig. Dazu habe ich auch in einem Aufsatz Stellung genommen, der in wenigen Tagen im Deutschland Journal der SWG erscheinen wird. Diese Publikation kann ich ohnehin empfehlen, denn sie ist unabhängig im besten journalistischen Sinne.

Die Kriegsursachen

Die russische Lesart, und sie wird von vielen Kommentatoren im Westen, vor allem in Deutschland, geteilt ist, daß man sich der Bedrohung entgegenstellen mußte, die aus der immer weiter voranschreitenden Erweiterung des NATO-Gebiets nach Osten erwächst. Damit werde nicht nur das geostrategische Gleichgewicht zuungunsten Russlands nachhaltig verändert, dies widerspreche auch den früher gemachten Zusagen der USA und der NATO, auch wenn diese keinen Niederschlag in völkerrechtlichen Verträgen gefunden hätten. Mit dem offenkundigen Versuch, nun auch die Ukraine in die NATO und die Europäische Union aufzunehmen, sei letztendlich der casus belli eingetreten. Das ist natürlich nicht ganz falsch. Unabhängig vom Wert oder Unwert außervertraglicher Äußerungen von amerikanischen Präsidenten und deutschen Ministern muß es natürlich Russland beunruhigen, wenn der als solcher wahrgenomme cordon sanitaire zwischen dem eigenen Staatsgebiet und dem weltpolitischen Konkurrenten USA/NATO nach und nach wegfällt und man sich damit Auge in Auge mit dem Gegner wiederfindet, einem Gegner, der zudem mit seinen  Ambitionen, nicht nur eine Weltmacht zu sein, sondern die Weltmacht zu werden, keineswegs hinter dem Berge hält. Dies haben die USA ja auch in Sachen Ukraine 2014 ganz offen gezeigt. Die sogenannte orangene Revolution war ja nicht nur eine Bewegung westlich orientierter und demokratiebegeisterter ukrainischer Jugendlicher. Vielmehr verfolgten die USA hier ihre wirtschaftlichen und strategischen Interessen mit allen, auch durchaus zweifelhaften Mitteln. Die damals zuständige Spitzendiplomatin und derzeitige stellvertretende Außenministerin der USA Victoria Nuland („fuck the EU“) hat ja seinerzeit in einem abgehörten Telefongespräch zugegeben, daß die USA rund 5 Milliarden $ investiert hatten, um die Ablösung des gewählten Präsidenten Janukowisch voranzutreiben. Dieser Politiker hatte aus Sicht der USA ja den entscheidenden Nachteil, daß er russlandfreundlich war. Also mußte ein westlich orientierter Politiker her. Und so folgte der europafreundliche Oligarch Poroschenko auf den russlandfreundlichen Oligarchen Janukowitsch. Von der demokratischen Reputation her eigentlich kein Unterschied. Das Spitzenpersonal der ukrainischen Politik rekrutiert sich eben aus der dortigen Oligarchie, wie die Personalien Julia Tymoschenkco (die „Gasprinzessin“) und auch Wolodymyr Selenskyj und seine Entourage zeigen. Folgerichtig haben die USA seit 2014 auch an der Ausbildung und Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte gearbeitet. Es wäre naiv zu glauben, man habe nicht auch die üblichen Planungen für die Ausweitung des bereits laufenden Krieges um die östlichen Provinzen Luhansk und Donezk gemeinsam erarbeitet. Aber das ist eben ganz normale Weltmachtpolitik. Die Weltpolitik ist kein Streichelzoo.

Der Kampf Russslands um seine Großmachtstellung

Aber auch Russland hat seine geostrategischen Interessen, und dies seit Jahrhunderten unverändert. Die Großmacht im Osten des europäischen und im Norden des asiatischen Kontinents, immer noch von der Ausdehnung her der größte Staat der Erde, hat das natürliche Interesse, ihre Machtstellung nicht zu verlieren, bzw. soweit sie bereits verloren gegangen ist, sie möglichst wiederzugewinnen. Das hat Wladimir Putin ja auch spätestens mit seiner Äußerung, aus seiner Sicht sei der Untergang der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen, bereits 2005 unmissverständlich klargemacht.  Schon seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, und dann in der Konsequenz das Eingreifen in den georgischen Bürgerkrieg 2008 und die Annexion – aus insoweit verständlicher russischer Sicht Wiedergewinnung – der Krim sowie die faktische Annexion der ostukrainischen Provinzen Luhansk und Donezk können nur als Beginn der Rückgewinnung verlorenen russischen Territoriums gewertet werden. Hinzu kommen seine öffentlichen Überlegungen über angeblich einstmals russische Territorien in Finnland, Polen und darüber hinaus. Und wer es immer noch nicht verstanden hat, der muß sich fragen, was Putin wohl damit gemeint hat, daß er sich vor denselben Aufgaben sieht, wie weiland Peter der Große, was er anlässlich dessen 350. Geburtstages ja öffentlich so formuliert hat. Nur aus einer geopolitischen Position heraus, die wenigstens näherungsweise der entspricht, die man als Sowjetunion im 20. Jahrhundert hatte, können die russischen Interessen im Nahen wie im fernen Osten erfolgversprechend verfolgt werden. Das gilt selbstverständlich vor allem mit Blick auf China, aber auch den alten weltpolitischen Konkurrenten USA.

Das Spiel der Weltmächte

Zu Zeiten des kalten Krieges lebten wir in der bipolaren Welt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stießen die USA, aber auch China in das so entstandene Vakuum. Die ehemalige Weltmacht Sowjetunion/Russland, militärisch immer noch eine Weltmacht, wirtschaftlich indessen ein Zwerg (Helmut Schmidt: Obervolta mit Atomwaffen) ist nach der Schwächeperiode unter Gorbatschow und Jelzin nun bestrebt, die alte Stärke wiederzugewinnen und damit die umliegenden Regionalmächte und Hintersassen dominieren zu können. Die USA und auch China hingegen müssen bestrebt sein, Russland klein zu halten, um ihre eigenen Interessen in Asien, Europa und nicht zuletzt Afrika durchzusetzen. Nichts normaler als das. Allerdings zeigt jedenfalls die Geschichte, daß mit dem Gewinn der alleinigen Weltmacht auch der Niedergang beginnt. Das Römische Reich ist hierfür das wohl plakativste Beispiel. Doch auch Aufstieg und Niedergang des habsburgisch/spanischen Weltreichs und des britischen Empire mögen hier für eine gewisse Gesetzmäßigkeit stehen.

Die deutschen Interessen

Betrachtet man sich die Reaktion der Politik und der sogenannten Mainstream-Medien in Deutschland auf den russischen Angriff auf die Ukraine, so gewinnt man den Eindruck, daß Deutschland sich schlicht in die Reihe der Verbündeten stellt und keine andere Position einnimmt, als sie von den USA in der NATO vorgegeben wird, allenfalls, was wiederum typisch für Bundesrepublikanien ist, sich in der moralischen Haltung von niemandem übertreffen läßt. Deswegen hat man ja auch eilfertig alle möglichen Sanktionen gegen Russland verhängt, insbesondere erklärt, Öl und Gas aus Russland schon kurzfristig nicht mehr abnehmen zu wollen. Natürlich hat dies Russland nicht in Bedrängnis gebracht, was allerdings schon mit nur lückenhaften Kenntnissen der wirtschaftlichen Zusammenhänge von vornherein klar war. Denn die Weltwirtschaft funktioniert nun einmal nach dem System der kommunizierenden Röhren. Wenn ein Hahn zugedreht wird, steigt eben das Wasser rundum gleichmäßig an. Russisches Gas und Erdöl finden zu höheren Preisen Abnehmer in China, Indien und sonstwo auf der Welt. Das als Lösung des Problems herbeigeredete Flüssiggas wird für teures Geld auf Schiffen griechischer Reeder nach Deutschland gebracht. Der russische Staat verdient an seinem Gas und seinem Öl mehr als zuvor. Deutschland indessen steht vor einem kalten Winter, mehr noch, seine energiehungrige Industrie steht vor dem Absturz. Wenn man sich an den kalten Krieg zurück erinnert, dann stellt man fest, daß wir Deutschen seinerzeit von der Sowjetunion selbstverständlich Öl und Gas bezogen haben ungeachtet dessen, daß man sich an der Demarkationslinie bis auf die Zähne bewaffnet gegenüberstand. Die Sowjetunion war politisch und militärisch der Feind, wirtschaftlich schlicht ein Handelspartner.

Was allein kann unser Interesse sein?

Nicht nur, daß man die Dinge auseinanderhalten muß. Vor allem geht es darum, die eigenen Interessen zu definieren und dann auch zu vertreten. Das tun andere wie China, Indien, Südafrika, Brasilien und selbstverständlich die USA. Nur Deutschland meint, die moralische Großmacht spielen und die Schurkenstaaten dieser Erde, wozu natürlich jetzt vor allem Russland gehört, auf den rechten Weg zwingen zu müssen. Dies wohlgemerkt, ohne daß dies eine irgendwie geartete geopolitische Sinnhaftigkeit aufweisen könnte. Daß dabei auch Inkonsequenzen wie die Aufrechterhaltung von Wirtschaftsbeziehungen mit die Menschenrechte mit Füßen tretenden Regimen wie China und den Golfstaaten zu registrieren sind, macht das Gesamtbild nur etwas grotesker. Entscheidend ist, daß ein Land von der – bescheidenen – Größe und Macht wie Deutschland sich darauf konzentrieren muß, seine politische und wirtschaftliche Position mit seinen beschränkten Möglichkeiten zu wahren. Soweit dabei eine Anlehnung an Weltmächte nötig ist, und das kann nicht zweifelhaft sein, kann wohl nur das kleinere Übel gewählt werden, denn das große Glück hält die Weltpolitik für uns nicht bereit. Bei aller Brutalität der Machtgewinnung und -erhaltung erscheint dabei die Anlehnung an die USA der Anlehnung an Regime wie Russland oder China vorzugswürdig zu sein. Wer möchte schon in einer politischen Ordnung leben, die für Dissidenten Straflager bereithält? Doch dazu bedürfte es wirklicher Staatsmänner, (gerne auch -Frauen) wie Bismarck, Rathenau oder auch Adenauer. Schließen wir mit dem Vermächtnis Bismarcks in einer seiner letzten Reichstagsreden: „Jede Großmacht, die außerhalb ihrer Interessensphäre auf die Politik der anderen Länder zu drücken und einzuwirken und die Dinge zu leiten sucht, die periklitiert (setzt sich einer Gefahr aus) außerhalb des Gebietes, welches Gott ihr angewiesen hat, die treibt Machtpolitik und nicht Interessenpolitik, die wirtschaftet auf Prestige hin. Wir werden das nicht tun.“



Auf ein Wort

Die Debatten um den Krieg in der Ukraine, insbesondere die Bewertung der russischen Administration einerseits und der amerikanischen Rolle in der internationalen Politik andererseits werden zum einen zunehmend unübersichtlicher, und zum anderen findet sich hier eine merkwürdige Schlagseite zugunsten des russischen Diktators Putin.

Zunächst zur Rechtslage

Es ist unstreitig, daß der Angriff vom 24. Februar 2022 auf die Ukraine ein klarer Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta war. Das gilt natürlich für jeden weiteren Kriegstag genauso, von den offensichtlichen Kriegsverbrechen einmal ganz abgesehen (die es auf der anderen Seite selbstverständlich auch gibt, allerdings bei weitem nicht in diesem Umfang). Russland kann sich hier auch nicht auf Art. 51 der UN-Charta berufen, denn dieses Selbstverteidigungsrecht bzw. Recht zum Beistand gilt nur, wenn ein rechtswidriger Angriff gegen ein UN-Mitglied vorliegt. Daß Russland etwa von der Ukraine angegriffen worden sei, behauptet Putin selbst nicht. Sein Argument, er habe den selbsternannten Republiken im Donbas Nothilfe leisten müssen, weil die Ukraine sie angegriffen habe, kann nicht ernstgenommen werden. Diese faktisch von Russland besetzten Gebiete ohne eigene Staatlichkeit sind keine Völkerrechtssubjekte. Auch liegt seitens der Ukraine ersichtlich kein Verstoß gegen die beiden Minsker Abkommen vor, von denen im übrigen Russland selbst Abstand genommen hat. Das Gerede von den Nazis, welche die Ukraine im Griff hätten, kann nicht einmal kommentiert werden. Es sei denn, wir wollten darüber diskutieren, ob die Erde nicht doch eine Scheibe sei. Damit handelt es sich bei diesem Angriff auch um ein Verbrechen nach Art. 8 bis des Römischen Statuts (Verbrechen der Aggression), was in Deutschland gemäß § 13 des Völkerstrafgesetzbuches auch gesondert verfolgt werden kann. An dieser Rechtslage besteht unter Juristen kein Zweifel. Zur Klarstellung sei angefügt, daß auch unterstellte Rechtsverstöße der Ukraine oder sonstiger Dritter einschließlich der NATO an dieser Rechtslage nichts ändern würden. Ihr Vorliegen vorausgesetzt, würde dies Russland nicht berechtigen, sein behauptetes Recht mit Waffengewalt durchzusetzen. Nicht einmal von einem präventiven oder gar präemptiven Angriff kann die Rede sein, so daß auf die völkerrechtliche Problematik dieser Rechtsfiguren hier nicht eingegangen werden muß.

Das Narrativ von dem in die Enge getriebenen russischen Bären

Es erstaunt durchaus, daß ohne Rücksicht auf die Rechtslage politische Diskussionen geführt werden, in denen dem Westen zumindest eine gewisse Mitschuld an der Situation zugeschrieben wird. Man habe ja in den Jahren nach 1990 Russland zu verstehen gegeben, eine Ausweitung der NATO nach Osten bis an die Grenzen Russlands werde es nicht geben. Nun wissen wir, daß es derartige Gespräche zwischen hochrangigen Politikern beider Seiten damals durchaus gegeben hat. Indessen ist das niemals vertraglich fixiert worden. Bloß informelle Zusagen können indessen völkerrechtliche Verträge weder ersetzen noch nur modifizieren. Die tatsächlich stattgefundene NATO-Osterweiterung ist auch Ende der neunziger/Anfang der 2000er Jahre mit Zustimmung Russlands erfolgt. Ob es indessen ein Akt ausgesprochener politischer Klugheit war, die Grenzen der NATO so weit nach Osten zu verschieben, ist eine andere Frage. Ausgesprochen undiplomatisch war die seinerzeitige Äußerung des amerikanischen Präsidenten Obama, Russland sei nur noch eine Regionalmacht, unabhängig davon, ob dies der Sache nach zutrifft oder nicht. Auf die völkerrechtliche Lage kann sie indessen keinerlei Einfluss haben. Dennoch fasziniert dieses Thema offenbar nicht wenige Beteiligte an der politischen Debatte. Sogar der Papst soll kürzlich geäußert haben, die NATO-Osterweiterung sei  „bellen“ vor Russlands Tür.

Der latente Antiamerikanismus links und rechts

Bemerkenswert ist die Behandlung dieses Themas in Deutschland, und zwar auf Seiten der politischen Linken, insbesondere der Partei gleichen Namens einerseits, und auf Seiten der politischen Rechten einschließlich der AfD. Beide politischen Lager eint eine offenbar genetisch gegründete Skepsis gegenüber den USA. Im Falle der Linken lässt sich dies aus ihrer politischen Herkunft ohne weiteres begründen. Im Falle der politischen Rechten indessen findet sich die Antwort wohl eher in der Bewertung des Verhaltens der USA gegenüber Deutschland seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere im Zweiten Weltkrieg und danach, Stichwort Reeducation. Darauf wird einzugehen sein.

Die Heimat der Linken bleibt die Sowjetunion

Der nostalgische Blick auf die Sowjetunion und die kommunistische Grundströmung  sind Wesensmerkmal der politischen Linken, insbesondere der Partei gleichen Namens in Deutschland. Putin versucht ja offensichtlich und erklärtermaßen, zum einen das großrussische Reich nicht nur der Zaren, sondern auch Stalins wiederherzustellen, und zum anderen hat er ein diktatorisches Regime installiert, das eine Reihe von Ähnlichkeiten mit dem Sowjetregime aufweist, gerade auch was die vollständige Abschaffung der Meinungsfreiheit und des Rechtsstaates angeht. Das ist in mehrfacher Hinsicht der Gegenentwurf zu den USA und der westlichen Gesellschaftsordnung.

Aus der Zeit gefallen

Die politische Rechte in Deutschland beurteilt die Rolle der USA als Weltmacht, insbesondere ihr Verhältnis zu Deutschland im vergangenen Jahrhundert grundsätzlich zutreffend. Nicht wenige ihrer Vertreter vermögen indessen nicht die Dinge zu historisieren, sondern bleiben gedanklich und vor allem emotional in der Nachkriegszeit stecken. Darin zeigt sich ein Mangel an Realitätssinn. Politik, insbesondere Außenpolitik, ist eben kein Wunschkonzert, sondern man muß hier ebenso wie im Geschäftsleben mit der Situation arbeiten, wie man sie vorfindet. Vor allem haben Sympathien oder Antipathien, noch viel weniger Gefühle wie Freundschaft oder Feindschaft in der Politik etwas verloren. Staaten haben keine Freunde, Staaten haben Interessen, bemerkte Charles de Gaulle einst treffend. Deutschland muß sich eben derjenigen Weltmacht anschließen, die seinen Interessen am ehesten entsprechen kann und will. Im Zweifel wählt man eben das kleinere Übel, wenn man Glück hat, das größte Stück vom Kuchen. Und da ist eben das Leben als Verbündeter, in anderer Sichtweise auch Gefolgsmann, der USA wesentlich angenehmer, als etwa in Abhängigkeit von einem diktatorischen Regime wie Russland oder China. Das Gerede von der Völkerfreundschaft ist etwas für volkspädagogische Traktätchen von Provinzjournalisten und salbungsvolle Predigten naiver Pfarrer im Käsmann-Stil. Davon völlig unberührt sind private Beziehungen. Das Volk und seine Herrscher, demokratisch gewählt oder autoritär gegeben, sind immer noch zwei verschiedene Welten. Das Räsonnieren über die Durchsetzung US-amerikanischer Macht- und Wirtschaftsinteressen ist ungeachtet seiner Tatsachengrundlagen wohl nur noch als Unterhaltungsprogramm für Rentner geeignet. Ernstzunehmen ist weder das eine noch das andere.

Ex oriente lux? Ja. Russland unser Vorbild? Nein.

Auch der Hinweis darauf, daß der Osten ein erfrischendes Kontrastprogramm zur westlichen Dekadenz zu bieten hat, führt nicht wirklich weiter, insbesondere rechtfertigt das keine Bewunderung Russlands. Selbstverständlich finden Torheiten wie die LGBTQ-Bewegung, der Wokismus, die Gendersprache und dergleichen in den Ländern des früheren Warschauer Paktes praktisch nicht statt, stoßen vielmehr auf breite gesellschaftliche Ablehnung. Auch in Russland, selbstverständlich. Das ist aber kein Grund, sich Russland annähern zu wollen. Denn diese gesunde Skepsis gegen westliche Fehlentwicklungen findet sich eben auch in den anderen ehemaligen Ostblockländern, insbesondere den NATO- und EU Mitgliedern wie Polen, Ungarn, der Slowakei, der tschechischen Republik und den baltischen Staaten. Alle diese Länder haben indessen demokratische Gesellschaften und sind Rechtsstaaten, auch wenn dies teilweise in Deutschland und in Brüssel anders gesehen wird. Man kann sich durchaus vorstellen, Bürger eines der genannten Länder des ehemaligen Ostblocks zu sein, nicht aber wünschen, Bürger Russlands zu sein, wo man weder seine – abweichende – Meinung sagen darf, noch etwa auf demokratischem Wege Veränderungen anstreben kann, ohne besorgen zu müssen, umstandslos in irgend einem Straflager zu landen, wo dann nachträglich eine Farce von Gerichtsverhandlung stattfindet, an deren Ende eine langjährige Freiheitsstrafe steht. Und man ist nicht ganz sicher, ob man nicht am nächsten Morgen eine Unterhose anzieht, die mit Nervengift präpariert ist (Fall Nawalny).

Vom Ende her denken

Die nüchterne Betrachtung der Wirklichkeit läßt es allerdings auch nicht geraten erscheinen, die Ukraine so mir nichts dir nichts in die EU oder die NATO aufzunehmen. Selbstverständlich hat die Ukraine wie jeder andere souveräne Staat das unveräußerliche Recht, sich einem Bündnis ihrer Wahl anzuschließen, ebenso wie jedes Bündnis und seine Mitglieder das unveräußerliche Recht haben, einem solchen Beitrittswunsch zu entsprechen oder auch nicht. Und dies sollte allein auf sachlichen Erwägungen beruhen, und keinesfalls allein von der Sympathie für ein zu Unrecht angegriffenes und vom Kriege schwer getroffenes Volk getragen sein. So wollen wir nicht übersehen, daß die Ukraine im Korruptionsindex von Transparancy International Deutschland für 2020 Rang 117 von 188 Staaten einnimmt. Zum Vergleich, Deutschland steht auf Platz 9. Die Ukraine liegt hier gleichauf mit solchen Staaten wie Ägypten, Swasiland, Nepal, Sierra Leone und Sambia. Das ist nicht wesentlich besser als Russland auf Platz 129 gleichauf mit Aserbaidschan, Gabun, Malawi und Mali. Selbst Weißrussland liegt mit Platz 63 hier deutlich besser. Die EU hat schon den Fehler gemacht, ebenso wie die NATO, so korrupte Staaten wie Bulgarien und Rumänien aufzunehmen. Diesen Fehler sollte man nicht wiederholen. Auf einem anderen Blatt steht, der Ukraine während und vor allem nach dem Kriege jede Hilfe zu geben und sie zu einem Staat zu entwickeln, mit dem außerhalb von NATO und EU beste politische und wirtschaftliche Beziehungen bestehen, die aber wegen der signifikanten Unterschiede zu entwickelten demokratischen Staaten einfach noch nicht in eine solche Gemeinschaft paßt.

Ein letztes Wort zum laufenden Krieg. Deutschland kann und soll mit Blick auf die eindeutige völkerrechtliche Lage, aber auch mit Blick auf künftige Wirtschaftsbeziehungen, Unterstützung leisten, sei es durch Waffenlieferungen, Ausbildung von Soldaten und humanitäre Hilfe. Das macht Deutschland nach ganz herrschender Meinung im Völkerrecht nicht zur Kriegspartei. Auch wenn Herr Putin das vielleicht anders sehen sollte, es wird ihm keinen Rechtsgrund liefern, Deutschland etwa militärisch anzugreifen, abgesehen davon, daß er sich damit noch mehr übernehmen würde, als er es im Falle der Ukraine offensichtlich bereits getan hat.

Man sollte also die Lage nüchtern und sachlich, sine ira et studio, bewerten und sein Handeln danach ausrichten. Bella Ciao oder Heil Dir im Siegerkranz können und dürfen linke und rechte Nostalgiker am Stammtisch singen. Romantik hat in der Politik jedoch keinen Platz.


Die Mär vom Überfall

In wenigen Tagen jährt sich zum 80. Male der Tag, an dem die deutschen Streitkräfte zum Angriff auf die Sowjetunion angetreten sind. In den Medien und den Reden der Politiker wird wie immer vom Überfall die Rede sein. Der Bundespräsident wird mit dem Gehabe eines Altbischofs salbungsvolle Worte zur ewigen Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg im allgemeinen und dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion im speziellen in die Kameras und Mikrofone sprechen, natürlich zur besten Sendezeit. Die grüne Völkerrechtlerin, die sich nun auf der Woge der medialen Sympathien in das Kanzleramt tragen lassen will, wird uns über das völkerrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges belehren, dessen sich Deutschland am 22.06.1941 schuldig gemacht hat.

Die Ausgangslage und was man darüber nachlesen kann

Nun kann von einem Überfall weder im Rechtssinne, noch im militärischen Sinne die Rede sein. Unter Juristen gilt seit dem Urteil des Reichsgerichts vom 11.05.1931, daß man unter einem Überfall den plötzlichen und unerwarteten Angriff auf einen Ahnungslosen versteht. Die Vorstellung, die an der Demarkationslinie zwischen dem von Deutschland einerseits und der Sowjetunion andererseits besetzten Polen zum Angriff auf Deutschland aufmarschierte Rote Armee sei über die Angriffsabsichten der auf der anderen Seite ebenfalls zum Angriff aufmarschierten Wehrmacht auch nur im Unklaren gewesen, ist schlicht abwegig. Es ist schon ohne exakte Kenntnis der jeweiligen Truppendislozierung offensichtlich, daß auf beiden Seiten die ungeheure Massierung von Truppen in unmittelbarer Nähe der Grenze bekannt gewesen sein muß, und jedenfalls für die verantwortlichen Offiziere auf beiden Seiten in nächster Zeit der Angriff des Feindes zu erwarten war. Wer sich militärhistorisch kundig machen will, dem seien die einschlägigen Bücher von Heinz Magenheimer und Bernd Schwipper empfohlen. Kürzere, jedoch nicht weniger überzeugende Arbeiten haben Historiker wie Stefan Scheil und Walter Post vorgelegt. Allerdings werden diese Arbeiten von den gewissermaßen offiziellen deutschen Historikern ignoriert. Denn die Berücksichtigung der dort aufgeführten Fakten macht es unmöglich, das geradezu staatstragende Narrativ vom verbrecherischen Überfall auf die Sowjetunion aufrechtzuerhalten. Doch dazu später.

Der Maßstab, der an seriöse Geschichtserzählung anzulegen ist

Seriöse Geschichtserzählung zeichnet sich durch sorgfältige Tatsachenfeststellung und darauf beruhende Einordnung in historische Zusammenhänge aus. Der große Leopold von Ranke forderte, daß der Historiker seinem Untersuchungsgegenstand gegenüber objektiv sein und seine Quellen kritisch ohne Verfälschung und unvoreingenommen untersuchen solle. Seine Aufgabe sei die Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit. Unbeschadet dessen, daß damit ein nahezu unerreichbares Maß an Genauigkeit der Geschichtsschreibung beschrieben und gefordert wird, sollte doch zumindest das Bemühen erkennbar sein, diesem Maßstab genügen zu wollen. Für die Geschichtswissenschaft in Deutschland gilt indessen, daß sie keine Wissenschaft mehr ist, sondern eine soziale Bewegung, so der kanadische Politikwissenschaftler und Historiker Prof. Bruce Gilley. Folgerichtig heißt das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr seit 2013 auch Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften. Zur Ermittlung der objektiven Wahrheit gehört in allererster Linie die sorgfältige Feststellung der Fakten. Wenn es um einen Krieg geht, dann kommt man eben nicht an der militärhistorischen Auswertung von Aufmarschplänen, Lagekarten und Kriegstagebüchern vorbei. Das setzt natürlich die Fähigkeit voraus, diese Quellen auch militärfachlich interpretieren zu können. Wer das als Historiker ohne militärische Qualifikation nicht leisten kann, wird nicht umhin können, insoweit militärfachliche Beratung in Anspruch zu nehmen. Es ist ja auch sonst nicht unüblich, daß wissenschaftliche Arbeit interdisziplinär geleistet wird. Gerade der Gegenstand, um den es hier geht, erfordert eben auch die Fähigkeit, militärische Tatsachen fachlich bewerten zu können.

Die Fakten

Schon die Betrachtung des Kräfteverhältnisses beider Seiten am 22.06.1941 sollte sogar dem militärischen Laien klar werden lassen, daß es sich um Kriegsvorbereitungen gehandelt haben muß. Die deutschen Truppen waren mit einer Mannschaftsstärke von 3,05 Millionen Mann mit 3.332 Panzern, 7.146 Artilleriegeschützen und 2.253 Flugzeugen aufmarschiert. Die Rote Armee trat zwischen Leningrad und dem Schwarzen Meer mit 4,9 Millionen Mann, 12.379 Panzern, 34.700 Artilleriegeschützen und 8.240 Flugzeugen an, mit einer Massierung an der Demarkationslinie in Polen. Das heißt, die Mannschaftsstärke der Wehrmacht lag bei rund 60 % dessen, was die Gegenseite aufgeboten hatte. Die Überlegenheit der Roten Armee bei den Panzern betrug das 3,7-fache, bei den Artilleriegeschützen das 4,8-fache und bei den Flugzeugen das 3,6-fache der jeweiligen Waffensysteme des Gegners. Die Vorstellung von der Ahnungslosigkeit der sowjetischen Truppen wird noch absurder, wenn man sieht, wie nahe an der Grenze sie massiert waren. Es ist völlig ausgeschlossen, daß man die bis auf wenige Kilometer an die Grenze herangeführten feindlichen Truppen nicht erkannt hätte. Vielmehr war das ja wohl schon auf dem Boden mit dem Fernglas erkennbar, von der Beobachtung aus dem Flugzeug einmal ganz abgesehen. Es wäre auch naiv zu glauben, daß man nicht auf beiden Seiten auch Spione bzw. ortsansässige Informanten benutzt hätte. Tatsächlich war man ziemlich genau über Aufmarsch und Stärke des jeweiligen Gegners im Bilde. Noch klarer wird dies natürlich, wenn man weiß, daß die Rote Armee ihrerseits zum Angriff angetreten war. Dies ergibt sich eindeutig schon aus der Gliederung und Dislozierung, jedenfalls für den militärischen Fachmann.

Aus der Gliederung folgt die Absicht

Das sollte heute eigentlich alles nicht mehr strittig sein. Tatsächlich wollte Stalin auch Mitte Juli 1941 angreifen, was insbesondere Bernd Schwipper minutiös auf der Grundlage der von ihm ausgewerteten Befehle, Pläne und den Anordnungen Stalins herausgearbeitet hat, die er in den russischen Archiven einsehen konnte. Schwipper selbst ist insofern besonders kompetent, als er General der NVA war und natürlich deswegen auch eine Generalstabsausbildung an der sowjetischen Militärakademie absolviert hat. Leider hat Schwipper sein grundlegendes Werk über die Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion bis zum Aufmarsch an der Demarkationslinie in einem Verlag veröffentlicht, der seit Jahren von den Verfassungsschutzbehörden als rechtsextremistisch bewertet wird. Deswegen wird kein beamteter Historiker, nicht einmal ein freier Historiker, der weiterhin seine Bücher gut verkaufen will, dieses Buch auch nur anfassen, geschweige denn damit arbeiten und es in seinen Büchern oder Artikeln zitieren. Angesichts der hohen fachlichen Qualität des Werks ist das zu bedauern, allerdings für Deutschland leider typisch. Es sollte doch allein darauf ankommen, was jemand schreibt, und nicht, wer er ist und wo er veröffentlicht. Aber auch die Untersuchungen des langjährigen Lehrers für Militärgeschichte an der österreichischen Verteidigungsakademie, Heinz Magenheimer, kommen zum selben Ergebnis. Natürlich ist das alles auch in Deutschland bekannt, jedenfalls auch in der Bundeswehr. Ich selbst erinnere mich noch gut an meinen Fähnrichlehrgang, der uns jungen Reserveoffizieranwärtern die Grundlagen der Taktik vermittelte. Der Taktiklehrer war als junger Offizier 1941 dabei. Er berichtete uns davon, daß die Wehrmacht in einen zum Angriff aufmarschierten Feind gestoßen sei. Das erläuterte er uns natürlich auch. Die Artillerie sei weit vorne eingegliedert gewesen, ebenso wie man Feldflugplätze in der Reichweite der eigenen Artillerie festgestellt habe, also in einer Entfernung von lediglich 10-15 km von der Grenze. Auch die Massierung der feindlichen Panzertruppe direkt an der Grenze statt einer hinter Sperren eingegrabenen Infanterie und dahinter für Gegenstöße bereitgehaltenen Panzertruppe habe klar die Angriffsaufstellung dokumentiert. Magenheimer weist auch darauf hin, daß die Rote Armee früher vorhandene Sperren vor den eigenen Truppen sogar abgebaut habe. Es ist ja klar, daß man beim Angriff nicht erst noch eigene Minenfelder und sonstige Sperren überwinden will. Die Vorbereitung zur Verteidigung sieht anders aus.

Präventivkrieg oder Zufall?

Natürlich stellt sich angesichts dieser militärischen Fakten die Frage, ob die Wehrmacht am 22.06.1941 einfach zufällig dem bevorstehenden  Angriff der Roten Armee zuvorgekommen ist, oder zu diesem Zeitpunkt angegriffen hat, um dem bevorstehenden Angriff der Roten Armee zuvorzukommen. Dann hätte es sich um einen Präventivkrieg gehandelt. Es gibt überlieferte Äußerungen von Hitler, die dafür sprechen, daß man in der Tat dem Gegner zuvorkommen wollte. Aus militärischer Sicht war das sogar zwingend geboten. Denn die zum Angriff aufmarschierte Wehrmacht wäre in dieser Situation nicht imstande gewesen, einen Angriff des weit überlegenen Gegners abzuwehren. Tatsächlich ermöglichte ja die Angriffsgliederung der Roten Armee der Wehrmacht, sie trotz zahlenmäßiger Überlegenheit rasch zu werfen und weit nach Osten vorzustoßen. Gegen einen zur Verteidigung eingerichteten Feind, dazu noch in erheblicher Überzahl, wäre das nicht möglich gewesen. Erklärtermaßen mußte der Russlandfeldzug auch rasch beendet werden, um dann mit aller Kraft die entscheidende Auseinandersetzung mit Großbritannien und den USA erfolgreich bewältigen zu können.

Die finalen Absichten der Kriegsparteien

Doch damit ist die Frage nicht beantwortet, warum Hitler überhaupt die Sowjetunion angegriffen hat, und auch die Frage nicht, warum Stalin Deutschland angreifen wollte. Fraglos handelte es sich bei beiden Regimen um extrem aggressive Ideologien, die jeweils die räumliche Ausweitung ihres Herrschaftsgebiets planten und auch aktiv umsetzten. Für zwei solcher Regime war in Europa kein Platz, eines mußte weichen. Im Falle der Sowjetunion kam der ideologische Auftrag der Weltrevolution hinzu. Im Sinne Lenins hatte jeder seiner Nachfolger darauf hinzuwirken, den Kommunismus zur Weltherrschaft zu führen. Im Falle Hitlers liegen die Dinge auch völlig klar. Schon in seinem programmatischen Buch „Mein Kampf“ hatte er dargelegt, daß Deutschland sich nach Osten ausdehnen müsse. Damit hatte er ja auch schon begonnen, indem er die Tschechoslowakei und halb Polen gewaltsam in den deutschen Herrschaftsbereich eingegliedert hatte. Über kurz oder lang mussten die jeweiligen Angriffsvorbereitungen auch umgesetzt werden. Die Volkswirtschaften beider Systeme waren mit der Aufrüstung bis an die Grenzen ihrer materiellen und personellen Ressourcen angespannt. Das lässt sich nicht über viele Jahre hinweg aufrecht erhalten, sondern muß relativ bald in den alles entscheidenden, am besten sehr kurzen Krieg führen. Festzuhalten ist also, daß beide Seiten den Krieg wollten, und zwar bald. Daß bei dieser Sachlage die militärische Logik es erforderte, dem jeweiligen Gegner mit dem Angriff zuvorzukommen, um nicht selbst ins Hintertreffen zu geraten, ist an und für sich klar.

Die Debatte um den Präventivkrieg ist überflüssig

Die Frage ist allerdings müßig. Politisch wird daran jedoch die sogenannte Schuldfrage geknüpft. Deutschland saß deswegen ja auch 1945/46 auf der Anklagebank des IMT. Indessen handelte es sich dabei um einen politischen Prozeß. 1941 war der Angriffskrieg völkerstrafrechtlich noch nicht verboten. Das ist er erst seit Inkrafttreten und Ratifizierung des Römischen Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof vor wenigen Jahren. Das Urteil von Nürnberg ist jedenfalls im Anklagepunkt Planung und Führung eines Angriffskrieges juristisch nicht haltbar. Ich habe das in meinem Buch „Keine Sternstunde des Rechts“ nachgewiesen. Im Übrigen hatten bis dahin ja auch alle anderen beteiligten Mächte nicht selten Angriffskriege geführt, und tun das bis in die jüngste Zeit hinein weiter. In Deutschland indessen hält man am Narrativ vom verbrecherischen Überfall eisern fest. Denn dies ist Teil der Gedächtnispolitik, die in unserem Lande unter dem Einfluß von politischen Philosophen, insbesondere Jürgen Habermas, den Umgang mit der Geschichte prägt. Habermas verlangte, daß in der medialen Öffentlichkeit ein gedächtnispolitisch erzeugtes Bild von der deutschen Vergangenheit gelten müsse, weil daran die politische Orientierung der Bundesrepublik hänge. Die Verdammungsformeln deutscher Politiker und Publizisten wirken denn auch sehr bemüht, wenn man so will, auch hilflos. Man hat sich über die Jahre hinweg an diese Geschichtsdeutungen geklammert, weil man hoffte, nach dieser Beichte die Absolution der Weltöffentlichkeit zu erhalten. Indessen scheint die Weltöffentlichkeit daran immer weniger interessiert zu sein. Mehr als ein Menschenalter nach jenem Tag beginnt auch das Bild des Zweiten Weltkrieges zu verblassen. Die Bilder von den aktuellen Kriegen und Bürgerkriegen verstellen den Blick auf die Vergangenheit. Die Menschheit hat schlicht andere Probleme.

Das Dilemma

Die Lage in unserem Lande ist so, daß die Bürger sie ihren gewählten Vertretern buchstäblich um die Ohren hauen müssten. Man kann hinschauen wo man will. In Deutschland funktioniert so gut wie nichts, außer natürlich einer überbordenden Bürokratie. Darin sind natürlich eine Reihe von Problemen begründet, die allerdings nur dann gelöst werden könnten, wenn die Bürger des Landes zu grundsätzlichen Änderungen bereit wären. Das aber würde voraussetzen, daß die Bürger sich auch einmal selbst der Dinge annehmen würden, mindestens genau hinschauen würden. Und genau darin liegt das Problem. Die Demokratie braucht Demokraten. Also Staatsbürger, die auch den Willen haben, die öffentlichen Dinge zu regeln. Nichts anderes heißt ja dieses Wort, das aus den Bestandteilen Demos für Volk und kratein für herrschen zusammengesetzt ist.

Wer wählt, muß wissen

Wer herrschen will, muß erst einmal wissen was zu tun ist, bevor er sich für die eine oder andere Option entscheidet und sie dann auch durchsetzt, also seine Herrschaft ausübt. In der repräsentativen Demokratie geschieht das durch Wahlen, also die Bestellung bzw. Abberufung von Vertretern, oder durch Abstimmungen, also die Entscheidung einer Volksversammlung für oder gegen ein bestimmtes Vorhaben. In den klassischen Demokratien des alten Griechenlands war das bei der durchaus überschaubaren Zahl der Stimmbürger rein technisch unproblematisch. Aber auch dort hatte man schon seine Schwierigkeiten mit der Demokratie in Reinkultur. Die Idealvorstellung des Bürgers war das zoon politikon, also das politische Wesen, wörtlich übersetzt, was nichts anderes heißen will, als der Mensch, der sich um die Belange der Gemeinschaft kümmert. Das war aber offenbar nur eine Idealvorstellung, wie schon der Begriff des Idiotes zeigt, aus dem unser Fremdwort Idiot hergeleitet ist. Das war im Gegensatz zu den gewählten Amtsträgern, also den Leuten, die sich um das Gemeinwesen kümmerten, ein gewöhnlicher, niedriger Mann, auch in der Bedeutung ungelehrt, jemand dem Kunst und Wissenschaft fremd sind und was der negativen Eigenschaften mehr sind. Das waren also auch schon damals die Leute, die entweder überhaupt keinerlei Interesse an den Belangen der Gemeinschaft hatten, oder aber infolge ihrer Uninteressiertheit und Beschränktheit leicht zu manipulieren waren. Volksentscheide, wie die Verurteilung ihres größten Staatsmannes Perikles und ihres größten Philosophen Sokrates durch aus hunderten von wahlberechtigten Bürgern gebildeten Gremien oder der Ostrakismos, zu deutsch das Scherbengericht über Themistokles, den Sieger von Salamis, zeigen das ganze Elend der Volksherrschaft, wenn sie denn zur Herrschaft des Pöbels wird, zur Ochlokratie.

Politiker sind nur Vertreter der Wähler

Die repräsentative Demokratie, so wie sie sich zunächst in Großbritannien und dann in der übrigen abendländischen Welt entwickelt hat, wollte nicht zuletzt die Risiken minimieren, die in der reinen Volksherrschaft altgriechischen Musters begründet sind. Sie hat über Jahrhunderte lang sehr gut funktioniert und tut es im allgemeinen weltweit immer noch leidlich. Das Problem sind eben die Demokraten, die Träger aller Staatsgewalt, das Volk. Ist es träge, unwissend und uninteressiert, so gibt es am Wahltag nicht nur seine Stimme für seine Vertreter ab, sondern schickt auch seinen Verstand in Urlaub.

Die Demokratie braucht Demokraten

Kaum anders ist zu erklären, daß zum Beispiel nach den Umfragen derzeit nur 30 % der Deutschen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung und der Landesregierungen für unangemessen halten. Dies, obwohl sie regelmäßig und reihenweise von den Gerichten verworfen werden, und obwohl es erfolgreiche andere Modelle des Pandemie-Managements gibt. Anders kann auch nicht erklärt werden, daß die Umfragen zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, aber auch für die Bundestagswahl am 26. September die Regierungsparteien und die Grünen, die ja schon längst keine Opposition mehr sind, sondern Teil des Machtgefüges, mit traumhaften Mehrheiten ausstatten. Man kann getrost davon ausgehen, daß die weit überwiegende Mehrheit der Bürger schlicht und einfach glaubt, was Regierungsprecher, Tagesschausprecher und Zeitungsredakteure Ihnen berichten und erklären. Das Weltbild der Deutschen läßt sich 1 : 1 aus der Tagesschau extrahieren. Was dort nicht berichtet, dargestellt und kommentiert wird, existiert für die große Mehrheit der Deutschen eben nicht. So wird man kaum jemanden antreffen können, der von erfolgreichen alternativen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie überhaupt nur gehört hat. Kritische Wissenschaftler wie etwa Professor Streeck, der die Probleme ja keineswegs kleinredet, aber andere Lösungswege aufzeigt, kommen in den regierungstreuen Medien, und andere gibt es ja praktisch nicht, erst gar nicht vor. Das setzt sich fort in der Unkenntnis von Gesetzgebungsvorhaben, auch solche mit einem  kaum unglaublichen Irrsinnsfaktor wie etwa dem Gesetz zur Neuregelung des Geschlechtseintrags. Danach werden künftig Kinder ab 14 Jahren nach vorheriger „Beratung“ durch selbstverständlich der LBGTQ-Bewegung nahestehende Experten auf ihren Wunsch, gegebenenfalls auch gegen den Willen ihrer Eltern, mit einem anderen Geschlecht im Melderegister eingetragen werden, als mit dem sie geboren sind.

Man muß sich halt kümmern

Man mache einmal das Experiment, etwa Nachbarn oder Arbeitskollegen nach diesem Gesetzesvorhaben zu fragen, oder etwa zu fragen, was LBGTQ eigentlich heißt oder ist. In 99 % der Fälle wird die Antwort sein: weiß ich nicht. Und dann erklären Sie diesen Leuten, um was es sich dabei handelt. Die Leute werden es ihnen nicht glauben. In den Medien hört man davon nichts. Also wissen die Leute es auch nicht. In Bundestag und Bundesrat wird so etwas buchstäblich bei Nacht und Nebel entschieden, wenn die Tageschau schon längst vorbei ist, und auch kaum noch ein Journalist im Saale ist. Zwischen Politik und Medien besteht hier auch so eine artstillschweigendes Übereinkommen, das über derartiges doch besser nicht berichtet wird. Das Volk braucht so etwas nicht zu wissen. Das Volk hat das dann später schlicht hinzunehmen und sich auch solchen Gesetzen zu beugen.

Leute, gebraucht endlich euren Verstand!

Zur Klarstellung: das ist kein Fehler des Systems. Das demokratische System unseres Grundgesetzes ist gut und richtig. Das Problem ist die geistige Trägheit der Bürger. Falls bis hierher ein Freund der sogenannten geschlechtergerechten Sprache diesen Text gelesen hat: Nach überkommener und richtiger deutscher Grammatik sind Bürger selbstverständlich Menschen beiderlei Geschlechts, nach der neuesten Kapriole der politischen Klasse unseres Landes auch des dritten Geschlechts (divers). Als Demokrat kann man nichts anderes tun, als sich zu bemühen, Aufklärung zu leisten, insbesondere die träge Masse zu bewegen, so wie es als Motto über dem Eingangsportal der Führungsakademie der Bundeswehr steht: Mens agitat molem.


Meinungsmanipulation

Skandalös, aber nicht skandalisiert

Als das Bundesinnenministerium sein Strategiepapier vom März 2020 zur Corona-Krise, wie das damals noch hieß, ins Internet stellte, blieb der allgemeine Aufschrei in den Medien nahezu vollständig aus. Nun ist bekannt geworden, daß die politische Spitze des Ministeriums Wissenschaftler sogar ausdrücklich dazu aufgefordert hat, die Bedrohungen durch Corona möglichst dramatisch darzustellen, damit drastische Bekämpfungsmaßnahmen in der Bevölkerung große Akzeptanz finden können. Das scheint gefruchtet zu haben, denn die Politik argumentiert ja seither mit wissenschaftlichen Stellungnahmen, allerdings stets von den gleichen Wissenschaftlern. Die Medien schließen sich dem diensteifrig an. Kritische Medien gibt es jedenfalls innerhalb der deutschen Grenzen kaum noch, sieht man von den als rechte Verschwörungsplattformen diffamierten Publikationen ab wie Junge Freiheit, Tichys Einblick, Publico, achgut, acta diurna, Epoch Times usw. Wer sich unabhängig informieren will, und dabei auf traditionelle Zeitungen zurückgreifen will, muß sich schon im Ausland bedienen. Das ist das neue Westfernsehen.

Wie unsere Politiker uns einschätzen

Das Erstaunliche an diesem Vorgang ist, daß er zwar skandalös ist, in unseren Medien aber nicht skandalisiert wird. Es wird ja unverblümt in diesem Strategiepapier die Manipulation der Meinungsbildung in der Bevölkerung vorgeschlagen, wobei man sich unwillkürlich an die Arbeiten des US-amerikanischen Soziologen Walter Lippmann erinnert, die in seinem 1922 erschienenen Werk über die öffentliche Meinung kulminierten. Dazu später. Die Autoren des Strategiepapiers setzen ganz unverblümt auf eine Angststrategie und wollen eine Schockwirkung erzielen. Das liest sich dann tatsächlich so:

Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:

Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.

„Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden“: Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.

Folgeschäden: Auch wenn wir bisher nur Berichte über einzelne Fälle haben, zeichnen sie doch ein alarmierendes Bild. Selbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf können anscheinend jederzeit Rückfälle erleben, die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzinfarkt oder Lungenversagen, weil das Virus unbemerkt den Weg in die Lunge oder das Herz gefunden hat. Dies mögen Einzelfälle sein, werden aber ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren. Eine viel häufigere Folge ist monate- und wahrscheinlich jahrelang anhaltende Müdigkeit und reduzierte Lungenkapazität, wie dies schon oft von SARS-Überlebenden berichtet wurde und auch jetzt bei COVID-19 der Fall ist, obwohl die Dauer natürlich noch nicht abgeschätzt werden kann.

Außerdem sollte auch historisch argumentiert werden, nach der mathematischen Formel: 2019 = 1919 + 1929. Man braucht sich nur die oben dargestellten Zahlen zu veranschaulichen bezüglich der anzunehmenden Sterblichkeitsrate (mehr als 1 % bei optimaler Gesundheitsversorgung, also weit über 3 % durch Überlastung bei Durchseuchung), im Vergleich zu 2 % bei der Spanischen Grippe, und bezüglich der zu erwartenden Wirtschaftskrise bei Scheitern der Eindämmung, dann wird diese Formel jedem einleuchten.

(Das Deutsch der Seehofer-Beamten übertrifft noch das Merkel-Deutsch.)

Diese beiden Jahreszahlen werden ja ganz bewußt zitiert. Die Spanische Grippe 1919, eine Viruskrankheit, forderte rund 50 Millionen Menschenleben. Die Weltwirtschaftskrise 1929 mit dem berühmten schwarzen Freitag an der New Yorker Börse gehört zu den wenigen historischen Ereignissen, die auch den Menschen heute noch geläufig sind. Diese beiden Ereignisse gewissermaßen zu addieren, um damit ein bisher unvorstellbares Katastrophenszenario herzustellen, und eine entsprechende Panik unter der Bevölkerung auszulösen, kann getrost als geniale Strategie im Sinne Walter Lippmanns, aber auch dämonischer Volksverführer vom Schlage eines Joseph Goebbels bezeichnet werden.

Die Wahrnehmung der Wirklichkeit als Grundlage der Meinungsbildung

Zu den ältesten Erkenntnissen über die Möglichkeiten der Manipulation des Menschen gehört sicher das berühmte Höhlengleichnis des griechischen Philosophen Platon. Seine bildhafte Darstellung der gefesselten Menschen in der Höhle, die ausschließlich eine Scheinwirklichkeit wahrnehmen können, die durch Schattenbilder an der Wand hergestellt wird, gehört zur humanistischen Schulbildung wie das mühselige Pauken der altgriechischen und lateinischen Vokabeln, ist aber „dank“ des Zurückdrängens der klassischen Bildung inzwischen zu einer Art Geheimwissen geworden. Darauf aufbauend haben – nicht von ungefähr in den USA – Soziologen wie Edward Bernays, Arthur W. Page, Harold Lasswell, John W. Hill, Don Knowlton, Ivy Lee und vor allem Walter Lippmann die Lehre von der öffentlichen Meinung und ihrer Beeinflussbarkeit entwickelt. Sie ist von Politikern und Wirtschaftsmagnaten geradezu begierig aufgegriffen worden, denn sie ist in der Tat das perfekte Instrument zur Entmündigung der Bürger, sowohl als Wähler wie auch als Verbraucher. Einer der Kernsätze Walter Lippmanns lautet:

Nur die politische Elite ist in der Lage, die Komplexität der Wirklichkeit in höherem und angemessenem Maße zu verstehen. Man schlägt daher vor, daß „eine spezialisierte Gruppe von Menschen“ ihre Erkenntnisse den Entscheidungsträgern unterbreitet. Diese wiederum beherrschen „die Kunst der Überzeugung“, um der Öffentlichkeit die Entscheidungen zu vermitteln und akzeptabel erscheinen zu lassen, die sie betreffen.

Die theoretischen Erkenntnisse Lippmanns haben John W. Hill und Don Knowlton in die Praxis umgesetzt und das bis heute erfolgreichste PR-Unternehmen der Welt im Jahre 1927 gegründet. Hill + Knowlton wird von den Mächtigen dieser Welt beauftragt, wenn es gilt, aus schwarz weiß zu machen um der Bevölkerung zu suggerieren, die von den Auftraggebern der Agentur gewünschte politische Entscheidung oder Marktentwicklung sei das Ergebnis der freien Entscheidung der Bürger und Konsumenten.

Einige Beispiele:

Schon in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts lag es bereits auf der Hand, daß Rauchen in höchstem Maße gesundheitsgefährdend ist, insbesondere Kehlkopf- und Lungenkrebs hervorruft. Die Gewinnmargen der Tabakindustrie indessen waren so gewaltig, daß man diese sprudelnde Quelle nahezu mühelos erzielten Reichtums auf keinen Fall versiegen lassen wollte. Also ging man eben zu Hill + Knowlton. Die Agentur wusste natürlich Rat und startete eine Kampagne, die man durchaus als Grundmuster für alle späteren PR-Kampagnen sehen darf. Nichts ist überzeugender als wissenschaftliche Erkenntnisse. Also muß man wissenschaftliche Erkenntnisse produzieren, die das gewünschte Ergebnis tragen. In diesem Falle war also die an sich unbestreitbare Gefährlichkeit des Rauchens wissenschaftlich mindestens kleinzureden oder gar zu widerlegen. Dazu muß man eben Wissenschaftler einkaufen, die dann wissenschaftlich anmutende Studien verfassen und in Umlauf bringen, wonach das Rauchen nicht so gefährlich ist, wie allgemein behauptet wird. Zur Verstärkung dieses Effekts ist es zweckmäßig, Wissenschaftler irgendwie zu diskreditieren, die eben nicht in die gewünschte Richtung publizieren. Man sucht und findet vielleicht irgendwelche peinlichen Geschichten aus dem Privatleben der missliebigen Wissenschaftler und tritt sie öffentlich breit. In wohl eher ungewollter Ehrlichkeit nannte man das treffend „Science-Twisting“, gewissermaßen die verfeinerte Form der Wahrheitsverdrehung. Darüber hinaus muß man natürlich die gesellschaftliche Akzeptanz des Rauchens dadurch fördern, daß gesellschaftliche Vorbilder stets mit der Zigarette in der Hand abgebildet werden. Wer sich an Film und Fernsehen der fünfziger und sechziger Jahre erinnert, dem fällt doch auf, daß die Schauspieler stets mit qualmender Zigarette auftraten. Auch der vor Kraft und Vitalität nahezu berstende Actionheld war ohne qualmende Zigarette nicht vorstellbar. Natürlich rauchte auch James Bond. Rauchen gehörte zum guten Ton.

Die „ölige“ Wahrheit

Daß die Erdölindustrie im Umgang mit der Umwelt nicht gerade zimperlich ist, wissen wir alle. Daß aber auch hier die segensreiche Tätigkeit von Hill + Knowlton die schlimmsten Auswüchse verschleiert, wissen wir schon weniger. Deswegen ist kaum bekannt, was sich fast 30 Jahre lang im Amazonas-Urwald Ecuadors zugetragen hat. Der US-amerikanische Ölkonzern Chevron-Texaco förderte dort Erdöl mit Methoden, die zu einer unglaublichen und voraussichtlich Jahrhunderte anhaltenden Vergiftung weiter Landstriche geführt haben. Das führte natürlich auch zu Klagen Betroffener vor amerikanischen Gerichten. Das US-amerikanische Justizsystem ist jedoch gerade wegen seiner sehr demokratischen Struktur anfällig für politische Einflussnahme von außen. Also musste hier angesetzt werden. Es ist in solchen Fällen schon viel gewonnen, wenn die Dauer der Verfahren extrem verzögert wird. Wenn es dann noch gelingt, die Verfahren zuständigkeitshalber in eine Bananenrepublik mit korruptionsanfälliger Justiz zu verlagern, dann ist das Problem schon fast gelöst. Und genau das ist hier gelungen. Dazu hat es aber auch gehört, die Öffentlichkeit entsprechend zu beeinflussen. Denn gerade im Falle von Umweltschäden dieses Ausmaßes kann der Druck der öffentlichen Meinung auf die Gerichte in den USA zu horrenden Schadensersatzzahlungen führen. Das probate Mittel war dann wenig überraschend vor allem auch wiederum das „Science-Twisting“. Denn nichts ist überzeugender als das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung.

Pro und contra Kernkraft – ohne Manipulation geht nichts

Nur die wenigsten erinnern sich noch an die Havarie eines Reaktors im US-amerikanischen Atomkraftwerk „Three Mile Island“ bei Harrisburg/ Pennsylvania. Das war 1979, also 7 Jahre vor Tschernobyl. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist auch heute noch jedermann geläufig, Harrisburg hingegen offenbar völlig vergessen. Warum? Nun, auch hier wurden massive PR-Kampagnen gefahren. Auch hier war Hill + Knowlton federführend tätig. Auch hier kam das berüchtigte „Science-Twisting“ zum Einsatz. Die juristische Problematik wurde über Zahlungen an Kläger gelöst, die man durchaus auch als Schweigegelder einstufen kann. Das in den Medien vergleichsweise wenig behandelte Thema ist eben deswegen heute kaum jemanden noch in Erinnerung. Allerdings kann man gerade im Zusammenhang mit solchen Großkatastrophen auch sehen, wie politisch in die Gegenrichtung manipuliert werden kann. Der Fall Fukushima hat ja bekanntlich in Deutschland dazu geführt, daß die Politik unter der Führung der Bundeskanzlerin eine energiepolitische Wende um 180°, den sogenannten Atomausstieg sofort, eingeleitet hatte. In anderen Ländern war das nicht so, jedenfalls nicht so krass. Woran lag das? Nun, in Deutschland berichteten die Medien nahezu ausschließlich über die Auswirkungen des Tsunami auf das Kernkraftwerk in Fukushima. Über die rund 22.000 Toten, die der Tsunami direkt bewirkt hatte, hörte und las man kaum etwas, wohl aber über die wenigen Menschen, die durch die freigesetzte Strahlung erkrankten, wovon einer zu Tode kam, und noch mehr darüber, daß das Reaktorgelände und die Umgebung auf unabsehbare Zeit verstrahlt seien. Die Medien in Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern indessen legten den Schwerpunkt der Berichterstattung auf den Tsunami und seine direkten Folgen, ohne die Tatsache der teilweisen Zerstörung des Kernkraftwerks völlig außen vor zu lassen. Die Folgen sind bekannt. Die deutsche Kanzlerin zeigt sich als die gelehrigste Schülerin Greta Thunbergs, Deutschland bezieht nach der Abschaltung seiner Kernkraftwerke Atomstrom aus Frankreich und Tschechien und hat die höchsten Energiekosten weltweit. Die Deutschen sind jedoch überzeugt davon, daß ihre Kanzlerin sie vor den unausweichlichen Atomkatastrophen bewahrt hat, die der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke mit sich gebracht hätte.

Wer will schon Krieg?

Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung ist unverzichtbar, wenn es um die ganz großen Dinge geht. Und das größte aller Dinge ist doch die Frage von Krieg und Frieden. Seit die meisten Staaten dieser Erde nicht mehr autokratisch, sondern demokratisch regiert werden, kann eben nicht mehr die einsame Entscheidung eines Herrschers über die Frage von Krieg und Frieden befinden. Vielmehr muß man, wie der moderne Politsprech das ausdrückt, „die Menschen mitnehmen“. Wir sollten uns einmal an die unsägliche Kriegspropaganda vor und während des Ersten Weltkrieges erinnern. Hier taten sich insbesondere die Briten hervor. Ihre Kampagne gegen Deutschland, vor allem zu Beginn des Weltkrieges, sollte in Erinnerung gerufen werden. Der fraglos völkerrechtswidrige Einfall Deutschlands in Belgien wurde von der britischen Regierung zum Anlaß genommen, bei der eigenen Bevölkerung die Bereitschaft zu wecken, ihre Söhne in den Krieg gegen die „Hunnen“ zu schicken. Dazu mussten natürlich aus den Deutschen die blutrünstigen „Hunnen“ gemacht werden. Geschichten über Greueltaten der deutschen Soldaten gegen die belgische Zivilbevölkerung wurden erfunden, propagiert und, weil gar nicht nachprüfbar, von der eigenen Bevölkerung auch geglaubt. So war es dann nicht nur patriotische, sondern sogar humanitäre Pflicht, gegen die Bestien in den Krieg zu ziehen, die nicht davor zurückschreckten, kleinen Kindern Hände und Füße abzuhacken. Hill + Knowlton war noch nicht gegründet, und Walter Lippmann hatte sein grundlegendes Werk noch nicht geschrieben. Die erfolgreiche Kriegspropaganda unter der Ägide des britischen Lords Beaverbrook dürfte aber ihre anregende Wirkung auf diese Virtuosen der Meinungsmanipulation nicht verfehlt haben.

Ihr Meisterstück haben sie dann auch auf dem Gebiet der Kriegspropaganda abgeliefert. Die meisten von uns werden sich noch daran erinnern. Vor Beginn des ersten Golfkrieges machten Schreckensmeldungen die Runde, wonach der Irak nicht nur das kleine Kuwait überfallen habe, sondern die irakischen Soldaten sich unglaublicher Kriegsgreuel schuldig gemacht hätten. Sie seien zum Beispiel in Krankenhäuser eingedrungen und hätten die Frühgeburten aus den Brutkästen gerissen, um sie unter ihren Stiefeln auf dem Fußboden zu zertreten. Die Geschichte wurde über die Fernsehkanäle der Welt den entsetzten Bürgern frei Haus geliefert, die ob der tränenreich vorgetragenen Lügengeschichte einer angeblichen kuwaitischen Krankenschwester dann selbst in Tränen ausbrachen. Da blieb doch nichts anderes übrig, als diese Unmenschen unter Einsatz der ganzen militärischen Gewalt der USA und ihrer Verbündeten zu unterwerfen wie einst die Nazis und ihr Regime mit Stumpf und Stiel auszurotten, um sodann diesem Volk die Segnungen der Demokratie amerikanischen Musters zu bringen. Was daraus geworden ist, wissen wir, leider wissen wir aber auch, daß wir damals einer skrupellosen PR-Kampagne aufgesessen sind. Ob man übrigens beim zweiten Golfkrieg die Dienste von Hill + Knowlton auch benötigt hat, oder ob das Donald Rumsfeld alleine geschafft hat, kann offen bleiben.

Weitere Beispiele der erfolgreichen Tätigkeit dieser Agentur ließen sich beliebig viele aufzählen. Zu ihren Auftraggebern zählen schließlich so seriöse Institutionen wie das Internationale Olympische Komitee, Saudi-Arabien, aber auch kleinere afrikanische Diktaturen. Daß allerdings dem Vernehmen nach die WHO Hill + Knowlton mit der strategischen Kommunikation der Corona-Pandemie beauftragt haben soll, sollte nachdenklich machen.

Die Arroganz der Herrschenden braucht die Trägheit der Beherrschten

Die aufgezählten Beispiele erfolgreich betriebener PR mögen besonders krasse Fälle sein. Indessen ist das Grundmuster das, was eigentlich beunruhigen sollte. Natürlich benötigt jeder Mensch Erkenntnisse und Wissen, um rationale Entscheidungen treffen zu können. Diese Erkenntnisse und dieses Wissen kann er sich in aller Regel nicht erarbeiten, ohne auf die Ergebnisse von wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen zurückgreifen zu können. Und man benötigt einfach ein objektives Wissen über das, was auf dieser Erde so alles vorgeht. Also benötigt man ein gewisses Grundvertrauen in die Arbeit von Journalisten. Spätestens seit dem Fall Relotius ist dieses Grundvertrauen jedenfalls in Deutschland stark erschüttert. Gerade der Umgang der deutschen Politik, aber auch der deutschen sogenannten Qualitätsmedien mit der Corona-Krise zeigt jedoch, daß der Wunsch der Mächtigen, das Denken der Bürger zu manipulieren, offenbar übermächtig ist. Man meint, das Denken der Menschen mit einer Angststrategie in die gewünschte Richtung lenken zu müssen. Man traut den Bürgern seines Landes offenbar nicht zu, selbst denken zu können, und selbst zu den richtigen Ergebnissen zu gelangen. Da ist man doch seit der Zeit des Absolutismus nicht weitergekommen. Es bleibt vielmehr bei der Erkenntnis des seinerzeitigen preußischen Innenministers Gustav von Rochow:  „Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen“.

Wie aus der Welt gefallen mutet dagegen die Maxime seines Zeitgenossen Immanuel Kant an: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Mir scheint, nicht der große preußische Philosoph, sondern der völlig in Vergessenheit geratene preußische Innenminister hat das Denken der Menschen unserer Tage nachhaltig und erfolgreich beeinflusst. Vielleicht liegt das daran, daß es so anstrengend ist, selbst zu denken und sich um die Ermittlung der Wahrheit zu bemühen. Das wussten schon die Mächtigen im alten Rom. Deswegen stellten sie ihr Volk mit Brot und Spielen ruhig. Wem seine leiblichen Bedürfnisse und die Wünsche seines Gemüts erfüllt werden, der stellt keine weiteren Fragen. Frau Merkel und ihre Entourage können beruhigt sein.






Das Gedenken an das Undenkbare

Die Geschichte ohne Hitler

Am 27. Januar gedenkt nicht nur Deutschland, sondern die Welt des Menschheitsverbrechens, dessen Bezeichnung als Holocaust, sinngemäß übersetzt ganz und gar verbrannt, seine Ungeheuerlichkeit, aber auch gleichzeitig das Fehlschlagen der Absichten seiner Initiatoren benennt, denn ganz und gar wurde das Volk, das man doch von der Erde tilgen wollte, eben nicht vernichtet. Wir werden zu diesem Anlaß die üblichen Reden hören und die Leitartikel in den Zeitungen lesen, die von der einzigartigen Schuld des „Tätervolks“ künden. Wir werden natürlich auch, wenn auch in abnehmender Zahl, Verharmlosungen oder gar das Kleinreden des Geschehenen zur Kenntnis nehmen müssen. Das alles droht zur ermüdenden Routine zu werden. Mir scheint, daß man das Gedenken neu denken muß.

Man stelle sich einen Augenblick vor, Hitler wäre seinerzeit beim Marsch auf die Feldherrnhalle ebenso unter den Kugeln der bayerischen Polizei gefallen, wie eine Reihe seiner Anhänger. Die NSDAP hätte wohl bald aufgehört zu existieren, denn diese Partei war in extremer Weise auf die Person ihres Anführers zugeschnitten. Ohne ihn hätte sie auf keinen Fall eine maßgebliche Rolle in der deutschen Politik spielen können, von einer Regierungsübernahme, auch nur der Beteiligung daran ganz zu schweigen. Mithin wäre es auch nicht zur Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der Juden in Deutschland und Europa gekommen. Denn auch der in Teilen der Bevölkerung unseres Landes damals virulente Antisemitismus hatte nicht entfernt das Potenzial zu dem, was Hitler dann tatsächlich ins Werk gesetzt hat.

Literatur statt Wirklichkeit

Hätte ein Schriftsteller sich derartiges ausgedacht und niedergeschrieben, dann hätten die Leser dies wohl ähnlich eingeordnet wie auch Orwells 1984 und ähnliche Dystopien. Literaturwissenschaftler hätten sich Gedanken über die Abgründe der menschlichen Seele und die Verfügbarkeit der Massen gemacht, auch Parallelen zu blutrünstigen Ereignissen wie den französischen  und russischen Revolutionen gezogen. Als Beschreibung einer real zu erwartenden Zukunft hätte man das ob seiner Monströsität wohl kaum aufgefasst. Die Vorstellung, daß einem ganzen Volk gewissermaßen eine genetische Mutation zugeschrieben wird, die jeden Angehörigen dieses Volkes zu einem gefährlichen Schädling macht, den man deswegen vernichten muß, weil man sonst selbst sein Opfer würde, eine solche Vorstellung ist in der Tat derartig abstrus und monströs, daß man sie allenfalls in der überbordenden Fantasie eines Schriftstellers verortet, im realen Leben jedoch nicht für möglich hält. Und dennoch hat uns die Geschichte eines Schlechteren belehrt.

Das „Denkmal der Schande“

Wenden wir uns nun der Gedenkkultur, aber auch Unkultur in unserem Lande zu. Dazu gehören auch Gedanken über das Holocaustdenkmal in Berlin wie auch die Diskussionen darüber. Fangen wir mit letzteren an. Björn Höcke hat es ein Denkmal der Schande genannt. Dies wohl eher abwertend in dem Sinne, daß nur wir Deutschen ein solches Denkmal errichtet haben. Klarstellend hat er nachgeschoben, es erinnere an die Schande, die der Holocaust für Deutschland nun einmal ist. Andere verweisen eben darauf, daß die Erinnerung an eben diese Schande wach gehalten werden muß.

Das Denkmal der Tauer

Das greift alles zu kurz. Der Mord hat einen Täter, und er hat ein Opfer. Das Ruchlose der Tat ist untrennbar verbunden mit dem Leid des Opfers und seiner Angehörigen. Übertragen auf den Holocaust heißt das, daß nicht nur die Verdammung der Täter Bestandteil der Erinnerung an den Holocaust sein darf, sondern daß ebenso die Trauer um die Opfer im Bewußtsein bleiben muß.

Beginnen wir mit der Trauer. Denn das kommt jedenfalls in Deutschland im Zusammenhang mit Gedenktagen wie diesem zu kurz. In Deutschland ist man sehr auf die Verurteilung der Täter und leider auch auf eine kollektive Schuldzuschreibung fixiert, eine Schuldzuschreibung zu Lasten einer ganzen Generation. Das Gerede vom Tätervolk insinuiert ja, daß die Deutschen jener unseligen Jahre nicht nur zu einem erheblichen Anteil an diesen Untaten schuldhaft beteiligt gewesen seien, sondern sich auch in der Form schuldig gemacht hätten, daß sie nicht den Aufstand gewagt und das Grauen beendet haben. Wer so redet, verkennt das Wesen von Diktaturen wie in Russland seit 1917 und in Deutschland seit 1933. Damit wollen wir es an dieser Stelle bewenden lassen, denn dies ist ein eigenes Thema und seine auch nur kursorische Behandlung würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen.

Wenn einem selbst das zustößt…

Es ist nicht allein die schiere Zahl der Opfer jenes Staatsverbrechens. Es ist vor allem die Ideologie zu betrachten, die ein solch monströses Verbrechen möglich machen konnte. Die Vorstellung, ein Mensch sei kraft seiner Geburt, nicht etwa wegen seiner persönlichen Eigenschaften, seiner Religion oder seiner politischen Überzeugung, sondern nur weil er eben von diesen und keinen anderen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern abstammt, nicht nur minderwertig, sondern eine Gefahr für die Allgemeinheit („die Juden sind unser Unglück“), diese Vorstellung allein ist schon schlicht unmenschlich. Man stelle sich einmal vor, selbst zu denen zu gehören, denen andere Menschen diese unabänderliche Eigenschaft zuschreiben. Man sei eben unabänderlich schlecht, gewissermaßen ein Coronavirus auf zwei Beinen. Man gehöre deswegen eigentlich nicht zu diesem Volk, man habe da nichts zu suchen, mehr noch, am besten sei es, man existiere erst gar nicht. Und das vielleicht noch vor dem Hintergrund, daß man sich selbst durchaus als guter deutscher Patriot fühlt, wie so viele deutsche Juden in den zwanziger und dreißiger Jahren, auch mit Blick auf die eigenen Leistungen als Soldat im Ersten Weltkrieg. Man hält dem Pöbel von der SA sein Eisernes Kreuz entgegen und muß sich anhören: „Juda verrecke!“ Man muß sich als Arzt anhören, man sei einfach unwürdig, „Arier“ zu behandeln. Man muß sich als angesehener Rechtsanwalt darauf verweisen lassen, künftig nur noch als „Judenkonsulent“ sein Brot verdienen zu dürfen. Schon das allein sprengt doch das Vorstellungsvermögen des normal denkenden Menschen. Und dann wird das alles bis zur unvorstellbaren Konsequenz des Völkermordes umgesetzt.

Es war ein Verbrechen an unserem Volk, denn die Opfer gehörten zu ihm wie die Täter

Die Menschen, denen solches widerfahren ist, verdienen ein ehrendes Gedenken. Das unterstreicht, daß nicht einmal dieses unvorstellbare Verbrechen ihnen ihre Menschenwürde nehmen konnte. Wir geben ihnen daher ihre Menschenwürde nicht zurück, wenn wir ihrer gedenken, nein, sie bleiben für uns schlicht und einfach Menschen wie alle anderen auch, Menschen allerdings, die Opfer eines Menschheitsverbrechens geworden sind. Wir denken nicht zuletzt daran, daß dies ja, soweit sie nicht Polen oder Franzosen oder Niederländer waren, Deutsche waren. Sie waren Nachbarn, Kollegen, Freunde. Sie waren je nach persönlicher Begabung, glänzende Wissenschaftler, begnadete Künstler, erfolgreiche Unternehmer und Selbständige, aber auch einfache Leute, Handwerker und Angestellte, kurzum eben unsere Leute. So sahen sie sich selbst, und so sahen sie ihre Nachbarn. Es sind ja nicht etwa Fremde entrechtet und ermordet worden. Es sind Bürger unseres Landes so behandelt worden. Auch das macht die Gedanken daran schwer, nimmt aber nichts vom Abscheu vor der Tat auch zu Lasten Angehöriger anderer Nationen.

Über die Täter muß kein Wort mehr verloren werden

Über die Täter, also jene politischen Schwerstverbrecher, die nicht nur diese unglaubliche Tat zu verantworten haben, sondern auch diejenigen, in deren Namen sie zu sprechen und zu herrschen vorgaben, in schlimmster Weise unterjocht haben, über sie ist schon so viel geschrieben worden, daß wir an dieser Stelle dazu nichts weiter sagen müssen, als daß sie Schande über unser Land gebracht haben.

Schande und was sie bedeutet

Ja das alles hat Schande über uns gebracht, und somit ist auch der Schande zu gedenken. Welche Schande das war, das haben kurz nach dem Kriege die Richter formuliert, die über Verbrechen der Nationalsozialisten zu urteilen hatten. Ich zitiere aus dem Urteil eines Landgerichts, das über die Anführer der Pogrome vom 9. November 1938 zu richten hatte.: „Die Schändung, die die Täter ihren unglücklichen Opfern zudachten, hat sich auf sie selbst und, was schlimmer ist, auf das ganze deutsche Volk zurück gewandt. Daran kann bei der strafrechtlichen Würdigung so wenig vorbeigegangen werden, wie an der unheilvollen geschichtlichen Bedeutung dieser Taten, die ein Markstein waren auf dem Wege in Rechtlosigkeit, Gewalt, Greuel und Untergang.“ Und in einem anderen Falle bescheinigte der Richter einen solchen Angeklagten: „Er hat tätigen Anteil an der Schändung des deutschen Namens in der Welt.“ Die Geschichte beläßt alle Ereignisse an ihrem Ort und in ihrer Zeit. Auch die Schande dieser Taten bleibt an den Tätern haften und verunstaltet nicht das Antlitz ihrer Opfer aus dem eigenen Volk, noch weniger das ihrer Nachkommen. Aber damit alleine ist es nicht getan, man muß, wie ausgeführt, auch um die Ermordeten trauern. Und man muß sich dessen bewußt sein, daß offenbar die menschliche Natur auch Abgründe hat, in die man nur mit Schaudern blicken kann.

Das Datum 27. Januar ist nicht gut gewählt

Man hat den Gedenktag auf das Datum gelegt, das die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee markiert. Das ist nicht unbedingt das Datum, das dieses Verbrechen symbolisiert. Man hätte eher das Datum der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 nehmen sollen. Denn an diesem Tag wurde die sogenannte Endlösung der Judenfrage, also die Ingangsetzung des Holocaust, beschlossen. Man hätte auch die Verkündung der sogenannten Nürnberger Gesetze am 15. September 1935 als Datum eines Gedenktages festschreiben können. Denn damit begann förmlich die Entrechtung der Juden in Deutschland. Daten wie diese zwingen zur Auseinandersetzung mit der unmenschlichen Ideologie, die solches ermöglicht hat.

Ein würdigeres Denkmal wäre besser gewesen

Man hat in Berlin nach langen Diskussionen ein Denkmal errichtet, das zu Recht umstritten ist. Nicht die Tatsache, daß man ein Denkmal errichtet hat, nicht der Ort, nämlich die Hauptstadt unseres Landes, in der damals die Täter herrschten, sondern die konkrete Ausgestaltung wirft Fragen auf. Der künstlerische Gedanke, die Monströsität der Tat optisch auch quantitativ zu erfassen, mag ja legitim sein. Doch zeigt der tatsächliche Umgang mit dem Denkmal, daß es seine Aufgabe, ein Ort des Gedenkens und der Trauer zu sein, verfehlt. Herumliegende Bierflaschen und Cola-Dosen künden von einem ganz anderen Umgang des Publikums mit dem Denkmal, als sich Künstler und Auftraggeber erwartet haben. Ich halte es auch für unmöglich, der Monströsität des Verbrechens dadurch entsprechen zu wollen, daß man ein überdimensioniertes Areal, angefüllt mit Betonblöcken, mitten in die belebte Innenstadt von Berlin setzt, umbraust vom Straßenverkehr und vorgeführt als touristische Sehenswürdigkeit.

Einen Begriff davon, wie man der namenlosen Trauer um die zahllosen Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft einen Ort geben kann, gibt uns die ebenso ergreifend schlichte wie ausdrucksstarke Plastik von Käthe Kollwitz in der Neuen Wache zu Berlin. Der Ort eines Waldes oder eines Parks, in dem der Betrachter vor einem schlichten Denkmal seinen Gedanken hingegeben verweilt, erscheint mir angemessener als ein touristisches Highlight mitten in einer Großstadt, wo sich eben das ehrende und stille Gedenken nur sehr schwer gegen die Umgebungseindrücke durchzusetzen vermag. Doch es ist nun so, wie es ist. Wir müssen eben Gedenktage und Denkmäler hinnehmen, wie sie uns einfachen Bürgern von der Politik gegeben werden. Es liegt an uns selbst, wie wir mit der Geschichte umgehen. Betreuungsangebote aus Politik und Medien benötigen wir nicht. Wir bedienen uns lieber unseres eigenen Verstandes, wie uns das wirklich kluge Leute vom Schlage eines Horaz oder Kant geraten haben.